»Nichts ist, wie es scheint« (eBook)
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75792-5 (ISBN)
Seit 2015 Hunderttausende Flüchtlinge in die Bundesrepublik kamen, kursiert im Netz die Theorie vom »Großen Austausch«: Das Land solle von einer globalen »Finanzoligarchie« mittels der »Migrationswaffe« ausgeschaltet werden. Neben mangelndem Vertrauen in die Politik ist der Glaube an Verschwörungstheorien ein Merkmal des populistischen Brodelns. Doch was macht eine Erklärung zu einer Verschwörungstheorie? Warum sind sie für viele so attraktiv? Und was kann man dagegen unternehmen?
Antworten auf solche Fragen findet man seltener als Verschwörungstheorien selbst. Michael Butter erläutert, wie solche Erzählungen funktionieren, wo sie herkommen und welche Auswirkungen sie haben können. Da sie die Eigenlogik sozialer Systeme unterschätzten, seien solche Theorien zwar immer falsch; als Symptom müsse man sie dennoch ernstnehmen. Gegenwärtig seien sie ein Indikator für die demokratiegefährdende Fragmentierung der Öffentlichkeit.
Michael Butter, geboren 1977, lehrt Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er leitet das von der EU finanzierte Forschungsprojekt Populism and Conspiracy Theory. 2021 wurde er mit dem Tübinger Preis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet.
Michael Butter, geboren 1977, lehrt Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er leitet ein europäisches Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien und ist in den Medien regelmäßig als Experte zum Thema präsent.
9Einleitung oder Was ist der Plan?
Am 31. August 2015 sprach Angela Merkel angesichts Tausender Flüchtlinge, die täglich nach Deutschland kamen, ihren berühmten Satz »Wir schaffen das«. Just an diesem Tag veröffentlichte das Magazin Compact einen Text der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman, der sich mit diesem Thema beschäftigte. Der etwa zehnseitige Aufsatz war bereits einige Tage zuvor unter dem Titel »Einwanderungs-Chaos: Was ist der Plan?« auf der Seite der Wissensmanufaktur erschienen, deren Medienbeirat Herman damals angehörte. Compact, das wie die Wissensmanufaktur zu den rechtspopulistischen Alternativmedien gehört, die in den letzten Jahren so viel Auftrieb erfahren haben, publizierte ihn unter dem Titel »Flüchtlings-Chaos: Ein merkwürdiger Plan«. Der Artikel ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu Merkels Aussage. Wo die Kanzlerin Optimismus verbreitete, sah Herman nichts weniger als den Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorstehen. »Wir schaffen das nicht«, schreit es aus jedem ihrer Sätze.1
»Europa«, so Herman, »wird geflutet mit Afrikanern und Orientalen. Unsere alte Kraft, unsere christliche Kultur, Glaube und Tradition, werden zerstört, die Identität der einzelnen Völker aufgeweicht und, Schritt für Schritt, abgeschafft.« Während sie hier für einen Moment das Bild einer Naturkatastrophe bemüht, dominiert insgesamt eine ganz andere Metaphorik: Für Herman ist die Flüchtlingskrise ein »Feldzug gegen Europa« und Deutschland entsprechend »ein Schlachtfeld«, ein »Kriegsgebiet […], welches nun von unzähligen Asylsuchenden, Stück für Stück, eingenommen 10wird«. Die Geflüchteten, angeblich »überwiegend junge, starke Männer«, sind für sie »der Sprengstoff«, der sich »zunehmend zur Waffe gegen die einheimische Bevölkerung« entwickelt.
