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Scheidungsväter (eBook)

Wie Männer die Trennung von ihren Kindern erleben
eBook Download: EPUB
2006 | 1. Auflage
308 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-40288-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Scheidungsväter -  Gerhard Amendt
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Heute wird fast jede zweite Ehe geschieden, in mehr als der Hälfte davon gibt es Kinder. Zumeist leben die Kinder dann bei der Mutter, während Väter häufig um die Zeit mit ihren Kindern kämpfen müssen: Doch dieser Kampf lohnt sich, denn Kinder brauchen ihre Väter, so wie Väter ihre Kinder.

Gerhard Amendt ist Professor am Institut für Geschlechter- und Generationenforschung an der Universität Bremen und seit 2002 emeritiert. Seit 2000 befragte er in einem Forschungsprojekt mehr als 3 600 Scheidungsväter zu ihren Erfahrungen. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zum Verhältnis der Geschlechter.

Gerhard Amendt ist Professor am Institut für Geschlechter- und Generationenforschung an der Universität Bremen und seit 2002 emeritiert. Seit 2000 befragte er in einem Forschungsprojekt mehr als 3 600 Scheidungsväter zu ihren Erfahrungen. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zum Verhältnis der Geschlechter.

Inhalt

Vorwort7

Einleitung 9

1. Scheidung einmal gesellschaftspolitisch betrachtet 21

2. Wie Männer über ihre Scheidung sprechen: fünfzehn Fallgeschichten
Scheidung per Fax - Martin W. 33
Vaterschaft nach dem Verlust der Elterlichkeit - Peter T. 44
Urlaubsvater per Gerichtsurteil - Reinhardt B. 52
Wenn die Frau für verrückt erklärt wird - Ignatz L. 59
Wenn das Jugendamt sich mit der Mutter verbündet - Friedrich H. 71
Wenn Kinder über die Beziehung entscheiden sollen - August S. 81
Last minute nach Jamaika - Klaus O. 91
"Papa, du zahlst ja keinen Unterhalt!" - Harry T. 103
Wenn die Tochter sich um den Vater kümmert - Philip M. 114
Der Missbrauchsvorwurf als Kampfstrategie - Tobias V. 127
"Ist das nicht der mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs?" - Heinz E. 135
Ungewisse Vaterschaft - Manfred S. 144
Neue Väter unerwünscht? - Berthold T. 155
Ein eigentümliches Dreiecksverhältnis - Jost D. 164
Scheidung macht krank - Günther H. 176

