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Mitten unter uns -  Masoud Aqil

Mitten unter uns (eBook)

Wie ich der Folter des IS entkam und er mich in Deutschland einholte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
255 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-177-3 (ISBN)
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280 lange Tage geht der kurdische Journalist Masoud Aqil in den Gefängnissen des 'Islamischen Staats' durch die Hölle. Er wird gefoltert, muss immer wieder Hinrichtungen mit ansehen und durchlebt selbst mehrere Scheinexekutionen. Als er im Rahmen eines Gefangenaustauschs frei kommt, flieht er ins vermeintlich sichere Deutschland. Doch hier macht er eine erschreckende Entdeckung: Viele seiner einstigen Peiniger - ehemalige Gefängniswärter und Soldaten des IS - sind im Schutz der Flüchtlingswelle nach Europa gelangt und leben längst mitten unter uns. Seitdem hilft Masoud Aqil den deutschen Sicherheitsbehörden, IS-Terroristen hierzulande aufzuspüren. In seinem Buch spricht Masoud Aqil, selbst Flüchtling und Opfer des IS, von der Gefahr islamistischer Schläfer in Deutschland und warum er alles dafür tut, das Land zu schützen, das ihm Asyl gewährt hat. Als der Journalist Masoud Aqil im Dezember 2014 eine Recherchefahrt für seinen kurdischen Sender unternimmt, beginnt für den damals 22-Jährigen ein unvorstellbares Martyrium: Ein IS-Kommando nimmt ihn und seinen Kollegen fest und verschleppt die beiden. 280 Tage befindet sich Masoud Aqil in den Fängen der Terroristen. Eingesperrt in lichtlose Kellerzellen, wird er immer wieder gefoltert, muss mit ansehen, wie Mitgefangene auf martialische Weise hingerichtet werden, und durchlebt selbst mehrere Scheinexekutionen. Nach neun qualvollen Monaten kommt Masoud Aqil überraschend frei und flieht ins vermeintlich sichere Deutschland. Als ihm klar wird, dass der IS die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 genutzt hat, um Terroristen gezielt nach Europa zuschleusen, macht er eine erschreckende Entdeckung: Viele seiner Peiniger - ehemalige Gefängniswächter und Soldaten des IS - sind längst in Deutschland. Seitdem hilft er den deutschen Sicherheitsbehörden, IS-Schläfer aufzuspüren.

1. Syrien zerfällt


Noch nie hatte in meiner Gegenwart ein Mensch lauthals verkündet, er werde mich und meinesgleichen enthaupten. Meinesgleichen: Kurden, die dieser große, schwitzende Dicke mit der Kalaschnikow als »Ungläubige« bezeichnete. Es stimmt, die meisten Kurden ziehen ihr Selbstverständnis nicht aus der Zugehörigkeit zu einer Religion, sondern eher aus ihrer Zugehörigkeit zu einer Ethnie. Viele legen gar keinen Wert auf Religion, weil sie in einer Atmosphäre des Religiösen leben müssen, die sie verabscheuen. Mein Vater ist Atheist, ich bin Atheist, viele Kurden sind Atheisten. Es gibt keine radikalen Dschihadisten unter uns, und wenn jemand gläubig ist, heißt das nicht, dass er den Fundamentalisten anhängt, die den einen, rechten Glauben predigen und daraus die Legitimation ziehen, alle anderen, alle »Fehlgeleiteten«, ermorden zu dürfen.

Was wir Kurden brauchen, ist nicht eine Religion, sondern ein Stück Land. Tausende Jahre haben die Kurden auf ihrem Land gelebt, zahlreichen Besatzern trotzig widerstanden. Heute leben wir als Minderheit in vier Staaten – in der Türkei, dem Irak, dem Iran und in Syrien. Wir Kurden, verbunden durch unsere Kultur und Sprache, sind die größte Nation der Welt ohne eigenen Staat. Wirklich einig sind wir uns deshalb noch lange nicht. Damit es irgendwann zu einem unabhängigen Staat Kurdistan kommen könnte, der alle Gebiete in Syrien, im Irak, im Iran und in der Türkei einschließt, müssten in erster Linie die türkische PKK und die irakische PDK und ihre Anführer ihre politischen Differenzen überwinden.

Nur dann könnte es gelingen, unser Recht auf Selbstbestimmung mittels eines Referendums für ein unabhängiges Kurdistan durchzusetzen. Wenn wir uns wirklich als eine Nation verstünden, könnten wir eines Tages die kurdisch besiedelten Gebiete unabhängig und zu einem Staat vereint kontrollieren. Bei dieser Gelegenheit könnten wir an eine gute, alte Tradition anknüpfen: allen Ethnien ihren Platz einzuräumen und auf religiösen und politischen Pluralismus achten – anders als die Machthaber in Syrien, im Irak, in der Türkei und im Iran und anders als die radikalen islamistischen Truppen, die alles beseitigen wollen, was nicht ihresgleichen ist.

