Zwischen uns liegt August (eBook)
269 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-83703-6 (ISBN)
Ein erwachsener Sohn verliert seine Mutter. In den Wochen vor ihrem Tod gibt der Alltag den Rhythmus vor: es wird gekocht, auf Krankenhausfluren gewartet, gehofft und getrauert. In den Alltag schleichen sich Geschichten, Die, die immer erzählt wurden, und die, die dahinter durchschimmern. Was weiß der Sohn, in Deutschland zu Hause, von der Jugend seiner Mutter in der Türkei? Während Anil und seine Familie in der Gegenwart versuchen, zu begreifen, welchen Einfluss der nahende Tod ihrer Mutter auf sie hat, sucht Mürüvvet, die Frau, die seine Mutter einmal gewesen ist, im westtürkischen Aydin 1973 nach Wegen ins Leben. Inmitten politischer Umstürze gibt sie alles, um ihren Vater davon abzuhalten, sie nach Deutschland mitzunehmen. Sie fürchtet um ihre Träume, bis der Gedanke an Deutschland sie nicht mehr loslässt.
Ein Roman über einen Abschied aus der Türkei und einen Neuanfang in Deutschland, über die oft unerträgliche Entfernung zu denen, die uns räumlich am nächsten sind - und über den verzweifelten Wunsch, Liebe nachzuholen.
Fikri Anil Altintas, 1992 in Wetzlar geboren, lebt und arbeitet in Berlin. In seinen Texten, u.a. für die ZEIT, taz, Deutschlandfunk Kultur, ZDF und Berliner Ensemble, beschäftigt er sich mit Männlichkeiten, Antifeminismus und der (De)-Konstruktion von nicht-weißen, muslimisch gelesenen Männlichkeiten in Deutschland. Sein Debütroman "Im Morgen wächst ein Birnbaum" erschien 2023.
11:47 Uhr an der Lahn
Zu deinem Geburtstag habe ich dir deine Lieblingsblumen mitgebracht: einen Strauß mit pinkfarbenen und tiefroten Rosen. Durch die Haustür erkenne ich die Konturen deines Oberkörpers: Ein großer, schwarzer Fleck mit blauen Sprenkeln, das muss deine selbst gestrickte Weste sein. Du öffnest die Tür und gibst mir einen Kuss auf die Wange. Deine Hand halte ich sanft gegen meine Stirn. Du bist meine Mutter, ich kenne es nicht anders.
«Canım oğlum, çok teşekkür ederim. Eline, ayağına sağlık.»
Die weiße Tüte lege ich in das Ablagezimmer, das in der Vergangenheit Opas Zimmer war.
Ich bin heute früh aufgestanden, damit ich nicht zu spät ankomme. Du beginnst den Tag gerne mit mir. Wenn ich erst nach dem Frühstück da bin, sehe ich dir die Enttäuschung an. Ihr frühstückt meistens zwischen 10:00 und 11:00 Uhr. Am Telefon beschwerst du dich oft darüber, dass Baba so spät ins Bett geht, weil er auf seinem Handy bis in die Nacht Videos von Polit-Talkshows oder Konzerten auf Facebook anschaut, während parallel der Fernseher läuft. Zeitung liest er kaum noch. Damit du deine Ruhe hast, gehst du früher ins Bett.
Die Tür zum Wohnzimmer steht weit auf. Der Fernseher ist wie gewohnt zu laut. Dramatische Streichmusik im Hintergrund, ich höre Gesprächsfetzen von Nachrichtensprechern des oppositionellen Sözcü TV:
«ÇOK SAYIDA ÖLÜ VAR. CUMHURBAŞKANI ULUSAL YAS İLAN ETTİ. ÜLKE ŞOKTA. BUNA ALIŞMAMALIYIZ. TÜM SORUMLULARA SESLENİYORUM: ARTIK BU DEHŞETE BİR SON VERİN, YETER ARTIK.»
«ES GIBT MEHRERE TOTE. DER PRÄSIDENT RUFT STAATSTRAUER AUS. DAS LAND STEHT UNTER SCHOCK. DARAN DÜRFEN WIR UNS NICHT GEWÖHNEN. ICH APPELLIERE AN ALLE VERANTWORTLICHEN: SETZT DIESEM SCHRECKEN ENDLICH EIN ENDE, WIR HABEN GENUG.»
Baba ist mit allen einkaufen, sie kommen am frühen Abend zurück. Davor wollen sie ins Haus meiner Schwester, das Bad und die Küche müssen fertig renoviert werden. Zum Glück bin ich erst jetzt angekommen, sonst hätte ich mitgehen müssen. Du weißt, dass Handwerken mit Baba nie meine Sache war.
Heute hättest du wieder nicht durchschlafen können, sagst du, dein Magen mache dir Probleme, als du dich kurz auf den Stuhl in der Küche setzt. Ich umarme dich ein zweites Mal, du drückst deinen schwachen Körper an meine Brust. Auf dem Tisch hast du Çaygläser vorbereitet. Ich traue mich kaum, dir zu sagen, dass ich morgen schon weitermuss. Eine Lesung in Süddeutschland, das verstehst du sicher.
«Schade.»
«Ich weiß. Ich würde auch lieber länger bleiben. Aber dafür machen wir uns heute einen schönen Abend, tamam mı?»
«Tamam.»
Du drehst deinen Kopf weg, atmest laut vor dich hin und läufst ein paar Schritte. Ich weiß nicht, ob du enttäuscht bist oder angestrengt. Dieser Tage ist das schwer zu sagen.
