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Hörquark und Klangbrei?

Über Hörgeräte, Implantate, die Ohr-Hirn-Schranke und Hirnhürden

(Autor)

Buch | Softcover
104 Seiten
2024
Median-Verlag von Killisch-Horn GmbH
978-3-941146-89-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hörquark und Klangbrei? - Jochen W. Heinz
CHF 46,90 inkl. MwSt
Hörgeräte und Implantate sind heutzutage wahre Wunderwerke. Weltweit helfen Sie Millionen von Menschen, wieder mehr Lebensqualität zu erhalten und – noch wichtiger – bei Kindern den korrekten Lautspracherwerb überhaupt zu ermöglichen. Doch auch die allerbeste Technik kann an Grenzen stoßen, die nicht zu überwinden sind. Im ersten Teil werden alle wesentlichen Aspekte zur Hörsystem- und Implantatversorgung aus Sicht des Praktikers dargestellt. Im zweiten Teil folgt eine Darstellung weiterer möglicher Gründe für auditive Kommunikationsstörungen, die bisher kaum Beachtung fanden, jedoch durchaus alltagsrelevant sein können.

Jochen W. Heinz (Jahrgang 1960) studierte von 1982 bis 1986 an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen Humanmedizin. Nach Abbruch des Studiums erfolgte die Ausbildung zum Hörgeräteakustiker von 1986 bis 1988 und die Meisterprüfung 1992. Sein Tätigkeitsschwerpunkt war die Hörsystemversorgung von Säuglingen und Kindern. Das besondere Interesse in diesem Bereich führte ihn Ende der 1990er-Jahre nach Kanada, wo er eine neue wissenschaftliche Vorgehensweise in der Hörsystemversorgung von Säuglingen und Kindern und auch neue Mess- und Anpasssysteme kennenlernte. Für deren Einführung in Deutschland setzte er sich vehement ein und stellte dieses Verfahren in den führenden pädaudiologischen Abteilungen in deutschen Kliniken und in der Hörakustik vor. Es folgten nationale und internationale Vorträge zum Thema Hörsystemversorgung bei Kindern, ebenso zahlreiche Publikationen in Fachzeitschriften. Durch seine Tätigkeit als Pädakustiker wurde er bereits 1998 mit auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen konfrontiert. Sein Engagement gilt u. a. der Verbesserung von raumakustischen Verhältnissen in Kitas, Schulen und öffentlichen Einrichtungen sowie der Anerkennung auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen bei Erwachsenen. 2016 gab er das Sonderheft „Kinderversorgung Special“ der Fachzeitschrift „Hörakustik“ heraus. Seit 1998 ist Heinz Mitglied im interdisziplinär besetzten Arbeitskreis AVWS (Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen) in Stuttgart. 2003 trat er Deutschen Gesellschaft für Audiologie e.V. (DGA) bei. Von 1994 bis 2023 leitete er das Kinderzentrum Esslingen der iffland hören GmbH & Co. KG Stuttgart. Seine Intention ist es, das mögliche Vorliegen einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung auch bei erwachsenen Patienten im Rahmen der Hörsystem- und Hörimplantatversorgung zu berücksichtigen.

