Homo occidentalis
Arno Bammé geht es in diesem Buch darum, die sozialhistorischen
Wurzeln der gegenwärtigen Problematik im Verhältnis
Natur/Gesellschaft/Wissenschaft/Technik deutlich zu machen.
Ausgangspunkt seiner Argumentation ist David Bloors Edinburgh
Strong Programme, demzufolge auch der »hard core«
der Wissenschaft sozialen Ursprungs ist. Sein Ziel ist es, der
tatsächlichen historischen Entwicklung, die sehr chaotisch verlaufen
ist, soziologisch eine Struktur zu geben – in Form dreier
Zäsuren, wobei das Wechselverhältnis von Wissenschaft, Technik
und Gesellschaft im Vordergrund steht.
Die erste Zäsur, das griechische Mirakel, zeichnet sich dadurch
aus, dass die Beziehungen der Menschen zueinander, gemeinhin
die Gesellschaft, auf eine rationale Basis gestellt werden. Erstmals
in der Geschichte beherrschten abstraktes Denken, Behauptung,
Diskussion und Beweis die zwischenmenschliche Kommunikation,
und ihr Ziel war die Wahrheitsfindung. Das aber, was die Griechen in
diesem Zusammenhang als Gesetz bezeichneten, bezog sich allein
auf Soziales, nicht auf Natur. Sozialökonomische Grundlage ist die
Entstehung eines äußeren Marktes, einer Warenproduktion in ersten
Ansätzen. Stichworte und Personifizierung hierfür sind Verrechtlichung,
gemünztes Geld, Alphabet-Schrift, Odysseus, Archilochos.
Die zweite Zäsur, das europäische Mirakel, zeichnet sich dadurch
aus, dass die Beziehungen der Menschen zur Natur auf eine rationale
Basis gestellt werden. Es entsteht ein innerer Markt, der die Arbeitskraft
des Menschen und Grund und Boden zur Ware macht, und auf
die Produktion selbst zurückschlägt. Parallel dazu entsteht als Fortsetzung
der griechischen Protowissenschaft eine (Natur-)Wissenschaft,
die durch Axiomatik und Empirie (messendes Experiment)
gekennzeichnet ist. Stichworte und Personifizierung hierfür sind die
große Industrie, das Labor, Robinson, Newton (nicht so sehr Galileo
und Bacon), Marx.
In der dritten Zäsur, in der Gesellschaft und Natur zu einem Hybrid
verschmelzen, werden die Beziehungen der Menschen zu
diesem Hybrid auf eine rationale Basis gestellt. Die Gesellschaft
selbst, nenne man sie nun »Wissensgesellschaft«, »Umwelt« oder
»Weltgesellschaft«, wird zum Labor, zum Experimentierfeld. Ob
Tschernobyl, Ozonloch oder BSE, in allen Fällen hat die traditionelle
Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und angewandter
Wissenschaft an Bedeutung verloren. Wissenschaftliche Experimente
haben die geschlossenen Räume der Laboratorien verlassen. Sie
werden heute im Maßstab 1:1 und in Echtzeit durchgeführt.
Das Verhältnis von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft wird ausgehend
von Max Webers Rationalitätskonzept als Implikationsverhältnis
von Individuum und Gesellschaft (Psycho- und Soziogenese)
entwickelt. Mit dem Schwerpunkt, der auf der Entfaltung kognitiver
Strukturen (Piaget) sowohl im Individuum als auch in der Gesellschaft
liegt, werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei
Zäsuren als Momente eines sozialhistorischen Entwicklungsprozesses
dargestellt, um David Bloors erkenntnistheoretischen Anspruch
einzulösen und die gegenwärtige Kontroverse um akademische
und postakademische Wissenschaft als Zwischenstufe dieser Entwicklung
zu deuten.
Arno Bammé, geb. 1944, ist Ordentlicher Universitätsprofessor an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Kärnten). Er leitet dort das Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung. Zudem ist er Direktor des Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society in Graz. Jüngere Veröffentlichungen: Science and Technology Studies. Ein Überblick (2009); Wissenschaft im Wandel. Bruno Latour als Symptom (2008); Die Neuordnung des Sozialen durch Technik (2007); Science Wars (2004).
Inhaltsübersicht
0. Prolog
1. Wissenschaftsforschung im Härtetest:
Paradigmen und Probleme
2. Drei Etappen auf dem Wege zur Weltgesellschaft.
Eine geschichtsphilosophische Interpretation
3. Wurzeln und Wege der abendländischen
Wissenschaft
4. Vom primitiven zum wissenschaftlichen Denken
5. Gerechtigkeitsmoral oder Gemeinschaftsethos?
6. Von der Realabstraktion zur Denkabstraktion
7. Die sozioökonomische Dynamik der drei Zäsuren
»Mächtig Eindruck hat Arno Bammés knapp tausend Seiten umfassende Studie über die Genealogie abendländischer Rationalität auf Jochen Hörisch gemacht. Er attestiert dem Autor, alles, was von Heraklit über Hegel und Max Weber bis Luhmann zum Thema gedacht wurde, kundig und konzentriert darzustellen. (...) Sein Fazit: ein Werk, das das "Zeug zum Klassiker" hat.«
aus: Perlentaucher, Rezension NZZ vom 16.7.2011., Jochen Hörisch
| Erscheint lt. Verlag | 1.6.2011 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Gewicht | 1305 g |
| Einbandart | gebunden |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
| Schlagworte | Epistemologie • Erkenntnistheorie • Ökonomie • Soziogenese des Denkens • Soziologie • Technikforschung • Wissenschaftsforschung |
| ISBN-13 | 9783942393034 / 9783942393034 |
| Zustand | Neuware |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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