Nerds retten die Welt (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32147-0 (ISBN)
Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 27 Theaterstücke, 15 Bücher und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg ist Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, den Nestroy-Preis, den Schweizer Buchpreis, den Grand Prix Literatur, den Bertolt-Brecht-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen zuletzt die Romane »GRM/Brainfuck« (2019) und »RCE« (2022) sowie der Gesprächsband »Nerds retten die Welt« (2020).
Sibylle Berg lebt in Zürich. Ihr Werk umfasst 27 Theaterstücke, 15 Bücher und wurde in 34 Sprachen übersetzt. Berg ist Herausgeberin von drei Büchern und verfasst Hörspiele und Essays. Sie erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, den Nestroy-Preis, den Schweizer Buchpreis, den Grand Prix Literatur, den Bertold-Brecht-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen zuletzt der Roman »GRM/Brainfuck« (2019) und der Gesprächsband »Nerds retten die Welt« (2020).
»Es gibt keine ›alternativlose Politik‹, wie uns jahrelang in Deutschland eingehämmert worden ist. Deshalb ist auch der Kampf nicht aussichtslos, und sei es nur, um Schlimmeres zu verhindern.«
Gespräch mit
Wilhelm Heitmeyer
Soziologe und Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (als Direktor: 1996 bis 2013). Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher – zuletzt: »Autoritäre Versuchungen« (2018)
Guten Morgen, Herr Heitmeyer, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?
Den tatsächlichen Zustand der Welt kann man eigentlich gar nicht kennen, sondern bekanntlich nur das, was man »geliefert« bekommt – und was man wahrnehmen kann und will. Und selbst diese kleinen Ausschnitte müssen in Wut versetzen angesichts der strukturellen Gewalt, wie es Johan Galtung ausgedrückt hat. Es sind dann nicht nur die Gewaltakteure, die es bekanntlich zuhauf gibt, sondern auch die gezielt geschaffenen Strukturen, die aus sich selbst heraus die Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens tagtäglich zertrümmern. Und dies sind nicht nur die materiellen Bedingungen, sondern auch immer mehr die kulturellen und informationellen Strukturen, die potenziell die Gewalt in sich tragen.
Nun wäre es anmaßend, mich als Gewissen der Welt aufzuspielen, über alles zu fluchen, was gerade passiert. Auch deshalb, weil ich das meiste, was an Scheußlichkeiten passiert, ja gar nicht begreife und nicht im Entferntesten kenne. Selbst bei meinen intensivsten Informationsanstrengungen, die ich jeden Tag unternehme.
Die innere Feinabstimmung zwischen der Notwendigkeit, informiert zu sein, um in der Zeit verankert zu bleiben, und der absoluten Überforderung ist heikel.
Man muss vorsichtig sein. Es gibt die präventive Wirkung des Nichtwissens, damit man nicht handlungsunfähig wird. Lähmung ist ja ein Element des Geschäftsmodells, um nicht tätig werden zu können.
Sie begannen in den 1980er-Jahren mit Ihren Forschungen zu gewaltbereitem Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie prägten den Begriff »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« und entwickelten die Theorie sozialer Desintegration, um Gewalt zu erklären. Erinnern Sie sich an die Auslöser für Ihre Forschungen?
Einen Auslöser wie etwa einen Schalter, durch den plötzlich etwas angeknipst wird, gab es nicht. Es waren Alltagsbeobachtungen bei Jugendlichen mit ihrer Sprache und den dahintersteckenden Einstellungen – ohne dass sie rechtsextremen Gruppen angehörten.
Die erste empirische Untersuchung zu rechtsextremistischen Orientierungen von 1987 hat dann für viel öffentliche Aufmerksamkeit und Widerstand gesorgt. »Das ist alles Unsinn. Unsere Jugend hat ihre historische Lektion gelernt«, hieß es etwa. Für einen damals relativ jungen Wissenschaftler war das keine angenehme Situation. Ich war offensichtlich zu früh mit solchen Ergebnissen.
Oder die Institutionen waren noch mit zu vielen Mitarbeitern besetzt, die in Hitlers Regime auch Gutes gesehen hatten?
In der Nachkriegszeit gab es in zahlreichen Institutionen der neuen Bundesrepublik bekanntermaßen alte Nazis, die aus heutiger Sicht geradezu unvorstellbare Karrieren gemacht haben, etwa als Juristen in den Verwaltungen und auch in den Geheimdiensten.
Nun ist diese Generation längst außer Dienst beziehungsweise verstorben. Auf diese Weise hat das natürlich kein politisches Ende genommen, denn das kam ja für die Personen biologisch zu einem Ende.
Heute ist wieder sehr genau zu beobachten, was sich in den mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Institutionen wie Polizei und Bundeswehr vollzieht. Die aufgedeckten Fälle werden immer wieder als Einzelfälle deklariert – wie eh und je –, obwohl wir es nicht wissen und doch mit guten Gründen bezweifeln können. Unabhängige Untersuchungen dazu gibt es nicht und würden wahrscheinlich auch nicht zugelassen. Und der deutsche Inlandsgeheimdienst, die Verfassungsschutzämter der Länder und des Bundes haben gerade auch im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds, des NSU, ja absolut versagt. Bis heute werden zum Teil die Akten nicht öffentlich, mit denen man die Rolle der verschiedenen staatlichen Akteure aufklären könnte.
Gab es noch mehr Ablehnung außer der behördlich-institutionellen?
