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Der barfüßige Anwalt (eBook)

Ein Bericht aus dem Gefängnis China
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-03651-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der barfüßige Anwalt -  Chen Guangcheng
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Chen Guangchengs Fall ging um die Welt, aber kaum jemand im Westen weiß, wie außerordentlich sein Leben wirklich ist. Als kleines Kind verlor der Sohn armer Bauern sein Augenlicht. Im Teenageralter erkämpfte er sich den Zugang zu einer Blindenschule, wo er lesen und schreiben lernte. Während seines Studiums an einer Hochschule für chinesische Medizin begann er, sich für die Opfer von Behördenwillkür einzusetzen, und eignete sich dazu autodidaktisch juristisches Fachwissen an. Vor allem kämpfte er gegen die brutalen Methoden, mit denen die Ein-Kind-Politik durchgesetzt wird: Frauen zwingt man zu Spätabtreibungen und Sterilisierungen; Widerstand wird mit Prügel, Folter und Haft gebrochen. Chen selbst wurde immer wieder misshandelt, zu Hausarrest und Gefängnis verurteilt. Sein Buch legt Zeugnis davon ab, wie ein Einzelner kraft seines unbeugsamen Willens den Kampf gegen die repressive Politik einer Supermacht aufnimmt und besteht.

Chen Guangcheng, geboren 1971 in dem Dorf Dongshigu, wurde wegen seines Einsatzes für die Rechte der chinesischen Landbevölkerung als «barfüßiger Anwalt» bekannt. Seine abenteuerliche Flucht aus dem Hausarrest sorgte weltweit für Aufsehen. Heute lebt er mit seiner Frau und den zwei Kindern in der Nähe von Washington, D.C.

Chen Guangcheng, geboren 1971 in dem Dorf Dongshigu, wurde wegen seines Einsatzes für die Rechte der chinesischen Landbevölkerung als «barfüßiger Anwalt» bekannt. Seine abenteuerliche Flucht aus dem Hausarrest sorgte weltweit für Aufsehen. Heute lebt er mit seiner Frau und den zwei Kindern in der Nähe von Washington, D.C.

Prolog Flucht


Wir beobachteten sie, während sie uns beobachteten. Wir prägten uns ihre Bewegungen und Gewohnheiten ein. Seit mehr als einem Jahr planten wir meine Flucht. Wir gingen jedes Detail wieder und wieder durch. Wir flüsterten nur, wir hauchten die Worte, weil wir davon ausgehen mussten, dass das Haus verwanzt war und unsere Geiselnehmer alles mithörten, was wir sagten.

Ich musste unbedingt aus dem Dorf herauskommen – aus dem Haus, das einmal mein Heim gewesen war und sich in eine private Hölle verwandelt hatte. Ich musste an den siebzig oder mehr Wachen vorbeikommen, die das Haus belagerten und jeden Ausgang versperrten. «Zu Hause wird es auch nicht besser sein als im Gefängnis», hatte mir ein Wärter gesagt, kurz nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen worden war. Über vier Jahre hatte ich dort verbracht. Er hatte recht: Seitdem ich nach Dongshigu zurückgekehrt war, stand ich unter unmenschlichem Hausarrest – ein Epizentrum des riesigen Gefängnisses, in das sich China verwandelt hatte.

Ich hatte schon viele Male versucht, aus dem Haus zu fliehen. Meine Frau Weijing und ich diskutierten und stritten endlos über Risiken und Vorteile jedes einzelnen Plans, und ich ging alle möglichen Fluchtwege wieder und wieder in Gedanken durch. Ich musste unbedingt entkommen: Nicht nur mein seelisches Befinden, sondern mein Leben hing davon ab.

Ich war schwerkrank aus dem Gefängnis zurückgekehrt, durfte jedoch keinen Arzt aufsuchen, ja nicht einmal mit einem sprechen. Ich war in meinem eigenen Haus praktisch vollkommen isoliert. Niemand wurde zu mir gelassen, ich erhielt keine Nachrichten, durfte nicht vor die Tür gehen und keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Ich litt unter schwerem Durchfall, hatte oft Blut im Stuhl und war ständig erschöpft. Mittlerweile verbrachte ich die Hälfte des Tages im Bett, weil ich zu schwach war, um mich zu bewegen. Sollte ich sterben, würden die Behörden erklären, ich sei zu Hause in meinem Bett an dieser oder jener Krankheit gestorben. Wer würde je erfahren, was wirklich geschehen war? Allein meine Entschlossenheit hielt mich am Leben.

