Liebe Fanatiker (eBook)
150 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518757093 (ISBN)
Von Fanatikern geht gegenwärtig die größte Gefahr aus auf dem gesamten Globus - als Terroristen führen sie Krieg gegen bestimmte Gruppen wegen deren Glaubens oder Hautfarbe, als Selbstmordattentäter ermorden sie wahllos Einzelne um ihren Glauben zu bezeugen und/oder wegen medialer Aufmerksamkeit.
Amos Oz, aufgewachsen in Jerusalem, zum Schriftsteller geworden in einem Kibbuz, in der »Peace-Now« aktiv, ist aufgrund seiner persönlichen Erfahrung zu einem »Fachmann für vergleichenden Fanatismus« geworden: in seinen Büchern lotet er dessen Abgründe aus, als Kommentator bekämpft er sie politisch, als Betroffener stellt er sich und anderen die Frage, wie man zum Fanatiker werden kann.
Die drei Essays dieses Bandes stammen also weder von einem Forscher noch von einem Experten, sie beruhen auf der existenziellen Betroffenheit des Autors, seiner Erfahrungen im täglichen Umgang wie in der Analyse des Geschehenen und Geschehenden. Sie erheben weder den Anspruch, alle Details des Streits zu beleuchten, noch alle Facetten abzubilden, am allerwenigsten darauf, das letzte, das abschließende Wort, kurz: recht zu behalten: Das Ziel dieser Plädoyers besteht darin, mit ihnen bei jenen auf Aufmerksamkeit zu stoßen, die anderer Meinung als ich, also Fanatiker, sind.<p>Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk <em>Eine Geschichte von Liebe und Finsternis</em> wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.</p>
Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk Eine Geschichte von Liebe und Finsternis wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert. Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, war eine der namhaftesten Übersetzerinnen des Hebräischen. Sie übersetzte Werke von Aharon Appelfeld, Lizzie Doron, Batya Gur und David Grossman. Ihre große, sprachlich wie literarisch weite Erfahrung war von größtem Wert auch für die Erschließung der israelischen Lebenswelt, wie Amos Oz sie überliefert. Für die Übersetzung von Oz’ Roman Judas erhielt sie 2015 den Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt. Pressler starb am 16. Januar 2019 in Landshut.
Viele Lichter, nicht nur eins[4]
Zum Gedenken an meine Freunde S. Izhar und Menachem Brinker
Im Folgenden präsentiere ich einige Gedanken über das Judentum als Kultur, nicht so sehr als Religion oder als Volk. Um genauer zu sein – es sind Gedanken, die sich vorgenommen haben, sowohl zwischen dem, was vorbei ist, und dem, was noch gültig ist, als auch zwischen bloßem Kult und geliebter Tradition zu unterscheiden. Es gibt durchaus ein jüdisches Volk, aber es unterscheidet sich von vielen anderen Völkern dadurch, dass seine Fortdauer nicht durch Gene und auch nicht durch Siege auf dem Schlachtfeld, sondern durch Bücher garantiert wird.
Heute, da uns immer wieder erzählt wird, dass Moral relativ sei, dass das, was in Europa als gut gelte, in Afrika nicht als gut gelte, und das, was im Süden moralisch sei, nicht unbedingt im Osten oder im Westen moralisch sei, denke ich manchmal über die einfache Tatsache nach, dass es niemanden auf der Welt gibt, der nicht weiß, was Schmerz ist. Nicht alle Schmerzen sind gleich, aber es gibt keinen ›normalen‹ Menschen, der nicht weiß, dass er jemandem Schmerzen zufügt, wenn er jemandem Schmerzen zufügt.
Jesus sagte zu seinen Jüngern: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« (Lukas 23,34) Ich bin anderer Meinung als Jesus, nicht wegen des Vergebens, man kann durchaus manchmal vergeben. Ich bin mit dem »denn sie wissen nicht, was sie tun« nicht einverstanden: Jesus misst bisweilen der ganzen Menschheit einen Zustand moralischer Unschuld bei, als ob sie nicht wüsste, dass sie Böses tut, wenn sie Böses tut, weil sie nicht weiß, dass es das Böse gibt.