Derzeit sind wir von einem eigenen Staat weit entfernt. Zwar ist es uns gelungen, in Syrien und im Irak unsere Angelegenheiten in halb autonomen Regionen zu regeln. Doch vielerorts herrschen Unrecht und Unterdrückung. In Syrien hat das eine lange Tradition: 1962 wurden allein im Gouvernement Al-Hasaka rund 120 000 Kurden ausgebürgert und zum Teil enteignet. Sie verloren ihre Staatsbürgerschaft, ihre Rechte, ihren Besitz. Die Regierung verfolgte einen »Arabisierungskurs«, in dessen Zuge unter Assads Vater Hafiz ein »arabischer Gürtel« im Grenzgebiet geschaffen werden sollte. Vorgesehen war die Deportation von rund 140 000 Kurden, die auf einem etwa 15 Kilometer breiten und 375 Kilometer langen Streifen entlang der türkischen und irakischen Grenze lebten. Sie sollten durch arabische Siedler ersetzt werden. In die Provinz Al-Hasaka zogen in den Jahren 1975/76 rund 25 000 arabische Familien.1 Zwar kam es letztlich nicht zur geplanten Deportation, doch die enteigneten Kurden waren ihrer Existenzgrundlage beraubt und als Staatenlose entrechtet. Sie hatten kein Wahlrecht, kein Recht, Land, Immobilien oder ein Geschäft zu besitzen. Kurdische Ortsnamen wurden durch arabische ersetzt, später wurde es Familien untersagt, ihren Kindern kurdische Namen zu geben. Der Besitz kurdischer Literatur war verboten, nicht einmal zu Hause durften wir unsere Sprache benutzen.

Die systematische Diskriminierung der Kurden in Syrien verstieß und verstößt gegen zahlreiche internationale Abkommen, allen voran gegen die allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Zwei- bis dreihunderttausend Kurden lebten vor dem Krieg als Staatenlose in Syrien, ein Status, der automatisch auf ihre Kinder übergeht. Sie haben kein einklagbares Recht auf Krankenversorgung oder Sozialleistungen, als »Nichtregistrierte« haben sie noch nicht einmal einen Rechtsanspruch auf den Schulbesuch.

Um solche gravierenden Nachteile zu vermeiden, hat sich ein Großteil der vier Millionen Kurden in Syrien als dem muslimischen Glauben angehörend registrieren lassen. Aber deswegen waren und sind sie noch lange keine Muslime. Das beweist schon allein die Tatsache, dass die kurdischen Jesiden im Nordirak in den vom schiitischen Iran und der sunnitischen Türkei umgebenen Bergen seit tausend Jahren unzählige Male von muslimischen und osmanischen Armeen und seit 2014 vom IS angegriffen und viele von ihnen getötet worden sind, weil sie nicht als Muslime gelten. Die meisten der Kurden haben – trotz des arabischen Ausweises – ihre Geisteshaltung und ihre Weltsicht bewahrt. Das ist auch der Grund dafür, dass unter den Kurden keine radikalen islamistischen Gruppen entstanden sind. Die Muslime beten, wir nicht, sie gehen in Moscheen, wir nicht, sie lesen den Koran, wir nicht. Das ändert sich auch im Ausland nicht, der Gegensatz verschärft sich vielmehr. Muslimische Flüchtlinge, das habe ich in Deutschland beobachtet, kleben am Koran und am Islam und laufen scharenweise zur Moschee, wo sie unter sich bleiben können. Alles, was sie interessiert, ist die Frage: Glaubst du oder glaubst du nicht?

Ganz anders die Kurden: Selbst jene, die an Allah glauben, lassen nicht zu, dass die Religion ihr Leben bestimmt, und sie versuchen auch nicht, das Leben anderer mittels der Religion zu bestimmen. In vielen arabischen Ländern dagegen sind Glaube und Politik auf unselige Weise miteinander verbunden. Der (falsche) Glaube oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie liefert immer wieder die Grundlage für Gewalt und Unterdrückung.

