Wer hat Angst vor Niketown (eBook)
125 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73775-0 (ISBN)
Friedrich von Borries, geboren 1974 in Berlin, ist Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK). Er war Generalkommissar des Deutschen Beitrags auf der XI. Architekturbiennale in Venedig. Als Wissenschaftler und Gestalter agiert er in den gesellschaftspolitischen Grenzbereichen von Architektur, Design und Kunst.
Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
Inhalt 5
Einleitung 7
Nike-Urbanismus – Berlin auf dem Weg nach Niketown 11
Bolzplatz 12
Bezirksbattle 13
Subground-Battle 14
Secret Tournament 16
Scorpion K.o. 18
Nike-Park 19
Nike-Palace 21
Niketown 22
Just do it – Marke, Erlebnis, Identität 35
Markenphilosophie 35
Was ist Nike? 37
Das Leben als Erlebnis 40
Flexible Identität 45
Swooshtika Rulez – Widerstand, Camouflage und Kollaboration 51
Der Trickster 51
Camouflage 54
Brand-Hacking und Markensabotage 64
Kollaboration 69
Corporate Situationism – Die letzten Utopien und ihr Fake 77
Eine andere Stadt für ein anderes Leben 78
Détournement und Fake als Marketingillusion 81
Learning from Niketown – Die Markenstadt und ihre Traummeister 89
Vom Themenpark zur Markenstadt 89
Die Traummeister des Erlebnisfunktionalismus 99
Countercamouflage und Radikalopportunismus 105
Freiwillig Gefangene – Postskriptum zur Markenstadt 109
Persönlichkeit und Identität werden zur Ware und veräußern sich selbst 110
Marketing manipuliert soziale Prozesse 112
Marketing imitiert Widerständigkeit und Protest 114
Protestbewegung passen sich der Verwertungslogik an 116
I would prefer not to 118
Literaturverzeichnis 121
Just do it – Marke, Erlebnis, Identität
Markenphilosophie
Seit 1988 setzt Nike auf den Just do it-Slogan, der bis heute die Hauptbotschaft, der core value, der Marke ist. In Just do it, einem der bekanntesten Werbeslogans der Welt, drückt sich die gesamte Bandbreite von Nikes Markenidentität aus. So wie die Niketown das Ideal einer freien, sportlichen Stadt verkörpert, ist der Slogan Just do it der Aufruf zu einem neuen Selbstverständnis, dem Nike Way of Life: Der Slogan steht für das Ausbrechen aus dem Alltag, für die Freiheit, das zu tun, was man möchte. Just do it, der Spirit von Nike, bedeutet kämpfen und siegen, auch dann, wenn es unmöglich erscheint.
Zur Bedeutung des Slogans schreibt das Unternehmen auf seiner Webseite: »It became both universal and intensely personal. It spoke of sports. It invited dreams. It was a call to action, a refusal to hear excuses, and a license to be eccentric, courageous and exceptional. It was Nike. This campaign […] became part of America’s history.« Dementsprechend sind die Helden von Nike nicht nur Sportler wie Michael Jordan, die in ihrer Sportart an physische Grenzen gehen, sondern auch Sportler wie die australische Sprinterin Cathy Freeman, eine Angehörige der Aborigines, die durch ihre sportlichen Leistungen soziale Schranken überwinden. Im Sinne von Just do it können außerdem nicht nur Spitzensportler Nike-Helden sein, sondern zum Beispiel auch Rollstuhlfahrer oder ein alter Mann, der mit achtzig Jahren noch jeden Tag joggen geht (Goldman/Papson 1998, S. 3 und S. 20). Denn den Nike-Spirit zu leben heißt, das Land jenseits der eigenen Grenzen zu erreichen. Und Just do it heißt, dass das jeder schaffen kann. Just do it ist die Behauptung, sich von den selbstauferlegten Fesseln befreien zu können. Die reglementierte Stadt ist dabei der Referenzpunkt, von dem es sich zu lösen gilt. So zeigte ein Werbespot aus der Mitte der neunziger Jahre Andre Agassi und Pete Sampras bei einem wilden Tennismatch auf der 5th Avenue. Die normale Funktionsweise der Stadt wird dafür aufgehoben, die Logik des Alltags durchbrochen. Die Straße wird zum Tennisplatz, der Bürgersteig zur Tribüne. Agassi (das geniale Enfant terrible) und Pete Sampras (der perfektionierte Athlet) verkörpern hier unseren Traum, den Alltag hinter uns zu lassen. Sport wird im Kontrast zum alltäglichen Stadtraum als Akt der Befreiung inszeniert. Just do it. Oder, wie es in der Kampagne zur Eröffnung von Niketown Berlin 1999 hieß: »Es gibt mehr Sportplätze, als Du denkst. Einer von ihnen ist direkt unter diesem Poster.«
Sport als Befreiung vom und Sport als Widerstand gegen den Alltag sind die im popkulturellen Körperkult vereinten Markenidentitäten von Nike. Just do it zielt auf die beständige Verbesserung des Selbst, die Befreiung von der eigenen Durchschnittlichkeit, die permanente Leistungssteigerung. Just do it erlebt man durch den Sieg im Kampf gegen sich selbst und alle anderen. Just do it ist kein Werbeslogan, sondern der Wahlspruch eines wettbewerbsorientierten Lebensstils. Just do it ist zu einer »Philosophie« geworden.14
Was ist Nike?