Hier hat Jesus nicht recht: Wenn wir einem Menschen oder auch einer Katze Schmerzen zufügen, dann wissen wir sehr wohl, was wir tun. Das weiß sogar ein kleines Kind. Der Schmerz ist vermutlich der größte gemeinsame Nenner der Menschheit. Wer hat ihn nicht schon selbst erfahren? Vielleicht ist der Schmerz sogar der gemeinsame Nenner aller Lebewesen.
Der Schmerz ist ein großer Demokrat. Vielleicht ist er sogar ein bisschen sozialistisch: Er unterscheidet nicht zwischen Reichen und Armen, zwischen Starken und Schwachen, Bekannten und Fremden, zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Regierenden und Regierten. Bei manchen ist der Schmerz zwar begrenzt, sie haben mildernde Umstände, die andere nicht haben, dennoch scheint der Schmerz die am weitesten verbreitete Erfahrung zu sein, eine Erfahrung, die wir alle miteinander teilen. Daraus leite ich ein einfaches moralisches Gebot ab: »Du sollst niemandem Schmerz zufügen.« Ich weiß, dass dieses Gebot nicht ausreicht: Wir werden noch über Gerechtigkeit und den Sinn für Gerechtigkeit sprechen, über Aufrichtigkeit und Mitgefühl, über Pluralismus und vieles mehr. Es ist fast unmöglich, zwei Juden zu finden, die gleicher Meinung darüber sind, was wichtiger ist, und vielleicht lässt sich auch kein Jude und keine Jüdin finden, der oder die mit sich selbst darüber im Reinen ist, welcher Wert den Vorrang vor dem anderen hat, welcher Wert einem anderen Wert nachgeordnet ist, wie man Werte abstuft und wer eigentlich dazu berechtigt ist, diese Abstufungen vorzunehmen. Einige der schärfsten Diskussionen, die die jüdische Bevölkerung in der Vergangenheit geführt hat und noch in der Gegenwart führt, entstammen der Auseinandersetzung darüber, wie Werte abgestuft werden sollen.
Es ist kein Zufall, dass die Juden keinen Papst haben, sie hätten nie einen Papst haben können. Würde sich eines Tages jemand erheben und sich »Papst der Juden« nennen, würde jeder von uns zu ihm gehen, ihm auf den Rücken klopfen und sagen: »Hei Papst, du kennst mich nicht, ich kenne dich nicht, aber meine Großmutter und deine Tante haben in Minsk oder in Casablanca miteinander Geschäfte gemacht, deshalb setz dich doch für fünf Minuten in Ruhe mal hin, wirklich nur für fünf Minuten, und ich erkläre dir ein für alle Mal, was Gott wirklich von uns verlangt.«
In jedem von uns steckt ein kleiner geistiger Reiseführer. Wir sind ein Volk von Lehrern. Wir lieben es, zu unterrichten, zu erklären, uns zu streiten, neue Aspekte aufzuzeigen, das Gegenteil zu behaupten oder zumindest alles anders zu interpretieren. Das Klima des Streitens eignet sich oft für ein schöpferisches Leben und für geistige Erneuerung.
In guten Zeiten ist die Kultur des jüdischen Volkes eine Kultur des Zweifels und der Auseinandersetzungen. Tausende von Jahren fügten die Juden Schicht auf Schicht den alten Texten hinzu, auf die sie sich bezogen und die sich ihrerseits auf noch ältere Texte bezogen. »Sich beziehen« heißt nicht immer, eine weitere Schicht hinzuzufügen oder den Text aufzustocken, oft stellt der neue Text die früheren in Frage oder er zeigt sie in einem neuen Licht und schlägt eine Änderung, eine Verbesserung oder gar einen Ersatz vor.