Diese Bildlichkeit von Krieg und Invasion passt zum Argument, denn für Herman handelt es sich bei der Migrationskrise nicht nur um eine von Menschen gemachte, sondern um eine ganz bewusst herbeigeführte Katastrophe. Gleich im ersten Absatz betont sie, der eigentliche »Widersacher« sei »nicht in den Millionen fliehenden Migranten zu suchen«. Die Geflüchteten seien nur die sichtbaren Werkzeuge, denn: »[D]er Feind arbeitet in vielerlei subtiler Form an bislang für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen.« Letztendlich verantwortlich, so Herman, sei »eine bestimmte Gruppe von Machtmenschen des globalen Finanzsystems […], die sich die Welt aus ihrem Kapitalsammelbecken heraus untertan machen will«. Sie erklärt allerdings an keiner Stelle, wie die Zerstörung des christlichen Europa, die sie prognostiziert, zur Agenda dieser »mächtigen Globalbestimmer« beitragen soll. Immer wieder betont sie jedoch, dass diese mysteriösen Strippenzieher die Politik und die Medien kontrollieren. Wiederholt kommt sie auf das »Brüsseler Marionettentheater«, die »eingesetzten Politikdarsteller« und »die gleichgeschalteten Massenmedien« zu sprechen, die, statt dem Volk zu dienen, »die Hirne der Menschen« verwirren, um »das Volk in den Untergang [zu] führen«.
Eva Hermans Ideen verbreiteten sich schnell in den alternativen Öffentlichkeiten des Internets, wo sie breite Zustimmung fanden, wie die Kommentare unter dem Essay zeigen. Da Herman bis zu ihren kontroversen Äußerungen zu Feminismus, Genderrollen und Nationalsozialismus einige Jahre zuvor eine beliebte Fernsehfi11gur gewesen war, griffen auch die »Mainstreammedien« das Thema auf. Ebenfalls am 31. August widmete zum Beispiel die Website des Stern ihren »umstrittenen Aussagen« einen Artikel. Fazit: Herman habe Angst, »dass unser Land durch die vielen Migranten zerstört werde«, und verbreite »allerlei Verschwörungstheorien«.2
Im gegenwärtigen Kontext ist dieses Urteil ebenso erwartbar wie einleuchtend, schließlich sind Verschwörungstheorien in den letzten Jahren ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Nachdem sie lange Zeit ein Nischendasein gefristet hatten, sind sie seit einiger Zeit allgegenwärtig: Die USA haben die Anschläge des 11. September 2001 selbst durchgeführt; wir werden heimlich von einer Neuen Weltordnung kontrolliert, die uns über Chemtrails und Impfungen gefügig hält; die Ukrainekrise wurde von der Nato orchestriert; Barack Obama wurde wahlweise nicht in den USA geboren oder er ist – wie Angela Merkel und George W. Bush – Teil einer Elite außerirdischer Reptilien, die sich von unserer negativen Energie ernährt; die Mondlandung hat natürlich nie stattgefunden, und John F. Kennedy wurde von der CIA ermordet. Enthüllungen über vermeintliche Komplotte der USA, der EU, der Geheimdienste, der Juden, der Illuminaten und anderer Gruppen zirkulieren nicht mehr nur in Subkulturen, sondern erreichen inzwischen eine breite Öffentlichkeit.
Viele Beobachter kommen daher zu dem Schluss, Verschwörungstheorien seien heute salonfähiger als je zuvor und die Zahl derjenigen, die an sie glauben, habe sprunghaft zugenommen. Dies wiederum alarmiert diejenigen, die ihnen weiterhin skeptisch gegenüberstehen – und das ist noch immer der größere Teil der Bevölkerung und die überwältigende Mehrheit der Medienvertreter. Entsprechend ist der Begriff »Verschwörungstheorie« 12zu einem festen Bestandteil des alltäglichen gesellschaftlichen Diskurses geworden: Man begegnet dem Wort mittlerweile beinahe wöchentlich in den Abendnachrichten oder in der Zeitung. Eine Erklärung, warum eine bestimmte Idee als »Verschwörungstheorie« bezeichnet wird, gibt es in solchen Fällen allerdings nicht. Offensichtlich haben wir alle ein intuitives Verständnis davon, was eine Verschwörungstheorie ist. »Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe«, hat ein amerikanischer Richter bekanntlich einmal über Pornografie gesagt, und genauso geht es den meisten von uns mit Verschwörungstheorien. Daher würde – außer denjenigen, die den Anschuldigungen zustimmen und die Bezeichnung »Verschwörungstheorie« daher als Diffamierung zurückweisen – wohl jeder Leser Hermans Text als Verschwörungstheorie einstufen.