Inhaltsverzeichnis
Vorwort 11
Teil I
Auditive Kommunikationsstörungen,
Hörsystem- und Implantatversorgung
Auditive Kommunikationsstörungen (AKS) 14
Unser wohl emotionalster Sinn 17
Welche Arten von Hörstörungen gibt es und wie sind sie versorgbar? 18
Stigmatisierung auditiver Kommunikationsstörungen
und der Hörsystem-/Hörimplantatversorgung 22
Werbung für Hörhilfen und Hörimplantate 24
Hörsystem- und Implantatversorgung von Erwachsenen 27
•Der klassische Versorgungsweg 28
•Kritik 32
Worauf baut die Hörsystem- und Implantatversorgung eigentlich auf? 33
Ablauf der ersten Hörsystemversorgung 35
•Beratung und Empfehlung des Hörakustikers 36
•Hürden in der Beratung 37
•Apropos Handwerk in der Hörakustik 37
•Der große Tag – Erstanpassung von Hörsystemen/First Fit 38
•Erwartungshaltung von Familie und Freunden
bei und nach der Erstanpassung 40
•Erste Kontrolle nach der Erstanpassung 40
•Gleitende Anpassung 42
•Zubehör und Hilfestellungen 42
•Was ist zu tun, wenn sich der gewünschte Erfolg nicht einstellen will 43
•Anforderungen an den Berufsstand 44
•Feinjustierung und Nachjustierungsmöglichkeiten seitens des Fachpersonals 44
•Hörtraining und Audiotherapie 45
Und wenn keine Hörsystem mehr ausreichen 46
Welche Implantate stehen heute zur Verfügung
und für wen sind sie geeignet? 47
Zusammenfassung der apparativen Versorgungsmöglichkeiten
mit Hörsystemen und Hörimplantaten 51
Teil II
Auditive Verarbeitung und Wahrnehmung,
Ohr-Hirn-Schranke und Hirnhürden
Begriffsdefinitionen 54
Hochleistungsrechner Gehirn 54
•So läufts, wenn alles gut funktioniert 54
•Verstehaufwand in Störgeräuschsituationen 56
•Wahrnehmung 57
•Altersbedingte Kommunikationsprobleme und deren Phänomene 62
Zentral-auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (ZAVWS) 63
•Geschichte 63
•Definition einer (zentral-)auditiven Verarbeitungs- und
Wahrnehmungsstörung 64
•Konzentration auf den Kinder- und Jugendbereich 66
•Mischformen 66
•Diagnosestellung einer (Z)AVWS 66
•Warum sollte es nur Kinder- und Jugendliche betreffen? 67
•Bedeutung für die Hörsystem- und Implantatversorgung 68
•Missverständnisse, die oft unerkannt bleiben 72
•Innenohrschwerhörigkeit kann zu Änderungen im Gehirn führen 72
•Geschlechtsspezifische Unterschiede 73
•Rechtshänder oder Linkshänder 74
•Unterschiedliche Arten einer AVWS 76
•Was sagen Betroffene? 78
Die Bedeutung von Klängen und Musik 80
•Von Anbeginn 80
Ungestörte Hörbahnreifung und Förderung auch als
AVWS-Präventionsmaßnahme? 81
Miserable Raumakustik 82
Welche Besonderheiten gelten für Hörgeräte- und Implantatträger
(ohne und mit AVWS)? 85
Drahtlose akustische Übertragungsanlagen (DAÜ) 87
Was kann sonst noch getan werden? 91
Ausblick 92
Behind the Inner Ear 92
Sind neue Wege in der Hörakustik denkbar? 93
Weiterentwicklung der Technologien und der Diagnostik 95
Erweiterung des Aus- und Fortbildungsplans und der Patienteninformationen 96
Präventionsmaßnahmen 96
Beenden wir die Themen Klangbrei, Hörquark, Hirnhürden
und Ohr-Hirn-Schranke 97
Literaturverzeichnis 99
Danksagung 102
Zum Autor 103

Vorwort Das Wort „Klangbrei“ fällt oft, wenn Menschen ihre Hörsituation beschreiben möchten. Alles klingt undeutlich, die meisten nuscheln so fürchterlich und sprechen ohne Gefühl, habe ich schon oft hören müssen. Die glücksbringende Hoffnung: Mit Hörgeräten wird alles besser – anziehen und gut ist! So wird es von der Werbung und dem persönlichen Umfeld suggeriert. Hat man die Dinger dann erstmals am Ohr, wird aus dem „Klangbrei“ auch noch „Hörquark“, mit dem man zunächst noch weniger anfangen kann, da alles zu viel, zu laut ist und komplett fremd klingt! Warum schreibe ich so etwas? Bin ich ein Verräter meines Berufsstandes und der Hörgeräteindustrie? Nein, weit gefehlt! In 37 Berufsjahren in der Hörakustik durfte ich zum Teil epochale Entwicklungen seitens der Technik miterleben. Auch die Einsicht, dass der Mensch zwei Ohren hat, die versorgt werden sollten, sobald dort Probleme auftreten, hat tatsächlich stattgefunden. Als ich anfing, war die einseitige Versorgung mit einem Hörgerät der