Eine Religion, eine Ideologie oder eine politische Bewegung? Nike bietet uns einen Kult, einen Lebensstil, eine Grundhaltung an, mittels derer wir unsere Handlungsmaximen bestimmen können. Nike spricht von Revolution und propagiert das Bild einer anderen, besseren Welt. Nike ist nicht nur ein Produzent von Sportartikeln, Nike verkauft nicht nur Schuhe und Sweatshirts. Nike ist ein Angebot für mich, mich so zu erleben, wie ich gerne wäre.
Wie jede »Bewegung« hat Nike auch Führer. Der Unterschied zwischen Führern und Propheten (und damit der zwischen Bewegungen und Religionen) ist, dass die Propheten auf ein fiktives Später außerhalb der Welt verweisen, politische Führer hingegen versprechen, die gegebene Welt zu einem – vermeintlichen – Idealzustand hin zu transformieren. Michael Jordan ist kein Prophet des Basketballspielens, der uns verkündet, wie man spielen könnte, sondern er ist tatsächlich His Airness, Cathy Freeman ist wirklich schnell, und Ronaldo hat »unseren Olli« im WM-Finale 2002 »ganz schön nass gemacht«. Sie sind unsere Helden, ihnen wollen wir folgen. Sie leben uns vor, wie wir sein sollten. Sind sie damit die Führer einer Bewegung? Die Maxime dieser Bewegung heißt auf jeden Fall Just do it. Mit dem Slogan ist weltweit eine ganze Generation aufgewachsen. Diese Generation hat die Regeln unserer Gesellschaft verinnerlicht: Wer kämpft, kann alles erreichen. Es spielt keine Rolle, woher man kommt, es kommt darauf an, was man macht. Die Nike-Bewegung ist die perfekte Mischung aus zwei uramerikanischen Tugenden: dem Ethos des Einwanderers, der es vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht hat, und der protestantisch-calvinistischen Überzeugung, dass Gottes Liebe am eigenen Wohlstand und Erfolg in dieser Welt messbar ist, dass die Arbeit uns näher zu Gott bringt. Diese beiden Auffassungen sind der Kern des zeitgenössischen amerikanischen Ideals, des Ideals des freien Wettbewerbs, das sich in Nike verkörpert: Just do it, glaube an Dich selbst, sei besser als alle anderen. Nike ist, so könnte man, von diesen Überlegungen ausgehend, schließen, eine Bewegung innerhalb der Logik des konsumorientierten Kapitalismus: In einer Gesellschaft, die auf dem Prinzip Wettbewerb aufgebaut ist, muss jeder in jeder Lebenslage dafür sorgen, sein physisches und psychisches Optimum zu erreichen, also fit zu sein, um weiter konkurrieren zu können. Ich verbessere mich selbst. Ich werde ICH. Fit für den totalen Konkurrenzkampf. In diesem Sinne kann man Just do it als ideologisches Statement für den totalen Kapitalismus deuten. Gleichzeitig steht Nike für das genaue Gegenteil, denn Nike generiert den Geist des Widerstands, den Geist des Guerilleros: Ich halte mich an keine Regeln, ich mache nur das, was ich mir zum Ziel gesetzt habe – ich bin zur Welt genauso unerbittlich wie zu mir selbst.
