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Nach dem Krieg -  Hellmuth Karasek

Nach dem Krieg (eBook)

Wie wir Amerikaner wurden
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
328 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
9783958901049 (ISBN)
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Amerika, das bedeutete für Hellmuth Karasek und für viele seiner Generation Verheißung und Lebenstraum. Es war der Gegenentwurf zur Nazizeit und zum Stalinismus, den er als 'schleichendes, bedrohliches, alles vernichtendes Gift' bezeichnete. Amerika, das war Cole Porter und Marilyn Monroe, das waren breite Straßen, schmucke Häuser, Universitäten, an denen debattiert und protestiert wurde, New York und Hollywood, Philip Roth und John Updike. Amerika war groß, selbstsicher und unglaublich frei - und es bot den Deutschen nach KZ und Kriegsverbrechen ein neues Wertesystem, eine neue Identität und das Versprechen für ein selbstbestimmtes, freies Leben, in dem niemand mehr Angst haben musste.

3. BERNBURG


Bernburg ist eine alte Residenzstadt in Sachsen-Anhalt – mehr als tausend Jahre alt, Talstadt und Bergstadt getrennt von der Saale, und über allem thront das prächtige Schloss mit dem Bärenzwinger im ehemaligen Burggraben. Vom Eulenspiegelturm im Schlosshof geht der Blick weit ins Land und auf den Fluss mit Schleuse und Wehr. Hier regierte von 1508 bis 1562 Fürst Wolfgang von Anhalt-Köthen aus dem Geschlecht der Askanier, ein Freund Luthers, der als einer der ersten Landesfürsten die Reformation einführte. Noch heute zeugt im Schloss der »Wolfgang-Bau«, den er im Renaissance-Stil errichten ließ, von seiner Macht.

Es war ein sonniger, warmer Frühlingstag, als amerikanische Panzer am 14. April 1945 auf die Stadt vorrückten. Vom Luftkrieg war Bernburg weitgehend verschont geblieben, nur in der Nähe des Bahnhofs waren drei Tage zuvor Bomben gefallen. 105 Tote waren zu beklagen. In letzter Minuten hatte ein SS-Kommando die moderne Stahlbetonbrücke am Markt gesprengt, die Berg- und Talstadt verband. Auch die Brücke der Reichsbahn und die Annenbrücke, über die der Fernverkehr lief, flogen in die Luft. Die Trümmer lagen jetzt in der Saale. Alle Nazigrößen hatten sich abgesetzt, Kreisleiter Himmerich hatte sein Sparkassenkonto geräumt und seine Familie in Sicherheit gebracht.

Während die Bergstadt schon besetzt war, versuchte Ortsgruppenleiter Dreyer, Hausmeister in der Waldauer Schule, die von Westen gegen die Talstadt vorrückenden Amerikaner mit Panzersperren und Volkssturmmännern aufzuhalten. In der Nacht bauten mutige Anwohner, Männer und Frauen gemeinsam, die sinnlosen Barrikaden wieder ab, um Blutvergießen zu verhindern. Auch in der Talstadt hängten die Leute nun weiße Laken und Handtücher zum Zeichen der Kapitulation aus den Fenstern. Am nächsten Morgen wurde der Durchhalte-Nazi Dreyer festgenommen und musste unter dem Jubel der Bürger die Breite Straße hinunter vor einem Panzer herlaufen.

Oberbürgermeister Max Eggert, ein alter NS-Kämpfer, wurde im Rathaus gefangen genommen. Der US-amerikanische Stadtkommandant Major Ross M. Stribling und sein Stellvertreter Captain Wallden Moore regierten jetzt in Bernburg. Als Erstes wurden alle NS-Gesetze außer Kraft gesetzt. Amtssprache war ab sofort Englisch. Zehn Bürger, die gut Englisch sprachen, wurden als Dolmetscher verpflichtet. Auf Empfehlung von vier Pfarrern ernannte Major Stribling den politisch unbelasteten Kohlenhändler Reinhold Hey zum Oberbürgermeister.