In Syrien zum Beispiel kujonierte das Regime auch Angehörige anderer Minderheiten. Begünstigt wurde das durch die 1963 in Kraft getretenen Notstandsgesetze. Sie erlaubten Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, willkürliche Festnahmen, Zensur der Medien, sie verboten Parteien außer der sozialistischen Baath-Partei, die eine ungeteilte arabische Nation anstrebt. Dissidenten und Oppositionelle wurden festgenommen und in Haftanstalten wie dem berüchtigten Sednaya-Gefängnis gefoltert.2

Baschar al-Assad, den wir nur »Stû dirêjo« nennen, den »Mann mit dem langen Hals«, setzte die Politik seines Vaters konsequent fort. Die Hoffnungen, er würde einen reformorientierten Kurs einschlagen, zerstoben in dem Maße, in dem der Ruf der Bevölkerung nach ebensolchen Reformen lauter wurde. Seit dem »Damaszener Winter«, mit dem die kurze Phase der Liberalisierung 2002 endete und die bürgerlichen Freiheiten wieder massiv eingeschränkt wurden, verfolgte Assad einen harten Kurs. Sein diktatorisches Regime unterdrückte nicht nur die Kurden, sondern große Teile der in Syrien lebenden Bevölkerung. Was in den vergangenen Jahren in Syrien geschehen ist und auch mein Leben völlig auf den Kopf stellen sollte, geht in erster Linie auf sein Konto.

2004 kam es in meiner Heimatstadt Qamishlo zu einem folgenschweren Vorfall während eines Fußballspiels. Gewaltbereite Fans des Teams aus Deir ez-Zor attackierten einheimische Zuschauer mit Steinen und Flaschen, sie grölten antikurdische Parolen. Aber nicht sie wurden aus dem Stadion entfernt, sondern die Fans aus Qamishlo. Vor dem Stadion kam es deswegen zu Protesten, Sicherheitskräfte erschossen neun unbewaffnete Kurden. An der Trauerfeier am nächsten Tag nahmen mehrere Zehntausend Menschen teil, darunter auch Christen und Araber. Als einige Teilnehmer Steine auf eine Assad-Statue warfen, griffen Sicherheitskräfte und Zivilbeamte hart durch, erneut gab es Tote.

In den folgenden zwei Tagen kam es in anderen Städten zu Solidaritätsprotesten, mehr als 30 Menschen wurden erschossen, rund 160 verletzt. Assads Armee rückte in Qamishlo ein, das Telefonnetz wurde gekappt, der Strom abgestellt. Wir lebten damals in Damaskus, wo das kurdische Viertel ebenfalls abgeriegelt worden war, und konnten niemanden erreichen. Im ganzen Land nahmen Assads »Sicherheitskräfte« 100 Menschen fest, 25 Kurden wurden getötet, zahllose kurdische Studenten exmatrikuliert.

Einige Jahre später zeigten uns die Menschen in Tunesien, Libyen und Ägypten, dass es möglich ist, einen Tyrannen zu stürzen. Und so fassten auch die Syrer Mut, auf die Straße zu gehen, um Freiheit einzufordern. Assad antwortete mit Gewalt, zuerst in Daraa im Südwesten, wo sein Cousin Atef Najib als Geheimdienstchef Kinder einsperren und foltern und auf Demonstranten schießen ließ. Als der Aufstand eskalierte und das Volk auch in anderen Städten demonstrierte, ließ Assad prügeln, verhaften und schießen – in Hama sogar auf Kinder.

Wo immer Assads Armee Zivilisten terrorisiert hatte, hinterließ sie an Mauern und Hauswänden Parolen in roter oder schwarzer Farbe: »Assad, oder wir werden das Land niederbrennen.« Das ist ihnen ja inzwischen gelungen. Offenbar glaubte Assad, so Angst verbreiten und den Aufstand mit Gewalt ersticken zu können. Stattdessen entwickelte sich ein Bürgerkrieg.

Der »syrische Frühling« 2011 war eine Revolution gegen all das, was die Assads, Vater und Sohn, der Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten angetan hatten. Auch wenn ich mit vielem nicht einverstanden war, was die Aufständischen taten, war auch ich überzeugt davon, dass es notwendig war, der Welt zu zeigen, dass Syrien von einem Diktator regiert wird. Aber Assad, das sagte ich oft zu meinen Freunden, wird nicht verschwinden, nur weil wir rufen: »Assad, hau ab«, oder an eine Wand schreiben: »Jetzt bist du dran, Doktor.« Ein Gewaltregime weicht nicht freiwillig, nirgendwo auf der Welt. Um ihre...

Erscheint lt. Verlag 3.8.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Integration • IS • Islamkritik • Syrien • Terrorismus
ISBN-10 3-95890-177-8 / 3958901778
ISBN-13 978-3-95890-177-3 / 9783958901773
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