Ein deutsches Leben (eBook)
205 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-141-4 (ISBN)
Thore D. Hansen, Politikwissenschaftler und Soziologe, arbeitete erfolgreich als Wirtschaftsjournalist und Kommunikationsberater. Der Spezialist für internationale Politik und Geheimdienstarbeit ist gefragter Experte in den Medien und Autor futuristischer Polit-Thriller wie 'Silent Control' und 'Quantum Dawn'.
Thore D. Hansen, Politikwissenschaftler und Soziologe, arbeitete erfolgreich als Wirtschaftsjournalist und Kommunikationsberater. Der Spezialist für internationale Politik und Geheimdienstarbeit ist gefragter Experte in den Medien und Autor futuristischer Polit-Thriller wie "Silent Control" und "Quantum Dawn".
VORWORT
Von Thore D. Hansen
Brunhilde Pomsel kam einem der größten Verbrecher der Geschichte so nah wie nur wenige Menschen ihrer Zeit. Sie war im Propagandaministerium unter Joseph Goebbels Stenotypistin und Sekretärin. Kurz nach der Machtübernahme Adolf Hitlers trat sie zunächst in die NSDAP ein, um sich eine Stelle beim Reichsrundfunk zu sichern. 1942 wechselte sie in das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda und geriet so bis zur Kapitulation Berlins im Mai 1945 ins Vorzimmer von Hitlers Propagandaminister und mitten in die Führungselite des Nationalsozialismus. Noch in den letzten Kriegstagen, als die sowjetischen Truppen bereits in den Straßen Berlins standen, tippte sie im Bunker Schriftsätze und nähte sogar die Fahne der offiziellen Kapitulation Berlins, anstatt eine Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. Über sieben Jahrzehnte hat sie geschwiegen.
In ihrem Dokumentarfilm Ein deutsches Leben haben die Filmemacher Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer und Florian Weigensamer Brunhilde Pomsel vor die Kamera geholt und sie in eindrucksvoll ausgeleuchteten Schwarz-Weiß-Bildern aus ihrem Leben erzählen lassen. Ihre späte Erzählung wirkt befremdlich und faszinierend zugleich. Auf diesen 2013 aufgezeichneten Erinnerungen fußt dieses Buch. Sie wurden hierfür vom Autor chronologisch geordnet und behutsam dort korrigiert, wo es gesprochene Sprache und Grammatik erforderlich machten.
Brunhilde Pomsels Erzählungen beginnen mit ihrer Kindheit in Berlin, wo sie 1911 geboren wurde. Sie handeln vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dem wortkargen Vater, der 1918 unverletzt aus Russland zurückkehrt, der strengen Erziehung, die sie als ältere Schwester von vier Brüdern erlebt hat und die sie nachhaltig prägte. Der Vater war ein verschlossener Mann, über Politik wurde zu Hause nicht gesprochen. Brunhilde Pomsel wuchs in einem der bessergestellten Stadtteile Berlins auf. Die Familie konnte sich vergleichsweise gut ernähren, während im Rest Berlins, wie in ganz Deutschland, die materielle Lage breiter Bevölkerungsschichten äußerst prekär war. Unruhen durchzogen das Land, die politisch extremen Gegensätze von protestierenden Kommunisten und Nationalsozialisten bestimmten das Straßenbild, es kam zu immer mehr gewalttätigen Auseinandersetzungen. Doch im Berliner Stadtteil Südende, einem Viertel mit vielen Villen, war davon relativ wenig zu spüren.