Standard. Persönlich glaube ich, dass damals der Grundstein dafür gelegt wurde, Hörhilfen zu stigmatisieren. Klar, die Betroffenen waren unzufrieden, weil sie mit nur einem Hörgerät (Implantate gab es damals noch nicht) in Gesellschaft nicht besser verstehen konnten. Auch war der Wissensstand der Audiologie (einfach: die Lehre des Hörens) bei Weitem noch nicht so weit fortgeschritten. Durch meine frühe Spezialisierung in der Versorgung hörgeschädigter Kinder wurde ich im Laufe der Jahre mit einem Phänomen konfrontiert, das zunächst Kindern und Jugendlichen zugeschrieben wurde. Auffallend war ein schlechtes Sprachverstehen, besonders im Umgebungsgeräusch, trotz eines gemessenen normalen Hörvermögens für Töne (Normakusis). Mir stellte sich dann die Frage, warum dieses Problem nur bei jungen Menschen auftreten sollte. Wie schon in den 1990er-Jahren, als ich mich für die Einführung einer besonderen Anpassmethode und entsprechender Messtechnik für Säuglinge und Kinder in Deutschland stark machte, die ich aus Kanada übernahm, führten mich meine Studien zur amerikanischen Literatur und die daraus neu gewonnenen Erkenntnisse dazu, meine Arbeit im Erwachsenenbereich zu überdenken. Jetzt, im Ruhestand, finde ich Zeit, diese Gedanken zu Papier zu bringen. Meine Intention ist es, mit diesem Buch zunächst einen Einblick in die heutige Hörsystem- und Cochlea-Implantatversorgung zu geben und Möglichkeiten und Grenzen aus meiner Sicht darzustellen. Ab dem Kapitel „Das muss andere Gründe haben“ werde ich ein bisschen tiefer gehen, um Gedanken zu weiteren möglichen Problemen einzubringen, die bisher nur wenig Beachtung fanden. Aspekte, die unmittelbar mit dem Verstehen – und nicht nur mit dem bloßen Hören – in Zusammenhang stehen, wie z. B. das Dilemma Raumakustik, werden ebenso angeführt. In diesem Kapitel werden dann auch erstmals die „Ohr-Hirn-Schranke“ und interne „Hirnhürden“ zur Sprache kommen. Die offene und eventuell auch provokative Darlegung meiner Gedanken und Meinungen können und sollen Anlass zur Überprüfung eigener Einstellungen, aber auch zu Kritik und Diskussion geben. Ziel ist es, für Normalhörende, Betroffene und audiologisch tätige Unterstützer die für Menschen mit auditiven Kommunikationsstörungen herausfordernde Alltagssituation des Verstehens darzulegen. Jochen W. Heinz August 2024 Im Rahmen der Lesefreundlichkeit wird in diesem Buch auf das Gendern verzichtet und ausschließlich das generische Maskulinum verwendet. Unabhängig davon sind alle Geschlechter gleichberechtigt angesprochen und gemeint.

Stigmatisierung auditiver Kommunikationsstörungen und der Hörsystem-/Hörimplantatversorgung Einschränkungen der auditiven Kommunikationsfähigkeiten hatten seit jeher – im Schwäbischen würde man sagen „a Gschmäckle!“. Im Mittelhochdeutschen bedeutete „tumb“ neben taub auch dumm, schwach von Sinnen, arglos unbekümmert, einfältig, naiv. Es war also schon immer naheliegend, Menschen, die auf Ansprache nicht ad- äquat reagierten, oder gar in ihrer Antwort – aufgrund der nicht vollständig erworbe- nen Sprachkompetenz – schlecht verstanden werden konnten, in die entsprechende Schublade zu stecken. Beobachtet man heutzutage Menschen, die mit tauben oder hochgradig schwerhörigen Menschen, die über keine oder geringe Lautsprachkompetenz verfügen, konfrontiert werden, zeigt sich auch hier leider immer noch dasselbe Verhaltensmuster. Auch in der Kinderversorgung kam bzw. kommt es häufig vor, dass Außenstehende fragen, ob das Kind auch geistig behindert sei. Man erkennt schnell, dass eine Einschränkung der auditiven Kommunikationsfähigkeit auch heute noch mit einer kognitiven Beeinträchtigung assoziiert wird. Dies wurde in den vergangenen Jahren sogar noch befeuert, ja, es wurde sogar regelrecht Angst geschürt, als man in der Wissenschaft mehr über das sensible Zusammenspiel unserer Sinne forschte und entsprechende Artikel auftauchten – auch hierzu später mehr. Als ich in den Beruf einstieg, bedeutete Schwerhörigkeit alt zu sein, dement zu sein und nicht mehr dazugehörend. Exakt diese Beschreibung „nicht mehr dazu gehörend“ trifft den Nagel auf den Kopf: Zu jemandem gehören heißt doch unmittelbar Bestandteil von etwas (Beziehung, Gruppe, Team etc.) zu sein. Gehöre ich nicht mehr dazu, bin ich automatisch ausgeschlossen, nicht mehr Bestandteil des Ganzen. Welche emotionalen Folgen das haben muss, kann man sich leicht vorstellen. Damit beginnt auch der Teufelskreis, sich peu à peu aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Wie oft berichteten Patienten: „Da gehe ich schon lange nicht mehr hin, da bekomm’ ich eh nichts mit!