Ja, zum Beispiel bei den frühen Forschungen zu den Verbindungen von Rechtsextremismus und Hooligans in den Fußballstadien. Auch da war der öffentliche Widerstand, vor allem von den gewinnmaximierenden Profivereinen, immens: »Der will uns unsere Fans diffamieren.«
Und schließlich löste die erste – sehr frühe – empirische Untersuchung in Deutschland zu islamistischen Einstellungen bei türkischstämmigen muslimischen Jugendlichen, die ich 1997 veröffentlicht habe, das Härteste an Angriffen und Diffamierungen aus, was ich bisher erlebt habe. »Das ist ein Kulturrassist« war noch die gnädigste Charakterisierung.
Kurz gesagt war die möglichst frühzeitige, sensible Wahrnehmung von aufkommenden Problemen der Hintergrund dieser Arbeit. Aber: Wer zu früh bestimmte Probleme aufwirft, der muss mit Abstrafungen rechnen durch Medien, Wissenschaftler und auch die Politik.
An einem typischen Tag wird man beispielsweise mit diesen Nachrichten konfrontiert: Alabama verabschiedet ein Gesetz gegen Abtreibung. Egal, ob es sich um eine Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder einem Inzest handelt, egal, ob das Ungeborene schwere Missbildungen aufweist. Weiter lese ich, dass Schweizer Krankenkassen diverse Krebstherapien sowie die Rehabilitation nach Schlaganfällen und Infarkten nicht mehr ohne Weiteres bezahlen. Wie kann ich verhindern, mich angesichts dieser Fülle von Schwachsinn zum hassenden Menschen zu entwickeln?
Es fällt schwer, das zu verhindern. Aber es ist gerade aus der Perspektive der Akteure kein Schwachsinn, sondern reines Machtkalkül, mit Gewalt angefüllt. Ihr erstes Beispiel ist religiös aufgeladen, das zweite Beispiel die kapitalistische Gewaltdemonstration gegenüber Leiden. Der Weg in den eigenen Hass ist dann nicht weit.
Aber es ist Vorsicht geboten, weil man sich damit selbst verletzt und sich gemeinmacht mit jenen Akteuren, die solche Gesetze durchsetzen oder solche Kalkulationen anstellen. Um sich dem nicht auszuliefern, muss man sich meines Erachtens auf die Reichweiten des eigenen Tuns besinnen. Also auf seinen Alltag, und dort massiv die Stimme erheben, damit man morgens noch in den Spiegel sehen kann – ohne zu erschrecken. Es kostet viel Kraft, im Verwandtenkreis, im Freundeskreis, im Sportverein, in der Kirchgemeinde die Stimme zu erheben – und ohnehin, wenn man Zugang zu Medien hat. Gerade im nahen Umfeld kostet das enorm viel Energie und ist mit hohen sozialen Kostenrisiken verbunden. Übrigens viel höhere als bei großen Demonstrationen – die zweifellos notwendig sind, um die Grundnormen der Gesellschaft immer wieder öffentlich zu befestigen –, denn dort ist man »unter sich« mit wohligem Gefühl, während man bei Interventionen im sozialen Nahraum immer Gefahr läuft, allein dazustehen, und viel verlieren kann. Dazu muss man schon hart trainieren.
Apropos hart bleiben: Haben Ihre vor dreißig Jahren begonnenen Studien zu irgendeiner Reaktion der Regierung geführt?
In der Regel kann ich sagen, dass die Reichweite von Wissenschaft doch sehr gering ist. Das gilt vor allem für missliebige Themen, die zeigen, was schiefläuft. Das liegt zum größten Teil daran, dass alles, was eine Regierung tut, als Erfolg dargestellt werden muss. Da waren meine Forschungen, insbesondere bei konservativen Parteien, immer störend. Also am besten: ignorieren, zurückweisen und diffamieren. Damit haben wir reichliche Erfahrungen gemacht.
Die Wissenschaftsfeindlichkeit ist keine Erfindung der neuen Rechten.
Nun, Wissenschaft, zumal Sozialwissenschaft, hat immer »kurze Arme«, weil sie keinen finanziellen Mehrwert in unserer kapitalistischen Gesellschaft verspricht. Sie ist störend. Ja, sie muss störend sein, man muss Sand ins Getriebe werfen. Und man muss insistieren. Immer wieder, trotz aller Frustrationen. Ich kann nicht verhehlen, dass es auch zermürbend sein kann, dass die inzwischen jahrzehntelangen, empirisch belegten Warnungen vor den politischen Entwicklungen nach rechts in ihren unterschiedlichen brutalen Formen bis hinein in die vornehme »rohe Bürgerlichkeit« immer wieder aggressiv als »Nestbeschmutzung« der deutschen Gesellschaft zurückgewiesen werden.
Entwicklungen verlaufen oft wellenförmig, vorwärts, rückwärts. Aber am Ende hat sich doch viel zum Besseren verändert auf der Welt.
Ja. Sie erwähnten den Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Damit ist gemeint, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten zum Ziel von Abwertung, Diskriminierung und auch Gewalt werden. Es ist ein Konzept, das über Rassismus hinausreicht, also auch Obdachlose, Schwule und Lesben, Muslime, Juden, Behinderte, Flüchtlinge etc. umfasst.
Dazu habe ich mit einer...
Erscheint lt. Verlag | 5.3.2020 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Digitalisierung • Experten Expertinnen • Fragen Sie Frau Sibylle • grm • Interviews • Kapitalismus-Kritik • Klimawandel • Künstliche Intelligenz • Politik • Wissenschaftler Wissenschaftlerinnen |
ISBN-10 | 3-462-32147-1 / 3462321471 |
ISBN-13 | 978-3-462-32147-0 / 9783462321470 |
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