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Unsere Körper sind euer Schlachtfeld (eBook)

Frauen, Krieg und Gewalt

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
Penguin Verlag
978-3-641-23540-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unsere Körper sind euer Schlachtfeld - Christina Lamb
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»Ein Weckruf ... Die Geschichten dieser Frauen werden Sie zum Weinen bringen und dann wütend machen auf die Gleichgültigkeit der Welt.« Amal Clooney

Das erschütternde Schicksal von Frauen in Kriegsgebieten wird gern übersehen, die Aufmerksamkeit gilt meist den Kämpfern an der Front. Dabei wird immer häufiger sexuelle Gewalt gegen Frauen systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Christina Lamb von der »Sunday Times« ist eine von ganz wenigen Kriegskorrespondentinnen. Seit Jahren bereist sie Krisengebiete wie Irak, Syrien, Nigeria und Myanmar und spricht mit den Frauen, Überlebenden, Geflüchteten über ihre Erfahrungen in Kriegszeiten: von Jesidinnen, die von IS-Kämpfern versklavt wurden, bis zur Ärztin im Kongo, die täglich Vergewaltigungsopfer versorgt. Ihnen will sie endlich eine Stimme geben und damit zugleich auf einen Missstand aufmerksam machen: Vergewaltigungen, die zur Massenvernichtungswaffe geworden sind, gehören endlich international geahndet!

Christina Lamb, geboren 1965, britische Journalistin und Autorin, ist als Auslandskorrespondentin seit vielen Jahren in der Kriegsberichterstattung tätig. Lamb gewann viermal den Titel „Foreign Correspondent of the Year“. Sie ist die Co-Autorin von „Ich bin Malala“.

1

AUF MUSSOLINIS INSEL

Leros, August 2016

Wenn ich zurückdenke an jenen Sommer auf der winzigen griechischen Insel Leros, an die verfallene Irrenanstalt voller Taubendreck und verrosteter Bettgestelle, wo ich das erste Mal Jesiden begegnete, sehe ich immer noch die Augen des Mädchens vor mir, so tief, so aufgewühlt und flehentlich.

Sie schiebt mir ihr Handy entgegen, um mir ein Video zu zeigen. Ich sehe einen Eisenkäfig mit vielleicht einem Dutzend junger Frauen darin. Arabische Männer mit Kalaschnikows über der Schulter drängen sich johlend um ihn herum. Zuerst begreife ich nicht. Die Frauen sehen aus wie in Panik. Da treten die Männer zurück, Flammen verschlingen den Käfig, man hört Schreie, und dann ist das Video zu Ende.

»Das ist meine Schwester«, erklärt das Mädchen. »Sie verbrennen Jungfrauen bei lebendigem Leib.«

Alles scheint plötzlich stillzustehen und sich zu drehen. Es ist eine Höllenvision. Ich weiß nicht, ob der Ton in meinem Kopf das Meer da draußen ist oder Blut, das mir in den Ohren pocht. Sonnenlicht strömt durch ein Loch im Dach, und Schweiß läuft uns das Gesicht hinunter. Ein kleines jesidisches Kind kriecht durch den Schutt, die Glasscherben und die herabgefallenen Dachsparren. Es singt vor sich hin, ein verwahrlostes kleines Ding, dem die Haarsträhnen wie Farnwedel an der Wange kleben. Es gerät immer näher an einen großen Trichter im Fußboden, bis ich es in Panik wegreiße. Die Mutter lehnt neben dem Mädchen, dessen Schwester lebendig verbrannt wurde, an einer Steinwand und starrt ausdruckslos vor sich hin. Was ist mit diesen Menschen geschehen?

Ich will raus aus dieser Anstalt mit ihren vergitterten Fenstern und fleckigen Wänden. Bevor ich hergekommen bin, habe ich mir einen alten Dokumentarfilm mit dem Titel »Insel der Ausgestoßenen« angesehen. Mir schießen Bilder aus diesem Film durch den Kopf von kahlgeschorenen Männern und Frauen, manche von ihnen nackt an ihre Betten gekettet, mit Gliedmaßen, die in eigenartigen Winkeln zucken; andere in unförmigen Kutten zusammengepfercht auf dem Boden eines Zimmers, von wo aus sie in die Kamera starren.

Durch die Gitter des Fensters kann ich nach unten sehen auf Reihen von weißen Fertigcontainern, umgeben von Stacheldrahtzaun, und dahinter die Ägäis mit ihrer verstörenden tiefblauen Vollkommenheit.