“ In meinen beruflichen Anfängen gab es noch Taschengeräte für hochgradig Schwerhörige. Diese Hörverstärker wurden am Körper getragen. Männer brachten das mehr als zigarettenschachtelgroße Teil meist in der Brusttasche ihrer Hemden unter, Damen dagegen häufig in selbst hergestellten Aufbewahrungstäschchen in ihren BHs. Davon ging dann ein Kabel ab, das zum Hörer (Lautsprecher) in der Ohrmulde führte. Dieser Hörer ragte dann weit aus dem Ohr heraus. Allein schon die Unterbringung des Geräts in oder unter der Kleidung brachte signifikante Nachteile mit sich, da dadurch auch die Schallaufnahme beeinträchtigt wurde und es stets zu Reibegeräuschen kam. Die später folgenden Hinter-dem-Ohr(HdO)-Hörsysteme wurden früher von der Industrie in einem sehr ansprechenden „Unterschenkelgehprothesen-Beige“ ausgeliefert, wie ich es auch heute noch nenne. Genau diese Farbe hat die Dinger zu echten Prothesen gemacht, die keiner wollte! Man darf es nicht sehen, möglichst unauffällig und so klein wie möglich: Das ist auch heute noch der größte Wunsch aller Patienten. Aufgrund meiner sehr früh begonnenen Schlagzeugerkarriere in einer Zeit, in der man noch keinen Gehörschutz trug oder sogar über ein In-Ear-Monitoring verfügte, bin ich heute stolzer Nutzer metallicblauer Systeme, die ein echter Hingucker sind. Ob meine basocochleäre Schallempfindungsstörung beidseits jedoch nur daher rührt oder aber auch durch das jahrzehntelange Abhören extremer Powersysteme, lasse ich mal da- hingestellt; der natürliche Alterungsprozess darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Im Vergleich zu den heutigen Hörsystemen waren die damaligen Systeme für mich Kühlschränke hinter den Ohren – in der oben beschriebenen Farbe. Wer wollte so etwas schon haben?! Wie bereits eingangs erwähnt, war in den 1980er-Jahren die Hörsystemversorgung auch bei beidseitiger Beeinträchtigung mit nur einem Hörsystem die Regel. Was bedeutete dies für die Patienten? In ruhiger Umgebung waren sie happy, aber genau dort, wo sie sich den größten Gewinn erhofften (weil sie wieder dazugehören wollten), waren sie je nach Art und Grad der Störung enttäuscht. Sprachverstehen in Gesellschaft funktioniert nur über zwei gesunde Ohren oder unter Zuhilfenahme weiterer Hilfsmittel, die es damals jedoch noch gar nicht gab. Seitens der Technik gab es noch größere Defizite. Bei allen Hörgeräten handelte es sich bis zur Einführung digitaler Hörsysteme 1996 um analoge Systeme. An eine digi- tale Signalverarbeitung war noch nicht zu denken. Man lötete sich an Widerständen, Kondensatoren, Transistoren noch die Finger wund. Reparaturtechnik war Bestandteil der Ausbildung, ebenso die Berechnung von Transistorkennlinien – heute unvorstell- bar. Auch die Verstärkungsphilosophie (meist linear verstärkend) bedurfte der aktiven Bedienung durch den Patienten selbst, da er – je nach Stellung des Potentiometers (Lautstärkeregler) und einwirkendem Schallpegel – stets lauter oder leiser stellen musste. Einige werden sich eventuell noch an die stets kurbelnden Hörgeräteträger erinnern können und ebenso an eine damit verbundene, sehr nervige Begleiterscheinung: dem lästigen Rückkopplungspfeifen. Es gab damals keine Rückkopplungsunterdrückungsmechanismen, die dieses Phänomen in den Griff bekommen konnten. In einigen Fällen war es sogar so, dass diese Rückkopplung nicht nur mit der Hand in der Nähe des Hörgeräts, sondern auch durch das Eintreten in einen engen Raum, wie beispielsweise der Toilette, ausgelöst werden konnten. Da dieses Rückkopplungspfeifen von den Anwendern selbst oft nicht wahrgenommen wird, das Umfeld jedoch höchst allergisch reagiert, kann ein „Whistler“ schnell zum Opfer werden: „Du pfeifst schon wieder, mach das Ding aus!