Am 17. April hingen in der Stadt handgemalte Plakate: »Achtung! Waffen aller Art und Munition sind bis heute 18 Uhr auf dem Waisenhausplatz abzuliefern, Hausdurchsuchung wird vorgenommen. Aerztl. Betreuung u. Lebensmittelversorgung führt die amerikanische Besatzung durch. Plünderungen u. jedes Vergehen gegen die amerikanische Besatzung wird mit dem Tode bestraft.« Und am 2. Mai rief Oberbürgermeister Hey im Namen des »Hauptquartiers Bernburg« alle Wehrmachtsangehörigen auf, sich am 3. Mai 9 Uhr »zwecks sofortigen Abtransports in ein Kriegsgefangenenlager« auf dem Rathaushof einzufinden. »Zuwiderhandelnde werden als Spione behandelt werden.«

Wenig später ging es schon wieder ziviler zu in der Stadt. Mit Genehmigung der Militärverwaltung erschien die »Bernburger Zeitung«, in der zahllose Tauschanzeigen zu lesen waren: ein Fahrrad gegen einen Herrenanzug, ein Klavier gegen ein Kaffee- und Speiseservice, ein Fahrradschlauch gegen Damenunterwäsche, ein Motorrad gegen ein Radio, ein Kleiderschrank gegen einen Kinderwagen, Einweckgläser gegen Schuhe, ein Fleischwolf gegen einen Handwagen.

Das Leben in der Stadt normalisierte sich langsam, nur die gesprengten Brücken waren ein Problem; zwischen Papierfabrik und Schlossufer verkehrten kleine Fähren für Personen und Wagen. Der Eisenbahnverkehr war unterbrochen, Bernburg war Kopfbahnhof geworden. Die Geschäfte waren geöffnet, die Handwerksbetriebe arbeiteten wieder. Am 24. Juni versammelte sich ein 62-köpfiger »Vertrauensrat« als vorläufige Bürgervertretung, der als erste Maßnahme die Stadt in 16 »Lebensmittelbezirke« aufteilte und Verteilstellen für Lebensmittelkarten festlegte. Die Tagesration pro Person: 350 Gramm Brot, 300 Gramm Kartoffeln, 20 Gramm Zucker, 30 Gramm Marmelade, 25 Gramm Fleisch, 10 Gramm Fett. Die Notlage musste verwaltet werden. Auch Heizmaterial war knapp. Die Rationen an Braunkohle und Briketts reichten in den eiskalten Nachkriegswintern nicht aus. Im Busch, einem Wäldchen an der Röße, in Parks und auf Friedhöfen wurden Bäume abgesägt und zu Feuerholz zerhackt.

Ende Juni 1945 machte plötzlich das Gerücht die Runde, die Amerikaner würden zugunsten der Russen abziehen. Was viele nicht glauben konnten, geschah. Wie auf der Konferenz der Siegermächte in Jalta festgelegt, räumte die US-Army Sachsen-Anhalt. Ein Flugblatt der KPD begrüßte die sowjetischen Soldaten hymnisch: »Fahnen heraus zum Empfang der siegreichen Roten Armee! Zum Schrecken der Nazis, den Halben und Lauen zum Trotz marschiert nunmehr in Ablösung der amerikanischen Besatzungstruppen die siegreiche Rote Armee in Bernburg ein.« Am 1. Juli erschienen die ersten russischen Soldaten. Mit gepanzerten Fahrzeugen, auf Pferdewagen und zu Fuß rückten sie in die ehemalige Wehrmachtskaserne oberhalb der Röße, einem Altwasser der Saale, ein. Oberstleutnant Machrow übernahm als Militärkommandant die Diensträume seines amerikanischen Kollegen in der Franzkaserne.

Anders als den Amerikanern war den Rotarmisten Kontakt zur Bevölkerung strikt verboten. Deutsche, die sich nicht an diese Regeln hielten, wurden schwer bestraft. Der Likörfabrikant Werner Damm musste 3000 Reichsmark zahlen, weil er gegen die Vorschrift verstoßen hatte, »an sowjetische Soldaten keine Spirituosen zu verkaufen«. Kinder, die im Winter auf der zugefrorenen Röße Schlittschuh liefen, konnten beobachten, wie russische Soldaten, die offenbar zu spät vom Ausgang zurückkehrten, hinter dem Schlagbaum die ansteigende Kasernenstraße hinaufgeprügelt wurden. Später durften einfache Soldaten nur in Begleitung eines Offiziers zum Einkaufen in die Stadt. Im »Haus der Freundschaft«, das Deutschen und Sowjets als Begegnungsstätte dienen sollte, spielten Tanzkapellen, aber die Bernburger tanzten dort unter sich.