Am 20. April 2012 ruhten Weijing und ich am Vormittag im Hauptraum des Hauses aus. Das Haus war eines von vier kleinen Gebäuden, welche rund um einen nicht gepflasterten Hof standen und die Wohnanlage unserer Familie bildeten. Vor einigen Tagen hatten wir bemerkt, dass der Hund der Nachbarn fort war. Ein Hund ist gefährlicher als hundert Wächter. Jetzt, da er nicht mehr da war, konzentrierten wir uns auf einen Fluchtweg, der an der Ostseite des Nachbarhauses vorbeiführen würde.

Wie an jedem Morgen folgte ich der Route im Geist. Ich stellte mir jede Einzelheit vor – wo genau ich abbiegen würde, wie weit Dinge voneinander entfernt waren, wo Mauern verliefen, all die Kleinigkeiten, die sich Weijing im Lauf der Monate bei ihren täglichen Erledigungen eingeprägt hatte. Nur wir beide wussten von dem Plan, obwohl wir uns darin einig waren, dass ich, wenn es gelang, an den Wachen vorbeizukommen, versuchen musste, im Dorf Hilfe bei einem engen Kindheitsfreund oder einem befreundeten Zimmermann zu suchen. Beide wohnten an meinem Fluchtweg, aber wir hatten keine Möglichkeit, mit jemandem außerhalb des Hauses zu kommunizieren. Es wäre sogar zu gefährlich gewesen, meine Mutter einzuweihen, die jeden Gedanken an eine Flucht ablehnte.

Weijing und ich hatten oft darüber gesprochen, wie ich ihr mitteilen konnte, dass ich mich in Sicherheit befand, sollte mir die Flucht gelingen. Wir konnten weder schriftlich noch mündlich kommunizieren. Die einzige Möglichkeit war, eine verschlüsselte Botschaft zu schicken. Schließlich beschlossen wir, dass ich jemanden mit sechs Äpfeln zu ihr schicken würde, sollte ich lebend hinauskommen. Im Chinesischen kann das Wort für «sechs» auch «Erfolg» bedeuten, und das Wort «Apfel» klingt so wie «sicher». Ich malte mir aus, wie jemand meiner Frau sechs große rote Äpfel überbringen würde. Und wenn es keine Äpfel gab, würde ich ihr sechs Stück von etwas anderem schicken, damit sie wusste, dass ich frei war.

Den ganzen Vormittag spähte Weijing aus den Fenstern und beobachtete die Wachen. Sie wartete auf die richtige Gelegenheit. Am Morgen war sie auf dem Dach des flachen Küchengebäudes gewesen, wo wir Mais trockneten und unsere Wäsche aufhängten, und hatte bemerkt, dass das Auto des Kommandanten der Wacheinheit fort war. Normalerweise waren in unserem Hof sechs Wachen stationiert, die auf kleinen Stühlen vor unserer Haustür saßen. An diesem Tag hatten sich die Wachen jedoch in der Nähe des Hoftors niedergelassen, und nur zwei von ihnen hatten die Haustür direkt im Blick. Kurz vor elf Uhr war es so weit. Der Wärter, der am nächsten beim Haus saß, stand langsam auf und ging hinaus. Er hatte einen Teebecher in der Hand, den er mit heißem Wasser aus einer der Thermoskannen füllen wollte, die die Wachen draußen auf der Straße aufbewahrten. Er schien keine Eile zu haben. Auf dem Weg würde er für wenige Sekunden seinem Kollegen den Blick auf die Tür verstellen. In diesem Augenblick musste ich hinausspringen und durch den Hof zur etwa fünf Meter entfernten Ostmauer laufen. Nach einem Moment würde der Wärter die Tür wieder im Blick haben.

«Los!», flüsterte Weijing und drückte meinen Arm. Ich folgte ihr durch die Tür und ging mit schnellen, behutsamen Schritten durch den Hof, überholte sie und huschte an den alten Mühlsteinen vorbei, mit denen wir Getreide und andere Nahrungsmittel mahlten. Ich erreichte eine Steintreppe, die außerhalb des Gesichtsfelds der Wärter lag. Heftig atmend stand ich am Fuß der sechs grob aus dem Stein gehauenen Stufen. Ich lauschte angestrengt auf ein Zeichen dafür, dass die Wachen unruhig waren oder etwas bemerkt hatten.

Mein Herz raste. Das Knacken eines brechenden Zweigs konnte mich verraten; die Folge wäre eine weitere Runde von Schlägen oder Schlimmeres. Weijing hatte in letzter Zeit alle möglichen Hindernisse auf meinem Fluchtweg eingesammelt, wobei sie stets darauf achten musste, nicht zu viele Dinge auf einmal aufzuheben, um keinen Verdacht zu erregen. Jeder Stein, jedes Ästchen, ein Blatt, ein Wassereimer oder eine Pfanne konnten ein Geräusch machen, das mich verraten würde.

