Die Mitläuferin (eBook)
328 Seiten
tredition (Verlag)
9783732336777 (ISBN)
Es ist ein sonniger, noch etwas kühler Märztag. Aber der Frühling liegt schon in der Luft. Das kann man selbst in dieser Stadt der Kohlefeuerung förmlich riechen, wo der Rauch aus zahlreichen Schornsteinen schwer auf den Dächern liegt. Es ist eine schöne Stadt mit einer nun bald tausendjährigen Geschichte, die ihre Spuren hinterlassen hat, ebenso wie der Staat, der es sich nicht immer leicht machte mit sich und den anderen und jetzt am Ende seines vierten Jahrzehnts steht. Man hatte sich viel vorgenommen, vielleicht zu viel. An der Peripherie wächst eine neue Stadt empor, mit riesigem Aufwand aus der grünen Wiese gestampft, eines der vielen Fünfjahrplanprojekte, wie sie vielerorts in der Republik entstanden, als Kontrastprogramm zu den schönen, stolzen Jugendstilvillen, denen man die Pracht vergangener Jahre trotz des abbröckelnden Putzes noch ansehen kann.
Doch heute, an einem so zauberhaften Vorfrühlingstag, fällt das nicht ins Gewicht. Dörte bemerkt dies ebenso wenig wie das zaghafte Grün der großen Platanen entlang der Straße, in der sich das Sprachinstitut befindet, in dem sie als Hochschullehrerin arbeitet. Sie beendet ihren Unterricht wie jeden Freitag, verabschiedet ihre Studenten in das Wochenende, setzt sich sofort ins Auto und fährt nach Hause. Obwohl sie heute der etwas skurrilen Schönheit ihrer Stadt keine Aufmerksamkeit schenkt, ist es, als würde die Stimmung, die sie umgibt, sich ihr dennoch vermitteln. Unterwegs versucht sie, sich zur Ruhe zu zwingen, und wünscht inständig, dass bloß kein Unfall, keine verstopfte Kreuzung sie aufhalten möge. Nichts soll sie daran hindern, die ihr zugedachte Rolle in dem von ihrem Mann Götz und dessen bestem Freund Johannes ausgedachten Szenario zu spielen.
Ohne Zwischenfälle gut zu Hause angekommen setzt sie sich ans Telefon, das erwartungsgemäß kurz nach zwölf klingeln müsste. Vorausgesetzt, alles ist wie geplant abgelaufen.
Wie immer in schwierigen Situationen kuschelt sie sich in den recht kommoden, nun schon einhundert Jahre alten Schaukelstuhl, der ihr ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Endlos lange braucht der Zeiger der Wanduhr, bis er sich auf die nächste Minute zu bewegt. Dörte versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Alles dreht sich um die Frage, ob Götz die Kraft hätte, den waghalsigen Plan durchzuführen, und es tatsächlich fertigbringen würde, was die beiden Freunde als letzten Ausweg angesehen haben.
Er ist zwischen die Mühlsteine geraten, wie man so sagt, und dies in einer Gesellschaft, die gerade ihn während der vergangenen vierzig Jahre wesentlich geprägt hat. War doch die DDR sein Land, das er sich zwar nicht ausgesucht, das ihm jedoch ermöglicht hat, zu dem zu werden, der er heute ist: Hochschullehrer an einer der ältesten Universitäten Deutschlands, zu deren bekanntesten Studenten kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe einst gehörte, an der aber auch Radistschew und der letzte große Universalgelehrte Leibniz gewirkt hatten. Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass er zu diesem spektakulären Mittel greift, um sich aus der Schusslinie zu katapultieren, gehen Dörtes Gedanken weit zurück in die Vergangenheit.