3. "Besuchszeit" - Wie Väter die Zeit mit ihren Kindern verbringen187

4. Was Väter dazu bringt, den Kontakt zu ihren Kindern abzubrechen223

5. Handgreiflichkeiten, Gesundheit und professionelle Hilfe251

Schluss: Neue Perspektiven in der Scheidungsdebatte278

Anmerkungen301

Wenn Kinder über die Beziehung entscheiden sollen - August S. Als August S. sich von seiner Frau trennte, war er gerade 30 Jahre alt. Heute, im Alter von 48 Jahren, beschäftigt ihn noch immer, was sich damals ereignet hat. Seine Gefühle und seine Träume werden weiterhin von der Frage beherrscht: War er ein guter Vater, war er überhaupt ein Vater und wie erlebte Daniela, seine Tochter, seine Art der Väterlichkeit? Den starken Wunsch, für seine Tochter da zu sein, hat August S. in all den Jahren seit der Scheidung nicht aufgegeben, und doch quält ihn, dass er keinen, geschweige denn einen selbstbewussten Weg gefunden hat, ihr ein Vater zu sein, den sie anerkennen kann und den sie liebt. In der Zeit nach der Trennung wurde August S. immer unsicherer, ob er Daniela, die nun bei der Mutter lebte, seine väterliche Zuneigung und Sorge überhaupt zeigen sollte und wenn ja, in welcher Form. Er sah sich vor eine wichtige Entscheidung gestellt. Doch diese für die Zukunft so bedeutsame Entscheidung traf er nicht selbst, sondern er überließ sie seiner Tochter. Sie sollte bestimmen, ob sie ihren Vater weiterhin sehen wollte. Daniela war zu dieser Zeit gerade 5 Jahre alt. Ungewöhnlich, wie diese Anforderung von August S. an seine Tochter war, hat sie sie gänzlich überfordert. So überließ er es ihr, darüber zu bestimmen, ob es für sie eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Vater geben sollte. Das Mädchen entschied sich schließlich, aus einer plötzlichen Laune heraus, wie August S. berichtet, aus Missmut oder Enttäuschung in recht kindlicher Weise für den Rückzug vom Vater. Noch achtzehn Jahre nach dieser schmerzhaften Entscheidung ist August S. in gewisser Weise stolz, dass er der Tochter mit seinem Wunsch nach Väterlichkeit nicht zu nahe getreten ist und die Entscheidung der Fünfjährigen noch immer respektiert. August S. heiratete in sehr jungen Jahren seine Jugendfreundin, von der er sagt, dass sie mit großen psychischen Problemen belastet war. Nach der Geburt von Daniela verschärfte sich die Situation immer mehr. Immer wieder kam es zu längeren Klinikaufenthalten seiner Frau. August S. übernahm die Pflege des Kindes. Schließlich wurde ihm die Belastung zu groß und er beendete die Beziehung. Nach acht Jahren wurde die Ehe geschieden. 'Zum Zeitpunkt der Trennung war Daniela 4 Jahre alt. Es waren vier Jahre, in denen ich mich überwiegend um meine Tochter gekümmert habe. Daneben gab es die Krankheitsgeschichten mit meiner Frau. Mehrere Krankenhausaufenthalte mit langen Therapien und einer Zuspitzung nach wiederholten Selbstmordversuchen, die schon Zeichen an mich gewesen sind. So habe ich das jedenfalls verstanden. Aber ich konnte damit nicht umgehen. Zu diesem Zeitpunkt war ich selber in einer begleitenden Therapie. Und als meine Frau den letzten Versuch einer eigenen Therapie gar nicht erst begonnen hatte, war das für mich ein spontaner Entschluss zu sagen: ?Ich kann diese Beziehung nicht mehr halten!? Und das war dann ein sehr spontaner Bruch, aber einer, der eine Entscheidung nach einer langen Kette von immer wieder angestrengten Bemühungen ohne Ergebnis war. Und mir war die Trennung in dieser Situation nicht anders möglich als meine Sachen zu packen und zu gehen. Daniela ist zunächst bei meiner Frau geblieben.' Die Trennung verletzte Frau S. dermaßen, dass sie nicht bereit war, an einer einvernehmlichen Besuchsregelung mitzuwirken. Weil die Gespräche darüber sich als äußerst schwierig erwiesen, überlegte August S., das alleinige Sorgerecht zu beantragen. Dass er damals zögerte, diese Entscheidung zu treffen, bewertet er nachträglich als Fehler. 