Ich stand bei der Treppe und hörte, wie Weijing trockenes Laub und Gras von dem wenige Schritte entfernten Holzstapel klaubte und in die Küche zurückkehrte, um Feuer zu machen. Der Wärter war mit gefülltem Teebecher zurückgekehrt und plauderte mit seinen Kollegen. Weijing kam erneut aus dem Küchengebäude und trat an den Wasserhahn im Hof, um den Kessel zu füllen – all das tat sie natürlich nur, um die Wärter abzulenken –, und kurz darauf hörte ich den metallischen Klang, als sie den Kessel auf den Ofen stellte. Weijing kam erneut heraus und ging zu dem Holzstapel zurück, um größere Stöcke und Äste zu holen. Jedes Mal, wenn sie an mir vorbeiging, flüsterte sie mir zu, was sie gerade sah. Für den Augenblick war ich in Sicherheit.

Ich rührte mich nicht. Weijing war sehr nervös, aber nachdem ich es durch den innersten Ring von Wachen geschafft hatte, konnte ich nicht mehr aufgeben. «Wir müssen weiter», flüsterte ich. «Es muss klappen.»

Als Weijing das nächste Mal aus dem Haupthaus kam, hatte sie Wäsche auf dem Arm. Im Vorbeigehen flüsterte sie mir zu: «Ich gehe hinauf, um mich umzusehen.» Sie würde auf das Flachdach des Küchengebäudes steigen, von wo aus sie alle Bewegungen rund um unseren Hof sehen konnte. In den vergangenen Monaten hatte sie unter verschiedensten Vorwänden zahllose Stunden dort verbracht, um meinen Fluchtweg auszuspähen. Die «Kastenhäuser» erfreuten sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit in unserem Dorf, jetzt erwies sich das Flachdach als sehr nützlich.

Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück und flüsterte mir zu, ich könne hinaufschleichen. Inzwischen atmete ich wieder ruhiger und hatte meine Nerven besser im Griff. Leise stieg ich die Stufen, die meine Füße genau kannten, hinauf. Oben angekommen, kroch ich auf der Ostmauer unseres Hofs unter dem Dach des Küchengebäudes entlang. Im Osten, jenseits der angrenzenden Höfe der Nachbarn, wartete die Freiheit.

Zum Glück kannte ich jeden Zoll des Hofs meiner Nachbarn, ich hatte mir längst jedes Detail eingeprägt. Ich wusste, dass mich die Wachen, die in einer Entfernung von nur sieben Metern im Umkreis meines Hauses patrouillierten, sehen konnten, wenn ich auf die Mauer kletterte. Also duckte ich mich und bewegte mich langsam vorwärts. Ich fand die von Weijing erwähnte Flasche, die die Wachen als Hindernis auf der Mauer platziert hatten, und stellte sie ein Stück zur Seite, bevor ich mich über die Mauer schob. Dann stellte ich die Flasche wieder an ihren Platz zurück, um keinen Verdacht zu wecken, und ließ mich in dem schmalen Gang zwischen der Mauer und der Seitenwand des Nachbarhauses in den Hof hinab.

Ich krabbelte so rasch wie möglich am Haus der Nachbarin vorbei zu den Betonstufen, die zum Dach ihres Küchengebäudes hinaufführten, das an einer ganz ähnlichen Stelle stand wie unseres. Jetzt musste ich auf eine andere Gruppe von Wachen achten, die außerhalb des Nachbarhofs postiert waren und mich unter Umständen durch einen Spalt im Hoftor erspähen konnten. Vom Dach der Küche kletterte ich auf die Ostmauer, von wo aus ich in den Garten des zweiten Nachbarn hinabsteigen wollte. Auf diese Art würde ich Mauer für Mauer überwinden und einen Hof nach dem anderen durchqueren, um den Cordon der Wachen zu überwinden. Ich trug nichts bei mir, aber im Geiste sah ich jedes Detail des Fluchtwegs klar vor mir.

Ich begann, die Treppe im Hof meiner Nachbarin...

Erscheint lt. Verlag 27.3.2015
Übersetzer Stephan Gebauer
Zusatzinfo Zahlr. 4-farb. Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Blinder • China • Flucht • Gerechtigkeit • Hausarrest • Menschenrechtsaktivist • Pressefreiheit • Zeugnis
ISBN-10 3-644-03651-9 / 3644036519
ISBN-13 978-3-644-03651-2 / 9783644036512
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