Vor dem Krieg hatte Bernburg 35 000 Einwohner. Durch Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten war die Zahl 1946 auf 49500 hochgeschnellt. 1947 wurden schon 57884 Einwohner gezählt, jeder Dritte war Umsiedler. Die fünf »Umsiedlerlager« in der Stadt waren überfüllt. Ende August 1945 erließ die Militärverwaltung die Verordnung über die »Einquartierung von Ostflüchtlingen«. Die kommunale Wohnraumlenkung entschied, in welchem Haus noch Platz für Flüchtlinge war. Die Familien mussten zusammenrücken.

Zahlreiche Straßennamen wurden der neuen Zeit angepasst. Vor der Nazi-Herrschaft hieß eine der beliebten Geschäftsstraßen mit dem »Lili«, dem »Linden-Lichtspieltheater«, Lindenstraße. Die nächsten zwölf Jahre war es die »Adolf-Hitler-Straße«, nun wieder Lindenstraße und später »Wilhelm-Pieck-Straße«, um den ersten Präsidenten der DDR zu ehren. Heute ist es wieder die Lindenstraße. Aus dem Karlsplatz wurde der Rathausplatz, das Bismarck-Denkmal blieb vorerst stehen. Dann wurde es abgerissen und durch ein Marx-Engels-Denkmal ersetzt, der Platz wurde entsprechend umgetauft. Die traditionelle Einkaufmeile Wilhelmstraße, die sich von der Hauptpost zur Saale hinunterwindet, wurde nun zur »Stalin-Straße«. Nach dem Tod des sowjetischen Diktators wurde daraus die »Thälmann-Straße«. Aus der Augustwurde die Leninstraße und aus dem Martinsplatz der »Platz der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft«.

Nach dem Einzug der Roten Armee machte ein Mann Karriere, der die Bürger staunen und zittern ließ: Alfred Rieck, der erste Polizeichef im Nachkriegs-Bernburg. Der angebliche NS-Verfolgte sagte von sich, er sei von den Nazis als KPD-Mitglied wegen Vorbereitung zum Hochverrat ins KZ Oranienburg verschleppt worden, bei einem Transport ins KZ Dachau sei ihm jedoch die Flucht gelungen, und er habe seitdem im Untergrund gelebt. Rieck stand unter dem besonderen Schutz des gefürchteten sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Schon bald gingen bei Bürgermeister Rudolf Eberhard, der am 5. September sein Amt übernommen hatte, Beschwerden über willkürliche nächtliche Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Beutezüge der Rieck-Polizisten ein. Bürgermeister Eberhard bat die Landespolizei in Dessau um Amtshilfe. Und wenig später stand nach den Aussagen ehemaliger KZ-Häftlinge in Leipzig fest, dass Rieck als Krimineller im KZ gesessen hatte – wegen Diebstahls, Betrugs, Hehlerei und Zuhälterei vor der Nazizeit mehrfach verurteilt. Im Januar 1933 hatte er bei einem Raubüberfall einen Bankangestellten schwer verletzt und war zu zehn Jahren Haft verurteilt worden.

Der russische Stadtkommandant enthob Rieck seines Amtes und ließ ihn verhaften. Der örtliche NKWD-Chef holte ihn jedoch wieder aus dem Gefängnis, und Rieck konnte sein Schreckensregime fortsetzen. Kein Ruhmesblatt für die Militärverwaltung. Doch im Januar 1946 wurde er wegen Missbrauchs der Dienstgeschäfte endgültig entlassen. Mehrmals kam er wieder in Haft.

Plakate mit öffentlichen Bekanntmachungen der Militärverwaltung und des Bürgermeisters, die überall in der Stadt ausgehängt wurden, illustrieren den Alltag im Nachkriegs-Bernburg. So wurden an unterschiedlichen Tagen unter anderem die Abgabe von Tabakwaren, Weihnachtskerzen, Rasierseife, Zündhölzern und Einkellerungskartoffeln angekündigt. Halter von Hühnern, Enten und Gänsen wurden verpflichtet,...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2. Weltkrieg • Deutsche Geschichte • Erinnerungen • Nachkriegszeit • Zeitgeschichte
ISBN-13 9783958901049 / 9783958901049
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