“ – also wieder kein Sympathieträger. Die Folge war, dass man die Hörhilfe häufig nur dann benutzt hat, wenn es zwingend notwendig war. Heute muss ich mich schon fragen, warum sich diese Negativaspekte um Menschen mit auditiven Kommunikationsstörungen und damit verbundene Interventionen (Therapien, apparative und operative Versorgungen) bis heute noch aufrechterhalten konnten. Müssten wir es in unserer multimedialen Welt heute nicht deutlich besser wissen? Es hat doch auch auf anderen Ebenen ein Wandel stattgefunden: In meiner Grundschulzeit waren Brillenträger noch „Brillenschlangen“. Zugegeben, damals gab es wirklich nur wenige Kinder, die Brillen trugen. Und heute? Brillen haben sich bei Kindern mehr als etabliert, weil man die Notwendigkeit erkannte und auch schnell den Benefit für die Kinder nachweisen konnte. Bei Erwachsenen sind Brillen mittlerweile ein modisches Accessoire geworden, können einem Gesicht Akzente und Anerkennung verleihen. Leider werde ich eine ähnliche Entwicklung bei Hörsystemen und Hörimplantaten wohl nicht mehr miterleben dürfen. Zentral-auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (ZAVWS) Diese wird auch als auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) bezeichnet und im anglo-amerikanischen Sprachraum unter dem Begriff Central Auditory Processing Disorders (CAPD) oder als Auditory Processing Disorders (APD) geführt. Geschichte Dieses Syndrom wurde bereits im Jahr 1948 von dem amerikanischen HNO-Arzt Samuel J. Kopetzky (1876–1950) beschrieben und im Jahr 1954 von P. F. King näher untersucht. Das heute noch unter dem Namen „King-Kopetzky-Syndrom“ bekannte Krankheitsbild ist sicher die erste, detailliertere Darstellung auditiver Kommunikationsprobleme, die sich trotz eines vollkommen intakten, peripheren Hörvermögens nachweisen ließen. Hierbei klagen die Patienten, hauptsächlich in Störschallsituationen Probleme hinsichtlich des Sprachverstehens zu haben. Im gleichen Jahr kam es noch zu weiteren Publikationen: Das Prinzip einer auditorisch-spezifischen Wahrnehmungsstörung bei Kindern wurde von Helmer Myklebust (Hammill Institut Preservation Project 2012), Psychologe an der Northwestern University in Evanston, Illinois, USA, beschrieben. Er berichtete von Kindern, bei denen eine periphere Hörstörung sicher ausgeschlossen werden konnte, die jedoch in geräuschvollen Alltagssituationen nicht in der Lage waren, akustische Anweisungen korrekt zu verstehen. Er vermutete eine Selektionsstörung hinsichtlich Sprache und konkurrierenden Geräuschen. Durch die Phänomene von Hirnläsionen, z. B. Schädel-Hirn-Traumata nach Unfällen, lernte man rasch die damit verbundenen Ausfälle in den jeweiligen Hirnregionen und deren Auswirkungen auf den auditorischen Kortex zu verstehen. Hierbei war der Kontralateraleffekt (Hirnläsion des Temporallappens auf einer Seite und Defizite auf dem gegenüberliegenden Ohr) von besonderer Bedeutung. 1954 stellten Ettore Bocca und Kollegen fest, dass die Reintonaudiometrie zur Feststellung von läsionsbedingten Hörschädigungen ungeeignet ist. Über die Jahre hinweg wurde global in diesem Bereich geforscht. Trotzdem dauerte es bis in das Jahr 1977, als der erste, von Robert W. Keith initiierte Kongress unter dem Titel „Zentral-auditorische Dysfunktionen“ an der Universität von Cincinnati, USA, stattfand. Diese Bezeichnung hat sich jedoch nicht manifestieren können. Keith selbst berichtet, die Bezeichnung APD erstmals im Jahr 1973 von Jack Willeford anlässlich eines ASHA(American Speech-Language- Hearing-Association)-Treffens gehört zu haben (Wikipedia 2024). Im März 2012 fand in Boston im Rahmen der Jahrestagung der AAA (American Academy of Audiology) die weltweit erste Konferenz führender Wissenschaftler zu diesem Thema statt. Wie später auch in Deutschland einigte man sich auf einen neuen Überbegriff der Central