Doch was genau macht Hermans Text zu einer Verschwörungstheorie? Und stimmt es, dass Verschwörungstheorien immer populärer und einflussreicher werden? Was hat das Internet damit zu tun? Seit wann gibt es überhaupt Verschwörungstheorien? Wie hängen Verschwörungstheorien und Populismus zusammen? Wer glaubt eigentlich an Verschwörungstheorien und warum? Sind Verschwörungstheorien gefährlich? Und was kann man gegen sie tun?
Antworten auf diese Fragen findet man deutlich schwerer als Verschwörungstheorien selbst. Es besteht ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Aufgeregtheit, mit der das Thema derzeit diskutiert wird, und dem Wissen, das diese Diskussionen in den allermeisten Fällen informiert. Oft genug werden Ideen als Verschwörungstheorien bezeichnet, die keine sind. Impfgegner mögen falschliegen, aber nicht alle sind Verschwörungstheoretiker. Immer wieder werden verschie13dene Typen von Verschwörungstheorien in einen Topf geworfen, unabhängig davon, ob sie sich gegen Eliten oder gegen Minderheiten richten, ob sie rassistisch sind oder nicht. Auch wird oft pauschal ein Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und Gewalt(bereitschaft) behauptet – ein Thema, dem der deutschsprachige Wikipedia-Artikel zum Thema einen ganzen Abschnitt, aber nur zwei sehr spezifische Belege widmet.3
In den letzten Jahren hat die Konfusion vor dem Hintergrund des erstarkenden Populismus in Europa und den USA weiter zugenommen. Insbesondere die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat die öffentliche Debatte über Verschwörungstheorien noch aufgeregter und unpräziser gemacht, weshalb zum Beispiel die Grenze zwischen Verschwörungstheorien und Fake News verschwimmt. Verschwörungstheorien können Fake News sein, also absichtlich verbreitete Fehlinformationen, die darauf angelegt sind, bestimmte Personen zu diskreditieren und/oder ein anderes Ziel zu erreichen. Allerdings sind nicht alle Verschwörungstheorien Fake News und umgekehrt. Viele Verschwörungstheoretiker sind genuin überzeugt, einem Komplott auf die Schliche gekommen zu sein; und nicht jede bewusst verbreitete Fehlinformation behauptet eine Verschwörung.
Doch nicht nur die unscharfe Begriffsverwendung ist ein Problem. Denjenigen, die sich mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen – und das gilt gleichermaßen für den wissenschaftlichen wie für den medialen Diskurs –, fehlt es oft an einem adäquaten Verständnis davon, wie Verschwörungstheorien entstehen, was sie für diejenigen, die an sie glauben, leisten und welche Folgen sie haben können. Das liegt nicht zuletzt daran, 14dass es bis heute nur eine einzige Studie zum Thema ins öffentliche Bewusstsein geschafft hat: Richard Hofstadters berühmter Aufsatz über den »paranoiden Stil in der amerikanischen Politik« von 1964.4 Selbst in den USA, wo seit den neunziger Jahren ein knappes Dutzend spannender Untersuchungen zum Thema erschienen ist, fiel und fällt den Medien angesichts von Donald Trumps täglichem Flirt mit dem Konspirationismus nichts anderes ein, als wieder und wieder Hofstadters Aufsatz zu bemühen.
Hofstadter, einer der angesehensten Historiker seiner Zeit, rückte einerseits den Glauben an Verschwörungstheorien in die Nähe klinischer Paranoia; andererseits behauptete er, in den USA habe immer nur eine...
| Erscheint lt. Verlag | 14.3.2018 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Attila Hildmann • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Bill Gates • buch bestseller • Chemtrails • CIA • Corona • Donald Trump • Facebook • Fake News • Illuminati • JFK • Pizzagate • Reichsbürger • Sergej Skripal • Spiegel-Bestseller-Liste • Tübinger Preis für Wissenschaftskommunikation 2021 • Xavier Naidoo |
| ISBN-10 | 3-518-75792-X / 351875792X |
| ISBN-13 | 978-3-518-75792-5 / 9783518757925 |
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