Ihre gleichgültige Haltung gegenüber der neuen Bewegung der NSDAP erscheint Brunhilde Pomsel in der Nachbetrachtung als ausschlaggebend für ihre Karriere. Ihre Sommerliebe Heinz machte sie Ende 1932 mit einem verdienten Offizier des Ersten Weltkrieges bekannt. Diese Begegnung entpuppte sich als schicksalhaft für die junge Frau. Es ist Wulf Bley, späterer Rundfunkreporter und Parteimitglied der ersten Stunde, der sie unter seine Fittiche nimmt – ausgerechnet der Mann, der als Reporter unter schwülstigen Worten nach dem Sieg der NSDAP im März 1933 den Fackelzug im Beisein der gesamten Elite der Nazis kommentieren wird. Kurz nach Hitlers Machtergreifung holte er Brunhilde Pomsel ans Deutsche Theater, wo der verhinderte Schriftsteller Bley als Dramaturg kläglich versagte. Schließlich bekam er als NSDAP-Mitglied die nächste Gelegenheit, einen Posten einzunehmen, und forderte Pomsel auf, in die Partei einzutreten, damit er sie als seine Sekretärin mit in den Reichsrundfunk nehmen könne. Der Rundfunk war von den Nazis längst gesäubert worden, sämtliche jüdischen Direktoren waren entlassen und mit Berufsverbot belegt worden.
Nur kurze Zeit später wurde Wulf Bley abermals versetzt, aber für Brunhilde Pomsel war die Begegnung mit diesem Mann der Beginn eines Aufstiegs, der sie in den inneren Zirkel der Macht bringen sollte – der Beginn einer außergewöhnlichen Biografie, die sie erst im biblischen Alter erzählen mag.
Während ihr in den vergangenen 70 Jahren viele Erinnerungen abhandengekommen sind, bleiben ihr zentrale Ereignisse und Wendepunkte bildhaft im Gedächtnis. Diese Ausschnitte eines bewegten Lebens, aber auch die Art und Weise, wie Brunhilde Pomsel mit ihren Erfahrungen im Rundfunk und später im Propagandaministerium umgeht, sind nicht frei von erheblichen Widersprüchen. Immer wieder erreicht man Stellen, an denen sie einem etwas vorenthält, um es andernorts doch einzugestehen – und genau darin liegt der Reiz, ihrer Erzählung zu folgen.
Die Geschichte von Brunhilde Pomsel dient nicht dazu, neue historische Erkenntnisse zu gewinnen. Sie gibt vielmehr einen offenen Einblick in die Eigenschaften einer damaligen Mitläuferin und ist damit zwangsläufig auch eine Warnung an die Menschen unserer Zeit – an uns alle. Es ist kaum noch zu bestreiten, dass wir uns jetzt – wie damals – mitten in einer Situation befinden, in der antidemokratische Tendenzen und rechter Populismus dort angekommen sind, wo sie für eine Gesellschaft und ein demokratisches System gefährlich werden: nämlich in der Mitte der Bevölkerung.
Die politisch-soziologischen Analysen widmen sich spätestens seit 2015 aufgeregt der Frage, wie es sein kann, dass es in Europa und auch in den USA wieder salonfähig geworden ist, rechtes Gedankengut von sich zu geben, pauschal Gruppen als Sündenböcke zu diskriminieren und Übergriffe gegen Minderheiten wie Kriegsflüchtlinge zu dulden. Mit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein Mann an die Spitze gelangt, der den Populisten in Europa weiteren Auftrieb gibt, da er mit ähnlichen Parolen und vereinfachenden Lösungen in einer hochkomplexen Welt seine Wähler mobilisieren konnte, während über 40 Prozent der US-Bevölkerung erst gar nicht zur Wahl gingen.
In zahlreichen westlichen Staaten wird wieder nach einer starken »Führung« gerufen, ohne einem breiten Protest zu begegnen. Bedienen sich Populisten und Faschisten abermals der Mitläufer, der schweigenden Masse, um die Demokratie zu verdrängen?
Brunhilde Pomsel interessierte sich nicht für Politik. Ihr ging der Job vor, ihre materielle Sicherheit, ihr Pflichtgefühl gegenüber den Vorgesetzten, das Bedürfnis dazuzugehören. Bildhaft und intim beschreibt sie ihren Werdegang. Eine persönliche Schuld an den Verbrechen des nationalsozialistischen Systems weist sie von sich.
Nur selten waren nach den Premieren von Ein deutsches Leben in Israel und San Francisco jedoch verächtliche Stimmen oder Schuldzuweisungen zu hören. »Hut ab vor dem, der von sich mit Sicherheit behaupten kann, er hätte nicht mitgemacht«, so die Feststellung einer Korrespondentin der Frankfurter Rundschau.