Auditory Processing Disorders (CAPD), um möglichst alle damit auftretenden Probleme umfänglich erfassen zu können. In Deutschland kristallisierte sich der Terminus zentral-auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (ZAVWS) heraus. Diese Beschreibung wurde zwischenzeitlich gelockert, da die Zuordnung rein zentraler Hörprozesse z. T. sehr differenziert betrachtet wurde bzw. wird. So existieren sowohl im anglo-amerikanischen als auch im deutschen Sprachraum zwei Beschreibungen in Koexistenz. Im anglo-amerikanischen Raum existieren CAPD und APD nebeneinander, bei uns sind es die Termini ZAVWS und AVWS. Vermutlich liegt es an Kopetzkys Entdeckung, dass man diese Erkrankung über Jahre hinweg nur Kindern und Jugendliche zuordnete bzw. dies heute noch tut. In Deutschland wurde der Begriff der ZAVWS erstmals durch ein Konsensuspapier der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologe e.V. (DGPP), im Jahr 2000 eingeführt. Die letzten Jahre der 1990er- und die frühen 2000er-Jahre waren die Zeit, als mir die ersten Kinder und Jugendlichen mit diesem Problem vorgestellt wurden. Definition einer (zentral-) auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung Nach pädaudiologischem Verständnis in Deutschland sind laut S1-Leitlinie 2019 der DGPP (Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V) „Auditive Ver- arbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen“ (AVWS) Störungen zentraler Prozesse des Hörens, (Anm.: Bei normalem Tonaudiogramm!) die u.a. die vorbewusste und bewusste Analyse, Differenzierung und Identifikation von Zeit-, Frequenz- und Intensitätsveränderungen akustischer oder auditivsprachlicher Signale sowie Prozesse der binauralen Interaktion (z. B. zur Geräuschlokalisation, Lateralisation, Störgeräuschbefreiung und Summation) und der dichotischen Verarbeitung ermöglichen. Hierbei können sowohl efferente als auch afferente Funktionen betroffen sein.“ (DGPP 2019) In dieser Leitlinie wird der Terminus „Verarbeitung“ als neuronale Weiterleitung, Vorverarbeitung und Filterung auditiver Signale auf unterschiedlichen Ebenen (Hörnerv, Hirnstamm und Hörkortex) und somit als einen Buttom-up-Prozess verstanden. Dieser beschreibt die Eigenschaften des afferenten (aufsteigenden) Systems. Die Wahrnehmung (Perzeption) als kognitiver Prozess mit zu höheren Zentren detaillierterer Analyse auditiver Informationen, die durch Top-down-Prozesse beeinflusst werden (Erlerntes, Erfahrenes, Gedächtnis, Aufmerksamkeit). Dies wiederum entspricht den Eigenschaften des efferenten Systems – oder simpel dargestellt: Verarbeitungsstörung bedeutet eine Störung der Signalverarbeitung zwischen dem Hörnerv und der primären Hörrinde. Wahrnehmungsstörung bedeutet eine Störung der Auswertung (der korrekt weiter- geleiteten Signale) in den jeweiligen Arealen (Großhirnrinde bis hin zu den Sprachzentren. Diese vereinfachte Darstellung verleitet zu einer Fehlinterpretation, da sie nur die neurophysiologische Hierarchie beschreibt. Ebenso werden in dieser Leitlinie drei Typen der AVWS unterschieden: AVWS mit Schwerpunkt in der auditiven Verarbeitung (mit Defiziten in sprachfreien Funktionen, aber auch beim Verstehen im Störgeräusch, schneller Sprache und dichotisch angebotener Sprache) AVWS mit Schwerpunkt in der auditiv-sprachlichen Verarbeitung (keine Defizite in den basalen Funktionen, jedoch in der Phonemdiskrimination, -identifikation, -ana- lyse und Synthese, und/oder im auditiven Kurzzeitgedächtnis) VWS mit Einschränkungen in der auditiven und auditiv-sprachlichen Verarbeitung (als Mischform von beidem).

Erscheinungsdatum
Sprache deutsch
Maße 170 x 240 mm
Gewicht 310 g
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie
Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Schlagworte auditive Kommunikationsstörungen • Hörgeräte • Hörsystem- und Implantatversorgung • Lautspracherwerb
ISBN-10 3-941146-89-0 / 3941146890
ISBN-13 978-3-941146-89-1 / 9783941146891
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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