'Ich wollte das alleinige Sorgerecht für mich beantragen. Es hat auf Empfehlung sowohl des Anwaltes als auch eines Psychiaters, den wir herangezogen hatten, ein Beratungsgespräch gegeben. Daran nahm auch die Patentante meiner Tochter teil, zu der inzwischen schon lange jeglicher Kontakt abgebrochen ist. Wir haben sehr eingehend beraten und haben die Gefahr letztendlich gesehen, dass gar keine Beruhigung sich einstellen wird, wenn ich das Sorgerecht beantrage, weil da mit meiner vollen Zustimmung meiner Frau Besuchsrechte einzuräumen gewesen wären. Angesichts der großen psychischen Labilität meiner geschiedenen Frau und der verrückten Möglichkeit, dass sie zum Beispiel das Kind auf der Straße aufgreifen und nicht wieder rausrücken würde und all solche Sachen, haben wir die Bedrohlichkeit sehr hoch eingeschätzt. Gleichwohl würde ich aus heutiger Sicht sagen, dass man ganz anders an eine solche Entscheidung herangehen muss, als wir das damals getan haben.' Seine zögerliche Haltung begründet August S. immer wieder mit dem psychischen Zustand seiner Exfrau. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Schwierigkeiten in seiner Beziehung zur Tochter weniger von seiner Exfrau herrühren als von seiner eigenen Unsicherheit. Er zweifelte offenbar an seiner Fähigkeit, Daniela ein hinreichend selbstbewusster Vater sein und ihr eine beschützte Kindheit bieten zu können. Sein Bestreben, sich zurückzuhalten und das Kind entscheiden zu lassen, zieht sich fortan wie ein roter Faden durch seine Beziehung zu Daniela. Nach der Trennung sieht August S. seine Tochter nicht so oft, wie er sich das gewünscht hätte. So wird der Vierzehn-Tage-Rhythmus der Besuche, wie das bei Geschiedenen sehr oft der Fall ist, nicht eingehalten, weil die Exfrau das Recht des Vaters auf sein Kind und das Recht des Kindes auf seinen Vater nicht sonderlich ernst nimmt. Inzwischen hat August S. eine neue Partnerin, die eine Tochter aus ihrer ebenfalls geschiedenen Ehe mit in die Partnerschaft brachte. In dieser neuen und für Daniela - wie für jedes andere Kind - erst einmal ungewohnten und befremdlichen Situation äußert sie plötzlich den Wunsch, die Besuche beim Vater einzustellen. Sie will ihn nicht mehr sehen. Zugleich heißt das wohl auch, dass sie seine neue Partnerin nicht um sich haben will. Auch das ist für Kinder in dieser Situation nichts Ungewöhnliches. Es fällt ihnen schwer, die neue Frau an der Seite des Vaters zu akzeptieren, die unerwünscht ist, weil sie als der Anlass wahrgenommen wird, dass die Mutter nicht mehr beim Vater ist. Das hat damit zu tun, dass Kinder, zumal im Alter von Daniela, die Endgültigkeit der Trennung ganz und gar nicht akzeptieren können. Die Krankheit der Mutter, die das Kind sicher belastet, spielt dabei zweifellos nur eine geringe Rolle. Bedeutsamer ist da schon die Tochter der neuen Lebensgefährtin ihres Vaters. Das andere Mädchen ist eine Rivalin um die knappe väterliche Gunst. Es ist dieselbe Rivalität, die auftritt, wenn Geschwister geboren werden. Es bedarf des elterlichen Trostes und der Versicherung, dass die Veränderung nicht das Ende der elterlichen Liebe bedeutet, auch wenn sie mit einem anderen Kind geteilt werden muss. Zumeist übernimmt der Vater die tröstende Rolle, der mit dem Säugling weniger intensiv verbunden ist als die Mutter in der Zeit nach der Geburt. Er versichert durch seine Nähe dem größeren Kind, dass der Säugling ihm nicht die Liebe der Eltern nimmt. Vor diesem Hintergrund trifft Daniela eine leicht nachvollziehbare hochemotionale Entscheidung, wie sie kein Erwachsener treffen würde, der alle Aspekte erwogen hat. Ihr Zorn über die Rivalin und die Trauer über den Verlust ihres angestammten Platzes als einziges Kind bedrücken sie. Zudem droht die neue Partnerin ihr den Platz beim Vater ebenfalls streitig zu machen. Statt aber die Ankündigung seiner Tochter, ihn nicht mehr sehen zu wollen, als spontane und hilflose Geste des Alleingelassenseins und als Ruf nach Trost aufzufassen, nimmt August S. sie für bare Münze. Daniela wollte sich lediglich der väterlichen Liebe vergewissern, und es hätte sie erleichtert, hätte ihr Vater sie gefragt, warum sie ihn nicht mehr sehen möchte, was sie an der neuen Situation, der neuen Partnerin und dem neuen quasi geschwisterlichen Kind stört. Doch diese Fragen stellte August S. seiner Tochter offenbar nicht. Ohne viel Federlesens akzeptiert er ihren Wunsch, die Besuche abzubrechen, so als handle es sich um eine Anordnung. 