Vor fünfzehn Jahren war sie eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, recht passabel aussehend, allein erziehende Mutter eines sechsjährigen Jungen, beruflich in den letzten Jahren recht erfolgreich, in Liebesdingen einigermaßen genussfähig und erfahren und eigentlich rundherum zufrieden. Es konnte so weitergehen, fand sie. Natürlich gab es Augenblicke, in denen die Sehnsucht nach einem wirklichen Partner kam, einer, zu dem sie unbedingtes Vertrauen haben und der auch ihre in den letzten Jahren noch gewachsenen Ansprüche erfüllen könnte. Das Leben allein war ja nicht nur schön und herrlich frei. Da gab es auch die vielen Momente, in denen man einen Partner brauchte, mit dem man reden konnte, ohne jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen, mit dem man keine Taktik zu machen brauchte, einen Menschen, dem man seine Unzulänglichkeiten und Schwächen offenbaren konnte. Sie bemühte sich, dieses Gefühl der Leere nicht allzu oft an sich herankommen zu lassen. Schließlich traf man die partnerfähigen Männer nicht so häufig, und wenn, dann waren sie meistens verheiratet. Und zu der Sorte Frauen, die auf den Märchenprinzen warten, gehörte Dörte noch nie. Sie war auch nicht mehr bereit, in dieser Hinsicht Kompromisse oder Abstriche zu machen. Sicher hätte sie schon längst wieder verheiratet sein können, aber immer, wenn sie sich das Leben mit dem gerade aktuellen Mann nach zehn Jahren vorzustellen versuchte, war die Antwort: Nein, das ist nicht der Richtige. Natürlich wäre es ihren Eltern lieber gewesen, wenn ihre Tochter in sogenannten ordentlichen Verhältnissen gelebt hätte. Denn deren ziemlich freies Leben war ihnen ja nicht entgangen, und insbesondere ihr Vater glaubte, recht feste moralische Vorstellungen haben zu müssen. Dennoch hielten sie sich in dieser Frage sehr zurück mit ihren Kommentaren. Ihr Vater versuchte ein einziges Mal, seiner Tochter einen Mann zu verschaffen, einen gutsituierten Junggesellen, Ingenieur, sie arbeiteten in einem Betrieb. Dieser Mann, den Dörte recht nett fand, war aber ständig mit seinem Freund zusammen, so dass der Gedanke, er sei vielleicht schwul, nicht ganz abwegig war. Um das nun genauer herauszufinden, lud Dörte ihn einmal allein zu sich ein. Es gelang ihr, ihn zu verführen, was allerdings eine ziemlich enttäuschende Erfahrung war. Sexuell war er eine Niete. Damit stand fest, das könnte nie etwas werden. Ihrer Mutter erzählte sie von dem Erlebnis, und als ihr Vater ihr wieder einmal diesen Mann schmackhaft machen wollte, meinte seine Frau Friederike: Also Vater, das schlag dir aus dem Kopf. Das ist kein Mann für unsere Tochter; worauf der Vater verständnislos den Kopf schüttelte und dabei blieb, die Vorteile des Mannes aufzuzählen. Ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, war damit alles gesagt, und es blieb auch der letzte Versuch ihres Vaters, sie unter die Haube bringen zu wollen.
Dörte hatte nach ihrer Scheidung vorübergehend mit ihrem kleinen Björn bei den Eltern gewohnt. Nun sollte mit der Zuweisung einer Neubauwohnung in der nicht weit entfernten Großstadt am mittleren Lauf der Elbe ein neuer Lebensabschnitt für sie und ihren inzwischen schulreifen Sohn beginnen. Obwohl die Studenten aus ihrer Englischseminargruppe ihr rührend geholfen hatten beim Herrichten der Wohnung, war doch nicht alles geschafft worden, bevor Dörte eine Dienstreise zu einer wissenschaftlichen Tagung in den nahegelegenen Harz antreten musste. Siegfried, ihr Vater, tröstete sie. Er kannte seine Tochter ja so genau und wusste, wenn sie sich irgendetwas in den Kopf gesetzt hatte, musste sie es auf Biegen und Brechen durchsetzen. Er versprach also, nach ihrer Rückkehr ein paar Tage Urlaub zu nehmen und dann alle notwendigen Arbeiten zu verrichten. Dörte fuhr dann in jene kleine Stadt im Harz zu ihrer Tagung ohne zu wissen, dass alles ganz anders kommen würde. Noch ahnte sie nicht, was sie in dem etwas schmucklosen, durch zahlreiche Neubauten doch etwas verunstalteten ansonsten aber sehr romantischen Städtchen erwarten sollte.