Das Lager, in dem die Jesiden leben, ist über 1000 Kilometer von ihrer Heimat unter dem hohen heiligen Berg zwischen Irak und Syrien entfernt, auf dem nach ihrem Glauben Noahs Arche gestrandet ist.

Leben in Containern im Schatten der verfallenen Anstalt

Ich war noch nie zuvor Jesiden begegnet. Ihre Religion ist eine der ältesten der Welt, aber wie die meisten Leute hörte ich das erste Mal von ihnen am Ende des Sommers 2014, als ich die Bilder von Tausenden Jesiden sah, gefangen auf jenem Berg, auf den sie vor den Konvois mit schwarzgekleideten IS-Kämpfern geflohen waren, die entschlossen waren, sie zu vernichten.

In den Ruinen der Anstalt an jenem drückend heißen Augusttag 2016 traten sie, einer nach dem anderen, aus dem Schatten, um mir ihre Geschichten zu erzählen; Geschichten, die mich bis ins Mark erschütterten, die schlimmer waren als alles, was ich in drei Jahrzehnten als Auslandskorrespondentin gehört hatte.

Gebrochene Menschen, die Frauen mit dünnen wogenden Körpern und langen purpurnen Haaren, die Gesichter umrahmten, in denen jedes Leuchten erloschen war. Auf mich wirkten sie weder tot noch lebendig. Alle hatten Eltern, Brüder, Schwestern verloren. Im Flüsterton wie ein Windhauch erzählten sie mir von ihrer geliebten Heimat Sindschar, das sie Schingal aussprachen, und dem Berg desselben Namens, von dem sie sich Zuflucht versprochen hatten, wo aber viele einen qualvollen Hungertod gestorben waren. Sie erzählten von einer kleinen Stadt namens Kodscho, die der IS 13 Tage lang belagert hatte, bevor er alle Männer und älteren Frauen abschlachtete und die Jungfrauen gefangen nahm. Und vom Galaxy-Kino am Ostufer des Tigris, wo Mädchen – darunter auch ihre Schwestern – in hässlich und schön unterteilt und dann auf einem Markt den IS-Kämpfern vorgeführt und als Sexsklavinnen verkauft wurden.

Die Mutter des kleinen Mädchens, das um ein Haar in das Loch gefallen wäre, stammte aus Kodscho. Sie war 35, hieß Asma Bashar, und ihre Stimme klang so abgehackt wie Maschinengewehrfeuer. Die anderen nannten sie Asma Loco, weil sie, wie sie sagten, den Verstand verloren habe. Sie erzählte mir, dass 40 Mitglieder ihrer Familie abgeschlachtet worden seien, darunter ihre Mutter, ihr Vater und ihre Brüder. Vier Schwestern und zwölf Nichten waren zu Sexsklavinnen genommen worden. »Ich habe niemanden mehr außer einer Schwester, der die Flucht aus der Gefangenschaft gelang und die jetzt in Deutschland ist«, sagte sie. »Ich nehme Pillen, um auszulöschen, was passiert ist.«

Ayesha, deren Eltern und Brüder vom IS getötet wurden

Eine jüngere Frau, die bis dahin so still wie ein Gemälde an der rissigen blauen Wand gelehnt hatte, begann zu sprechen. »Ich bin 20, aber ich fühle mich wie über 40«, sagte sie. Ihr Name war Ayesha, und sie erzählte mir, dass ihre Eltern und Brüder in Kodscho umgekommen waren. »Ich sah meine Großmutter sterben, ich sah Kinder sterben, und jetzt kann ich mich nur noch an schlimme Dinge erinnern. Vier meiner Freundinnen wurden für nur 20 Euro verkauft.«

Ihr war es, zusammen mit ihrem Mann, gelungen, auf den Berg zu fliehen, dann waren sie irgendwie durch das kriegsgeschundene Syrien in die Türkei gelangt. Dort hatten sie 5000 Dollar an Menschenschmuggler gezahlt, um über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen in notdürftig zusammengeflickten, überfüllten Beibooten waren sie schließlich auf der Insel angelangt.

»Nach all dem stellen wir fest, dass wir immer noch nicht frei sind«, sagte sie. Sie streckte ihr linkes Handgelenk aus. Rote Narben zogen sich kreuz und quer über die blasse Haut wie zornige Würmer. »Ich habe versucht, mich mit einem Messer umzubringen«, erklärte sie mit einem Achselzucken. Das letzte Mal lag nur zwei Wochen zurück.