'Daniela machte Schluss. Das war sehr schmerzlich für mich, aber ich fand es bewundernswert, dass sie mit ihren 5 Jahren gekommen ist und gesagt hat: ?Ich möchte jetzt diese Besuche nicht mehr machen. Ich möchte das nicht mehr.? Das hat sie selber so gesagt! Meine Exfrau hat ihr häufiger vorher gesagt: ?Ja, wenn du mir jetzt sagst, dass du da nicht hinwillst, dann sage es deinem Vater bitte selber.? Diese Situation ist sehr häufig vorher schon so gewesen. Und dann kam irgendwann der Tag, wo sie gesagt hat: ?So, Papa, ich komm jetzt nicht mehr, ich will das nicht mehr.? Sie hat das nicht weiter erklärt. Aber ?ich will es nicht mehr? und dann hab ich gesagt: ?Gut. Ich möchte aber gerne, dass wir uns später noch einmal wiedersehen. Aber wenn du jetzt sagst, du möchtest mich im Moment nicht mehr treffen, dann ist das in Ordnung so.? Das war der letzte echte Kontakt. Das war sozusagen - das war sehr schmerzhaft. Die ganze Geschichte hat sich zwei Jahre hingezogen. Immer mit diesem Wechsel. Es gab zwischendurch Phasen, wo keine Besuchsregelung galt, weil sie wieder infrage gestellt war. Das war heftig. Und ich vermute, dass diese ganze Situation für meine Tochter mit Sicherheit noch heftiger gewesen ist als für mich. Sonst hätte sie nicht so klar gesagt, wie die Situation war. Was dahinter gesteckt hat, war wohl: ?Ich will die Situation bereinigt haben. Lass mir meinen Frieden.?' Wir alle kennen die Reaktion kleiner Kinder, die empört und zornig über ihre Eltern den Spielkoffer packen und wie Hänschen klein mit erhobenem Kopf aus dem Haus spazieren wollen. Den Versuch, sich aus dem Schutz der Eltern zu lösen, wagt gerade nur jenes Kind, das sich seines Platzes in der Familie sicher sein kann, weil es die Erfahrung gemacht hat, dass die Eltern an ihm bedingungslos festhalten. Sie verstoßen es nicht, sie behüten es davor, sich selbst zu beschädigen, und lassen es nicht fortgehen. Solche hochfahrenden Entscheidungen wie die von Daniela sind bei Kindern immer Ausdruck eines großen Ärgers und vor allem einer tiefen Kränkung. Sie fühlen sich verloren und suchen ihr Heil in der Selbstüberschätzung. Auch Daniela spielt auf ihre Weise Hänschen klein, um Aufmerksamkeit und Trost für ihre realen Ängste zu erhalten. Doch in ihrem Fall endet diese Phantasie nicht wie bei jenen Kindern, die am Abend gemeinsam mit ihren Eltern über dieses Erlebnis lachen können und in ihrem Bettchen geborgen einschlafen. August S. verkehrt die zornig eifersüchtige Aussage seiner Tochter in tödlichen Ernst. Er lässt sie ziehen. Dabei hat er seiner Tochter gewiss nichts Böses zufügen wollen. Im Gegenteil, er erlebte sich als einfühlsam und verständig. Er glaubte, indem er ein gehöriges Maß an Respekt für die kleine Tochter aufbrachte, vielleicht sogar verständiger als andere Väter zu sein. Im gut gemeinten Bemühen, das Kind 'beim Wort' zu nehmen, ging ihm aber das Gespür für die kindlichen Motive ihrer Äußerungen verloren. Wer die Aussagen von Kindern immer wörtlich nimmt, der übersieht leicht die dahinter verborgenen Gefühle, insbesondere solche, die Kinder selbst nicht auszusprechen wagen. Für die Tochter wäre es eine Erlösung gewesen, wenn der Vater damals nicht zurückgewichen wäre, sondern ihr signalisiert hätte, dass es schwierig und manchmal traurig ist mit Scheidungseltern zu leben, dass das Leben aber, wenn auch in anderer Form, dennoch mit Vater und Mutter weitergeht. Aus Gründen, die er heute noch nicht nachvollziehen kann, hat August S. das töchterliche Urteil nicht als etwas Vorläufiges und Voreiliges gelten lassen, sondern über all die weiteren Jahre akzeptiert und zum Anlass genommen, ängstlichen Abstand zu wahren. Er beschreibt die Zeit nach diesem folgenschweren Ereignis als sehr quälend. Als vertriebener Vater, als der er sich fühlt, wagt er nicht mehr, sich der Tochter zu nähern. Er beobachtet Daniela fortan nur noch heimlich. 