Zunächst war alles ganz normal: Unterbringung aus Kostengründen im Internat, das zu der Fachhochschule, in der die Tagung stattfand, gehörte, dann ein Vortrag nach dem anderen mit keiner oder nur mäßiger Diskussion. Es waren ja Leute aus dem Ministerium da, und man wollte nicht auffallen. Beim Essen in der angrenzenden Mensa passierte es in der Pause, dass Dörte, die etwas abseits stehend sich nicht am nun umso reger einsetzenden fachlichen Gegacker ihrer Kollegen beteiligen mochte, plötzlich um Feuer gebeten wurde. Es durchlief Dörte heiß, nachdem sie die ersten Worte miteinander gewechselt hatten. In ihrem Bauch fühlte sie das flaue Flimmern jener Ungewissheit, in der alles zu liegen schien. Sie fragte sich beunruhigt, ja fast bestürzt, was hier anders war als bei den üblichen Männerbekanntschaften, die immer recht kurzlebig gewesen waren. War es das Äußere, das ihren Blick länger auf ihm verweilen ließ als normal? Nein, gutaussehende, sportliche Typen hatte sie in den letzten Jahren mehrere zu ihren Verehrern gezählt. Das war es also nicht allein. Was aber sonst? War es, weil seine Augen so eine Offenheit und Güte ausstrahlten, oder gar, dass er mit einem schnittigen, himmelblauen WARTBURG (Automarke in der DDR) angekommen war? Nun, das war immerhin nicht zu unterschätzen, denn einen flotten Wagen zu fahren, war schon etwas anderes als das Volksauto, TRABANT. Aber auch Männer mit einem besseren Auto hatte sie mehr als einen gehabt. Was war es also, was sie, ihr fast die gewohnte Selbstsicherheit raubend, so gefangen nahm? Rauchend plauderten sie und machten sich lustig über die Wichtigtuerei der Leute aus dem Ministerium. So stellte Dörte bald fest, dass er auf sie zugekommen war, weil sie alleine stehend ihren Gedanken nachgegangen war. Das gefiel ihm. Sie stellten Gemeinsamkeiten fest und verabredeten für den nächsten Abend einen Treff in einem Tanzlokal. Schon auf der Fahrt dahin war Dörte überrascht. Auf ihre kesse Frage hin ließ er sie ohne zu zögern, ganz selbstverständlich mit seinem Auto fahren. Er kannte sie doch gar nicht, wusste nichts über ihre Fahrkünste. Für die meisten Männer galt immer noch: Eine Frau am Steuer, da hieß es doch aufpassen. Selbst bei ihrem Vater hatte Dörte diese Erfahrung machen müssen. Sie besaß seit kurzem den Führerschein, und vorher hatte er immer gesagt, dass sie natürlich mit seinem Auto fahren könne. Als sie aber die Fahrprüfung bestanden hatte, musste er sich zuerst von ihrem Fahrverhalten überzeugen, und so durfte sie ihn in die nahegelegene Kreisstadt fahren. Es...
| Erscheint lt. Verlag | 3.6.2015 |
|---|---|
| Illustrationen | Multi2Media Agentur f. Werbung u. neue Medien GbR |
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur |
| Sonstiges ► Geschenkbücher | |
| Schlagworte | Astrid Zeven • Authentizität • Beruf • BRD • CDU • Christa Wolf • DDR • Demokratie • Der geteilte Himmel • Deutschland • Deutschländer • Dörte • Eltern • FDGB • Flucht • Fluchtplanung • Freiheit • Gesellschaft • Gewerkschaft • Glück ohne Ende • Götz • Heimat • Kalter Krieg • Kassandra • Konflikte • Leben • Liebe • Menschen • Mitläuferin • Nachkriegszeit • Neubeginn • Osten • Partnerschaft • Paul und Paula • Persönlichkeit • Politik • Republikflucht • Schicksal • SED • Sozialismus • sozialistisch • Trabant • Ungarn • Wendepunkte • Werte • Westen • Wurzeln • Zweisamkeit |
| ISBN-13 | 9783732336777 / 9783732336777 |
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