Die Geschichte der israelischen Kultur ist eine Art uraltes Spiel von Interpretation, Um-Interpretation und Gegen-Interpretation. Aber natürlich nicht immer. Nicht in Perioden des Heiligenkults, des blinden Gehorsams und des mechanischen Auswendiglernens, wohl aber in kreativen Zeiten, in denen die Juden nicht aufhören, miteinander zu streiten, in denen sich eine Art anarchistisches, lebendiges und sprudelndes Gen des ständigen, stürmischen Streitens bemerkbar macht. Wie entscheidet man einen Streit? »Nach der Mehrheit.« Diese drei Worte, zusammen mit den Worten »lieb und teuer ist der Mensch, der nach Gottes Ebenbild erschaffen ist«, bilden die eiserne Brücke zwischen Judentum und Demokratie. »Nach der Mehrheit entscheiden«, nicht weil die Mehrheit immer recht hat – oft genug irrt sich die Mehrheit oder macht sich schuldig –, sondern weil es zu der Entscheidung der Mehrheit keine Alternative gibt, zumindest solange die Entscheidung der Mehrheit nicht damit verbunden ist, dass sie die Minderheit unterdrückt oder zum Schweigen bringt.[5]
Wenn ein Junge Bar Mizwa wird, fragt man ihn nicht: »Was hast du heute im Kindergarten gelernt, mein Süßer?« Man bittet ihn nicht, etwas aufzusagen, was er von seinen Lehrern gehört oder in Büchern gelesen hat. Im Gegenteil, man fordert ihn auf: »Sag uns etwas Neues.« Das heißt, gib uns etwas Originelles, etwas von dir. Auch wenn es nur eine kleine Interpretation ist, etwas Nebensächliches, es soll einen eigenen Gedanken ausdrücken, etwas, was du selbst zu dem, was du gelesen und gelernt hast, hinzugedacht hast. Ebenso wie man einen Bräutigam am Tag seiner Hochzeit in der Synagoge bat: »Sag uns etwas Neues.« Das scheint seit Generationen der schöpferische Kern der jüdischen Kultur zu sein, abgesehen von den Perioden, in denen diese Kultur die Tendenz zur Versteinerung zeigte.
Die Juden haben keine Pyramiden gebaut, sie errichteten keine prachtvollen Kathedralen, nicht die chinesische Mauer und nicht den Tadsch Mahal. Sie haben Texte geschaffen und sie gemeinsam im Familienkreis gelesen, während eines Festessens und auch bei den alltäglichen Mahlzeiten.
*
Die Gelehrten streiten sich heftig darüber, wie groß oder wie klein Jerusalem gewesen ist, die Hauptstadt Davids und Salomons. Einige behaupten, sie sei »königlich« gewesen, andere meinen, sie sei nichts anderes gewesen als ein abgelegenes Dorf. Es gibt sogar Gelehrte, die behaupten, das Jerusalem Davids und Salomons habe es nie gegeben, es sei nur ein Gleichnis. Diese Diskussion ist zwar spannend und aufregend, aber weniger wichtig, als sie vielen von uns zu sein scheint. Jerusalem ist in der israelischen Kultur und auch im Bewusstsein der Welt nicht eine Stadt aus behauenen Steinen, sondern vor allem die Stadt der Propheten, die Stadt der Geschichtserzähler und Ideenschöpfer, die die Grundlagen der Moral verändert haben, die Stadt der Psalmen, die Stadt der Prediger, die Stadt des Hohelieds.
Es gibt eine alte Geschichte, die Mordechai Michaeli, mein geliebter Lehrer selig, erzählt hat, als ich ein Schüler in der religiösen Knabenschule Tachkemoni in Jerusalem war. Darin wird von einem alten Vater erzählt, der seinem Sohn ein Gebot auferlegt: Wenn du Schutz vor Regen und Wind suchst, baue dir ein Zelt oder eine Hütte. Wenn du ein Haus haben möchtest, in dem du dein ganzes Leben verbringen willst, baue dir ein Haus aus Stein. Wenn du auch für deine Kinder und Enkel sorgen willst, dann baue eine Stadt...
| Erscheint lt. Verlag | 14.3.2018 |
|---|---|
| Übersetzer | Mirjam Pressler |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Dear Zealots |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abraham-Geiger-Preis 2017 • Essays • Fanatiker • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992 • Großes Verdienstkreuz 2018 • Heine-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf 2008 • Konflikt • Mount Zion Award 2017 • Nahostkonflikt • ST 5032 • ST5032 • suhrkamp taschenbuch 5032 |
| ISBN-13 | 9783518757093 / 9783518757093 |
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