'Alle meine Kontakte zu meiner Tochter sind nach dieser Trennung jedenfalls mehr oder weniger von ihr unbemerkt verlaufen. Sie hatte Gesangsunterricht, und als sie älter war, hat sie in einem Chor gesungen: Ich bin zu den Konzerten gegangen und habe sie dort gesehen. Dann gab es Situationen, dass sie im Eingang vor dem Konzert mit ihren Freundinnen sich unterhalten hat. Ich weiß nicht, ob sie mich gesehen hat. Ich hatte einfach nicht den Mut, mich ihr zu nähern! Ich habe ihr geschrieben, dass ich nicht den Mut hatte, auf sie zuzugehen und zu sagen: ?Hallo, Daniela!? Und das war furchtbar. Und so ist es heute noch, wenn ich daran denke. Es ist einfach furchtbar! Das passierte mehrmals. Ich habe das gemacht, weil ich die Distanz, die sie im Grunde als Fünfjährige gewollt hatte, wahren wollte: ?Halt bitte die Distanz ein! Ich besuch dich nicht mehr.? Diese Distanz wollte ich nicht stören. Was ich regelmäßig gemacht habe: Ich habe ihr immer zum Geburtstag geschrieben. Zuerst habe ich noch geschrieben: ?Sag mir bitte, was du zum Geburtstag geschenkt haben möchtest.? Das ging aber immer über die Mutter, die hat gesagt: Ja, das und das. Es waren in der Regel die Wünsche der Mutter - was sie meinte, was für Daniela richtig ist. Aber trotzdem habe ich das weitergemacht. Und als diese Wünsche nicht mehr benannt wurden, habe ich halt Schecks geschickt. Schecks deshalb, weil ich sehen wollte, ob sie eingelöst werden. Einfach einen Geldschein, da hätte ich kein Feedback und nie eine Antwort gehabt. Ich habe nie auf irgendeinen Brief, den ich geschrieben hab, eine Antwort bekommen. Ich habe nie auf irgendein Geschenk oder irgendeinen Scheck oder sonst etwas eine Antwort bekommen. Das gab es nicht. Sie hat nicht geantwortet. Ich hab einen recht emotionalen Brief geschrieben, in dem ich ihr meine Gefühle mitgeteilt habe. In dem ich ihr gesagt habe, wie es für mich war, als ich vor ihr stand und mich nicht getraut hätte, einfach feige gewesen wäre, sie anzusprechen. Und ich hab ihr geschrieben, was ich aus dem Konzert und an ihrer Leistung wahrgenommen habe und dass es mir gefallen hat. Es gibt keine Antwort auf so was. Drei Telefongespräche hatte ich mit ihr in all den Jahren geführt. Ich habe sie schon eingeladen: ?Lass uns einfach mal abends zum Essen treffen. Schreib mir! Ruf mich an. Nur als Angebot! Dann kannst du mir mal sagen, was es eigentlich ist, was dich so verletzt, dass du auf mich nicht reagieren magst. Du kannst mir das sagen. Ich bin dir da nicht böse drum. Aber ich möchte es einfach gerne wissen. Was habe ich falsch gemacht in deinen Augen?? - Nein, keine Antwort. Und keine Antwort ist eine Antwort, aber es ist gleichzeitig keine Antwort.' Die heranwachsende Tochter bleibt ihrem Vater gegenüber reserviert. Sie versucht der unterschwelligen Scham darüber zu entkommen, dass sie es war, die vor vielen Jahren den Vater vertrieben hat. Denn das war es, was geschah, als der Vater ihrer kindlichen Phantasie eine erwachsene Bedeutung mit entsprechenden Konsequenzen unterlegte. Dadurch bürdete er Daniela die Verantwortung für den abgebrochenen Kontakt auf. Eine Bürde, die das Kind ängstlich trug, weil es durch sie erfahren hat, welche Macht seine Vorstellungen haben können. Sie können so mächtig sein, dass sie den Vater davonjagen. Was Daniela nach der Vertreibung des Vaters blieb, war die bedingungslose Zuflucht zur Mutter, und die Beziehung zu ihr durfte sie fortan nicht aufs Spiel setzen, sonst hätte sie beide Eltern verloren. Ganz gegen seine Absicht hat