Anstatt eine Verurteilung von Brunhilde Pomsels Leben hervorzurufen, löste der Dokumentarfilm bei den Zuschauern überwiegend Fragen über unsere Zeit aus. Wiederholen sich die dunklen Dreißigerjahre? Sind unsere Angst, Ignoranz und Passivität am Ende für das Erstarken der neuen Rechten verantwortlich? Einige Jahrzehnte nahmen wir an, dass das Gespenst des Faschismus überwunden sei. Aber Brunhilde Pomsel macht uns klar: Das ist nicht der Fall. Pomsels erstaunlich klar gefassten Beschreibungen des harmlosen Alltags inmitten der Kriegszeit, ihrem Aufstieg als »unpolitisches Mädchen«, ihrer emotionalen Distanz zur Realität werden im Film Goebbels-Zitate, Leichenberge, Skelettgestalten von befreiten Juden aus den Konzentrationslagern, Propagandamaterial und andere entlarvende Aspekte des Nazireichs kommentarlos gegenübergestellt, als harter Kontrast zu Pomsels Wahrnehmungen und Erinnerungen.
Die Assoziationen der Zuschauer, das unweigerlich einsetzende Vergleichen mit heute gaben den Anlass, in diesem Buch Pomsels Erfahrungen den Entwicklungen der Gegenwart gegenüberzustellen und zum Thema zu machen. Sind die Befürchtungen übertrieben, dass sich die Geschichte wiederholen könnte? Oder sind wir längst an einem Punkt angekommen, an dem eine neue Epoche des Faschismus oder Autoritarismus nicht mehr aufzuhalten ist? Kann uns die Geschichte von Brunhilde Pomsel Hinweise darauf geben, inwieweit die Suche nach dem persönlichen Vorteil uns ignorant werden lässt gegenüber gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen?
Um sich über Brunhilde Pomsels Biografie der Gegenwart zu nähern, muss auch der Frage nachgegangen werden, welche Verantwortung die demokratischen Eliten an der aktuellen Entwicklung tragen und ob es auch hier Parallelen zu den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts gibt.
Die Herausforderungen der Moderne in Form von Digitalisierung, Finanzkrisen, Flüchtlingswellen, Klimawandel, den sozialen Rahmenbedingungen einer vernetzten Welt und die daraus resultierenden Ängste vor Abstieg und Überfremdung führen bei Teilen der Bevölkerung zu einem Rückzug ins Private bis hin zur Radikalisierung. Auf den ersten Blick lebte Brunhilde Pomsel vor gut 70 Jahren in einer völlig anderen Zeit als wir. Sie erzählt uns von all ihren kleinen Entscheidungen, die für den Zuhörer auf den ersten Blick scheinbar logisch, vernünftig und nachvollziehbar sind – bis zu dem Punkt in ihrer Geschichte, bei dem jeder Einzelne sich fragen kann: Ja, hätte ich dann nicht auch plötzlich selbst bei Goebbels im Vorzimmer gesessen? Wie viel von Brunhilde Pomsel steckt in jedem von uns? Oder wie ein Redakteur kurz nach der Premiere des Films provozierend fragte: »Sind wir nicht alle ein wenig Pomsel?«
Und Millionen Pomsels, die stets nur an ihr eigenes Fortkommen, ihre materielle Sicherheit denken und dabei Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und Diskriminierung von anderen billigend in Kauf nehmen, sind ein solides Fundament für jedes manipulative, autoritäre System. Und damit gefährlicher als die radikale Stammwählerschaft von...
| Erscheint lt. Verlag | 27.2.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Brunnhilde Pomsel • Dokumentation • Joseph Goebbels Sekretärin • Nationalsozialismus • Traudel Junge "Bis zur letzten Stunde • Traudel Junge "Bis zur letzten Stunde" |
| ISBN-10 | 3-95890-141-7 / 3958901417 |
| ISBN-13 | 978-3-95890-141-4 / 9783958901414 |
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