Leros war immer schon eine Insel der Ausgestoßenen – eine Leprakolonie, ein Internierungslager für politische Gefangene und eine Anstalt für sogenannte »Unheilbare«. Seit 2015 ist sie eine der vielen griechischen Inseln, die von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten in Syrien, Irak und Afghanistan überschwemmt werden.

Es war die Flüchtlingskrise, die mich als Journalistin auf die Insel gebracht hatte. Leros gehörte zu den fünf griechischen Inseln, die zu »Hotspots« erklärt worden waren, nachdem die Europäische Union 2016 einen Handel mit der Türkei abgeschlossen und ihr drei Milliarden Euro dafür gezahlt hatte, dass sie alle Neuankömmlinge von einer Überquerung der Ägäis abhielt. Zehntausend auf den Inseln gestrandete Flüchtlinge wurden in diesen fünf Bearbeitungszentren zusammengedrängt, doch die Bearbeitung verlief so langsam, dass sie faktisch Gefangene der Inseln waren. Auch in den Zentren auf Lesbos, Chios und Kos hatte ich das prekäre Nebeneinander der verzweifelten Flüchtlinge schon gesehen, die eingepfercht in Lagern, Sportstadien und ehemaligen Fabriken waren und so von Sexhändlern belagert wurden, dass die Frauen nachts Windeln trugen, um ihre Zelte nicht verlassen zu müssen. Derweil erfreuten sich direkt daneben sorglose Urlauber an Sonne, Meer und Moussaka, das sie mit Ouzo hinunterspülten.

Auf Leros war es anders. Ich war noch nie an einem vergleichbaren Ort gewesen. Hier gab es die blendend weißen Fischerdörfer mit ihren kreuz und quer stehenden Häusern, Windmühlen, Tavernen und strahlend blauem Wasser, wie sie für griechische Inseln typisch sind. Doch der Hauptort Lakki war ein Lehrstück in stalinistischem Art déco: breite Prachtstraßen und Betonvillen mit spitzen Winkeln, dazu ein Kino im Kolonnadenstil, ein kreisrunder Marktplatz, eine Schule, die eher einem landwirtschaftlichen Silo ähnelte, ein minimalistischer Uhrenturm sowie Gebäude, die aussahen wie ein Ufo und ein altmodisches Transistorradio. Es war, als hätte man sich in eine vergessene Filmkulisse verirrt.

Die Insel hatte einst eine zentrale Rolle in Mussolinis Plänen gespielt, ein zweites Römisches Reich zu erschaffen. Leros war mitsamt allen übrigen Inseln des Dodekanes 1912 dem Osmanischen Reich entrissen und einem italienischen Kolonialreich einverleibt worden, zu dem auch Libyen, Somalia und Eritrea gehörten. Als Mussolini in den 1920ern die Macht übernahm, entschied er, dass der tiefe Naturhafen der Insel den perfekten Flottenstützpunkt abgeben würde, von dem aus sich das gesamte östliche Mittelmeer beherrschen ließe. Und so sandte er neben Flottenstreitkräften und -beamten auch Architekten dorthin, damit sie eine moderne Stadt im faschistischen Stil entwarfen, den die Italiener als razionalismo bezeichnen.

Nach der Niederlage der Italiener im Zweiten Weltkrieg gingen die Inseln an Griechenland, und Lakki (beziehungsweise Portolago, wie die Italiener es genannt hatten) verwaiste weitgehend. Als 1967 in Griechenland die Obristen die Macht ergriffen, nutzten sie Mussolinis Marinekasernen, um politische Gefangene einzusperren, später dann als Verbannungsort für psychisch Kranke. Tausende Patienten wurden vom Festland hierhergeschifft und unter mittelalterlichen Bedingungen untergebracht – bis die Zustände von der Presse und dem Dokumentarfilm von 1990, den ich gesehen hatte, öffentlich gemacht wurden. Die gesamte EU war...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2020
Übersetzer Maria Zettner, Friedrich Pflüger, Heike Schlatterer, Anja Lerz, Karin Schuler
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Our Bodies, Their Battlefield: What War Does to Women
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Amal Clooney • Balkankriege • eBooks • Frauenrechte • Jesiden • Kongo • Kriegsverbrechen • Malala • Menschenrechte • Misshandlung • Ruanda • Vergewaltigung
ISBN-10 3-641-23540-5 / 3641235405
ISBN-13 978-3-641-23540-6 / 9783641235406
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