August S. also dazu beigetragen, dass Daniela so in eine besonders enge Bindung zu ihrer Mutter geriet. Einer Mutter, die offenbar sehr labil und oft krank ist. Die Frage, die August S. seiner Tochter stellen möchte, wird wohl unbeantwortet bleiben. Ihre Motive waren kindliche Motive und sie wird sie nicht wissen. Vielleicht aber wird sie ihm eines Tages erklären, dass die Gründe nicht bei ihr zu finden sind, weil aus ihrer Sicht er es war, der sie verließ. Einige wenige Male versucht August S. seiner Tochter Kontakte anzubieten, die sie jedoch überfordern. So drehen sich die wenigen Telefonate, die August S. in all den Jahren mit seiner Tochter führt, um den Tod ihm nahe stehender Menschen. 'Der erste Telefonkontakt war, als meine Schwester gestorben war. Da habe ich ihr das mitgeteilt. Ich habe sie gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn sie mit auf der Todesanzeige steht. Was sie bejaht hat. Der zweite Telefonkontakt war mit gleichem Ansinnen anlässlich des Todes meines Vaters. Im dritten Telefonkontakt wollte ich sie darauf aufmerksam machen, dass es eine Gelegenheit gibt, die ganze Familie ihres Großvaters kennen zu lernen. Es gab ein großes Familientreffen. Das war gar nicht lange her. Ich wollte ihr das erzählen und wollte ihr die Einladung und die Wegbeschreibung und so weiter zuschicken. Das hat sie zur Kenntnis genommen und gesagt: ?Nein, das bräuchte ich nicht!? Sie hätte schon alles gekriegt. Aber sie hat sich darauf nicht weiter gerührt. Und das ist jetzt ein paar Wochen erst her. Sie hat also nie Gelegenheit gehabt, diese Familie voll und ganz kennen zu lernen. Das wollte ich ihr ermöglichen. Gut, das ist aber ihre Entscheidung. Das ist auch in Ordnung. Das hat mich auch weniger verletzt, weil ich verstehen kann, dass eine junge Frau mit 23 vielleicht kein so großes Interesse für die Familie hat. Anders ist es bei den Beerdigungen ... Bei der Beerdigung meines Vaters war sie schon über 18. Und bei der meiner Schwester ungefähr zehn. Ja, genau!' Man kann verstehen, dass Daniela von diesen doch eher beängstigenden Kontakten zu seiner Familie nicht sonderlich begeistert gewesen sein wird. Sie hatten nur indirekt mit ihm als Vater zu tun. August S. hatte offenbar keine Vorstellung davon, was seine Tochter ihrem Alter entsprechend zu leisten vermochte und was sie überforderte. Er konfrontierte das zehnjährige Mädchen mit dem Tod ihrer Tante und mit Fragen wie der Kranzgestaltung. Beim Tod des Vaters war die Tochter zwar schon erwachsen, aber abermals wandte sich August S. in einer emotional belastenden Situation an sie. Es ist schon unter ungezwungeneren Umständen eine große Herausforderung, sich dem Vater zu stellen, den die junge Frau so viele Jahre nicht mehr gesehen hat. Diese Begegnung in den Rahmen einer Beerdigung einzubetten, mit einem Vater, der mit dem schmerzhaften Verlust eines Elternteils beschäftigt ist, ist eine Überforderung. Andere Gelegenheiten hingegen, die in der Erlebniswelt des Mädchens selbst angesiedelt gewesen wären, nahm August S. nicht wahr, obwohl ihn sogar seine Exfrau dazu ermutigte. 'Meine Tochter machte im Übrigen immer, wenn ich sie in diesen seltenen Gelegenheiten gesehen hab, einen eher stabilen Eindruck, in der Begegnung mit anderen sogar fröhlichen Eindruck. Und sie hat immer ein extrem gutes Verhältnis zu ihren Lehrerinnen gehabt. In diesem Fall zur Englischlehrerin. Die anderen Lehrer kann ich nicht beurteilen. Sie hat einen ausgezeichneten Abiturabschluss gemacht. Irgendwann hatte mir meine Frau gesagt: ?Du kannst gerne die Zeugnisse sehen, wenn du sie sehen willst.? Ich will das überhaupt nicht kontrollieren, aber ich freue mich darüber, wenn sie gut sind. Das ist überhaupt nicht die Frage. Da gab es Jahre, da gab es glatte Einser-Zeugnisse.' Die von der Mutter offenbar unterstützten Gelegenheiten, an bedeutungsvollen Ereignissen im Leben seiner Tochter teilzunehmen, gehen ungenutzt vorüber. Konfrontiert hat August S. Daniela stets nur mit seiner Welt - mit dem Tod seines Vaters, mit seiner Familie, die das Mädchen nicht zu kennen scheint. Es stellt sich die Frage, ob er je wirklich versucht hat, sich ein Bild von Daniela zu machen, das ihre ganze Lebenswirklichkeit umschließt, und ihr darin zu begegnen. An einer Stelle des Interviews wird sich August S. der Fremdheit zwischen ihm und seiner jetzt erwachsenen Tochter bewusst. 