Nike ist eine Marke. Nike will Produkte verkaufen. Dafür bietet es Identifikationsmöglichkeiten an. In diesem Identifikationsangebot spiegelt sich die grundsätzliche Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaft, und deshalb können sich so viele mit Nike identifizieren – deshalb ist Nike eine erfolgreiche Marke. Nike propagiert gleichzeitig die Grundprinzipien des Hyperkapitalismus (totale Selbstausbeutung und ständige Selbstperfektionierung) und den Widerstand gegen dieses System, gegen Reglementierung, Durchschnittlichkeit, Alltag und Langeweile. Das Leben ist Widerstand und Kampf. Im Ideal des Erlebnis-Guerilleros, des Kämpfers für und gegen sich selbst, vereint Nike den Protest gegen den Kapitalismus mit den Grundregeln der kapitalistischen Selbstausbeutung. Nike antizipiert den Widerstand, bevor er da ist. Nike ist schneller als jede Protestbewegung – schließlich müssen auch Globalisierungsgegner Turnschuhe tragen. Nike reagiert auf Grundprobleme unserer Gesellschaft, thematisiert in Werbekampagnen und urbanen Interventionen Missstände und Problemfelder – von der Funktionsweise von Stadt bis zu den Problemen benachteiligter Jugendlicher. Nike stellt eine »Philosophie« als Lösungsmodell zur Verfügung und präsentiert Vorbilder, die diese Lebenseinstellung erfolgreich leben.
Nikes Einfluss auf die Alltagskultur, auf die Entwicklung von Wertvorstellungen und Lebensmodellen ist mit dem Einfluss politischer oder religiöser Bewegungen vergleichbar. Aber Nike ist keine Religion, keine Ideologie, keine Bewegung. Nike ist eine Marke.
Das Leben als Erlebnis
Simulation ist Realität. Realität ist Simulation. Das Erlebnis ist der Moment, in dem wir uns als Ich erfahren, in dem wir unsere Individualität, unsere Einzigartigkeit, unser Sein erleben. Ich erlebe, also bin ich. Die Suche nach Erlebnissen ist zu einer unserer wichtigsten Tätigkeiten geworden, zu einem Teil unserer Alltagsarbeit. Im Mittelpunkt stehen dabei der Prozess der Individualisierung und die Frage des »Wer bin ich?« und des »Was will ich sein?«. Das »Wer bin ich?« wird mit »Was habe ich erlebt?« gleichgesetzt, das »Was will ich sein?« mit »Was kann ich noch alles erleben?«. Im Verlauf des Prozesses der Individualisierung, einem der prägendsten Trends der modernen Gesellschaft, ist eine wesentliche Verschiebung eingetreten: »Im alten Paradigma war die Welt das Gegebene, an das sich das Ich anzupassen hatte. Im neuen Paradigma hat sich dieses Verhältnis gedreht – wenn überhaupt noch etwas als gegeben betrachtet wird, dann das Ich. […] Vom weltbezogenen Subjekt zur subjektbezogenen Welt: dies ist der kulturgeschichtliche Einschnitt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts.« (Schulze 2000b, S. 3) Dieser Einschnitt ist so bedeutend, dass unsere Gesellschaft im Vergleich zu vorangegangenen Phasen der Moderne als »Erlebnisgesellschaft« beschrieben werden kann. Kennzeichen dieser Erlebnisgesellschaft ist, dass das Erlebnis seiner selbst zum Inhalt des Lebens geworden ist. »Innenorientierte Lebensauffassungen, die das Subjekt selbst ins Zentrum des Denkens und Handelns stellen, haben außenorientierte Lebensauffassungen verdrängt. Typisch für Menschen unserer Kultur ist das Projekt des schönen Lebens.« (Schulze 2000a, S. 35) In der Suche nach Glück und dem »schönen Leben« entwickeln sich neue rationale Entscheidungskriterien, die sich auf die Formel »Was kann ich erleben?« reduzieren lassen. Dabei wird das Individuum zu seinem eigenen Schöpfer und zum Erlebnismanager, wird gezwungenermaßen kreativ. »Individualisierung rückt das...
| Erscheint lt. Verlag | 19.9.2012 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Wer hat Angst vor Niketown?: Nike-Urbanismus, Branding und die Markenstadt von morgen |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Kommunikation / Medien |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Berlin • Branding • Deutschland • edition suhrkamp 2652 • ES 2652 • ES2652 • Fashion • Firma • Identität • just do it • Marke • Marketing • Marketingstrategie • Mode • Nike • Sneakers • Sozialraum • Sportmode • Stadt • Stadtleben • Urbanismus • Urbanität • Werbung |
| ISBN-10 | 3-518-73775-9 / 3518737759 |
| ISBN-13 | 978-3-518-73775-0 / 9783518737750 |
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