'Ich hätte wahrscheinlich, wenn sie sich ankündigen würde, auf jeden Fall Herzrasen und wahrscheinlich ein Stück weit Angst. Was begegnet mir? Wie werde ich fertig mit dem, was mir begegnet? Es ist eine Fremdheit eingetreten in einer ganz tiefen Vertrautheit, die auf der einen Seite in der Erinnerung da ist - an ein vierjähriges Mädchen. Ist eine Fremdheit zu der 23-Jährigen da? Nein. Ich wunder mich auch nicht darüber. Das ist irrsinnig. Und die 18 Jahre sind für mich wie nix. Ich habe sie jetzt inzwischen schon groß gesehen, aber trotzdem habe ich eine Assoziation. Ich habe nur diese Sprünge gesehen. Diese ganz großen Sprünge. Sie haben gefragt: ?Was war das Schmerzhafte an dieser Trennung?? Die Antwort wäre kurz: dieser ganze Prozess, den ich eben beschrieben habe!' Vielleicht bringt August S. eines Tages den Mut auf, seiner Tochter gegenüberzutreten. Er beschreibt eine paradoxe Situation, die nur schwer zu meistern ist. Sie betrifft aber viele geschiedene Männer, die für Jahre hinweg den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben. Sie wissen, dass sie einem erwachsenen Menschen begegnen werden, doch die Erinnerung ist von den Gefühlen aus den Zeiten der frühen Kindheit beherrscht. Gerade August S. hatte eine nicht alltägliche Beziehung zu seiner Tochter, weil er wegen der Krankheit seiner Frau die Sorge für den Säugling übernehmen musste und Daniela in den ersten vier Lebensjahren mehr oder weniger allein betreute. Das Mädchen verlebte die Phase der größten Abhängigkeit in ihrem Leben in der Obhut eines fürsorglichen Vaters. Das sind Erfahrungen von Nähe, die die gemeinsame Lebensgeschichte prägen und von denen viele andere Väter ausgeschlossen sind. Auch die Gefühle für die erwachsene Tochter zehren von dieser frühen Beziehung zwischen beiden. Inzwischen ist Daniela aber eine junge Frau. Sie stellt andere Anforderungen an die Beziehung zum Vater als damals. An die frühen Erfahrungen lässt sich mit einer Erwachsenen nicht anknüpfen. Wie viele andere Scheidungsväter erlebt auch August S., wie unendlich schwierig es ist, nach vielen Jahren der Trennung den Kontakt zu den Kindern wiederherzustellen und die eingetretene Fremdheit zu überwinden. Deutlich zeigt sich, welche Bedeutung Beständigkeit für das Wesen einer Beziehung hat. Die symbolische Vertretung des abwesenden Elternteils allein kann über längere Zeit kein Ersatz für lebendige Kommunikation sein, die Sprache, Berührungen und Gefühle mit einschließt. Beziehung ist eben nicht nur Erinnerung, sondern lebendiger Austausch in der Gegenwart. Zweifel sind angebracht, ob Daniela die Ereignisse ihrer Kindheit und Jugend so empfindet, wie ihr Vater das tut. Der Kontakt ist zwar abgebrochen, August S. sieht seine Tochter nicht mehr, aber mit Sicherheit hat Daniela ihren Vater nie 'vergessen'. Immerhin teilen sie fünf Jahre gemeinsamen Lebens. August S. wollte es so, dass Daniela mit dem Gefühl leben muss, dass sie diejenige war, die den Vater zurückstieß. Möglicherweise wird sie ihm das als grausame und quälende Erfahrung vorhalten und ihm vorwerfen, von ihm verstoßen worden zu sein, weil er sie damals grundlos hat in die weite Welt gehen lassen.

Erscheint lt. Verlag 14.8.2006
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ehescheidung • Elternschaft • Familie • Gender • Kindschaftsrecht • Scheidung • Sorgerecht • Trennung • Vaterschaft
ISBN-10 3-593-40288-2 / 3593402882
ISBN-13 978-3-593-40288-8 / 9783593402888
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