Das Wetter im August hat noch nie enttäuscht, sagst du, selbst hier in Deutschland. Die Sonne scheint, es ist keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Zu deinem Geburtstag kommt die ganze Familie zusammen, wie du es wolltest. Die Liste der Zutaten für das Abendessen hat Defne in großer Schrift aufgeschrieben und auf den Glasschrank neben dem Herd geklebt, sodass es von jedem Punkt der Küche gut lesbar ist:
ZUTATEN FÜR Mantı. 500 g Mehl. 1 Ei. 1 TL Salz. Für die FÜLLUNG: 250 g Hackfleisch, Rind und Lamm gemischt. 1 Zwiebel. 2 EL Petersilie (glatt). Salz und Pfeffer und Paprikapulver. Für die SAUCE: 750 g türkischen Joghurt. 3 Knoblauchzehen. 3 EL Butter. 2 EL Paprikamark (scharf!). 1 EL Minze, getrocknet.
Wie schön, sage ich, Defne hat alles vorbereitet. Ich frage dich, ob du den Zettel gesehen hast.
«Ich weiß, wie man Mantı macht. Ich brauche kein Rezept.»
«Ist das so?»
«Tabii Anıl. Den Teig habe ich heute Morgen schon vorbereitet. Kümmere du dich um das Hackfleisch. Die Petersilie liegt im Kühlschrank.»
Du setzt dich an den Tisch, ziehst das Geschirrtuch zur Seite und greifst aus der weißen Plastikschale eine Handvoll Teig. Daneben liegt eine Aluminiumschale für das Hackfleisch bereit. Der Holzstuhl, auf dem du sitzt, hat schwarze Beine und eine helle Sitzfläche. Nach dem Umzug haben wir alles neu in der Küche gekauft, nur die Stühle wolltest du aus der alten Wohnung behalten. Du greifst mit deiner linken Hand in den Weizenmehlbeutel und wirfst eine Prise Mehl auf den Teig. Ich gehe zum Kühlschrank, hole die Petersilie heraus und werfe dabei einen Blick in die Küche: Nichts hat sich verändert, seit wir von deiner Krankheit wissen. Der Esstisch lehnt an der Wand, gegenüber die u-förmige Küchenzeile mit zwei großen Fenstern, die einen Blick in den Garten unserer Nachbarn eröffnen. Der Wasserkocher steht noch immer rechts neben der Spüle im Eck, der Mini-Backofen links neben dem Herd daneben. Der Fernseher links der Tür auf dem kleinen Vorsprung neben dem Airfryer, den ich dir vor ein paar Wochen erst kaufte, weil ich euch das Kochen erleichtern wollte. Es hat sich kaum etwas verändert. Und doch veränderten sich unsere Wege in diesem Raum. Du bist seltener in der Küche; Baba, Defne und ich hingegen öfter. Den Teig hast du inzwischen ausgerollt, und als ich es bemerke, berührt mich, wie vollkommen die Fläche noch immer aussieht. Keiner von uns kann das wie du. Während ich den Gedanken fasse, hast du schon angefangen, erste Quadrate aus dem flachen Teig auszuschneiden. Das Rezept sagt, dass man nicht zu viel Hackfleisch in den Teig verarbeiten soll.
12:00 Uhr würdest du sagen, es ist 11:47 Uhr. Mein Koffer steht noch im Flur. Ich wollte ihn hoch in mein Kinderzimmer tragen, aber du sagtest, dass wir erst alles vorbereiten sollten. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Einen Zeitpunkt für das Abendessen haben wir nicht festgelegt, ich weiß aber, dass 18:30 Uhr eine gute Zeit für dich ist. Unsere deutschen Nachbarn essen schon früher, gegen 18:00 Uhr, wie sie wollten wir jedoch nie sein.
Jeder deiner Griffe und Bewegungen ist mir vertraut. Ich weiß, wann du das Nudelholz vom Teig hebst und wieder eindrückst. Wann du kurz aufhörst und aufstehst, weil dir ein Gedanke gekommen ist. Dass du mich gleich dazu auffordern wirst, den Brotkorb vom Tisch zu nehmen, damit wir mehr Platz zum Ausrollen des Teigs haben. In deiner Schürze mit den Blumenmustern schneide ich die Petersilie für das Hackfleisch. Das Rezept sagt, ich solle sie so klein wie möglich schneiden. Sogar das Messer schärfe ich vor deinen Augen. Ich stehe wie ein Küchenchef an der Spüle, schaue bedächtig aus dem Fenster und ziehe das kleine Messer über den Wetzstein. Heute will ich dir zeigen, dass ich dir in der Vergangenheit zugehört habe. Es interessiert dich nicht mehr, ich verstehe das. Ich fülle dein kleines Glas mit stillem Wasser auf. Deine Hand lässt du in kreisenden Bewegungen kurz über deinen Bauch gleiten. Als ob ich nicht wüsste, dass du Bauchschmerzen hast. Gerade hast du keinen Durst. Ich verstehe, sage ich, aber später trinkst du was, ja?
«Tamam, tamam.»
Ich will den Sender wechseln, sicherlich laufen Fußballspiele im Fernsehen. Du drehst dich um und sagst: «Nein. Ich schaue Derya!» Derya teilt vormittags Häkeltipps und Kochrezepte im Hauptprogramm von TV8. Sie scheint die einzige Person zu sein, mit der du Zeit verbringst, wenn Baba nicht zu Hause ist.
Pünktlich um zwölf lässt die Uhr über dem Wasserkocher zwölf Mal ein kurzes Vogelgezwitscher erklingen. Auf der Arbeit würde ich jetzt Mittag machen, sage ich dir und versuche, dir...
| Erscheint lt. Verlag | 21.8.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte | |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Sachbuch/Ratgeber ► Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft ► Geld / Bank / Börse | |
| Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abschied • autobiografische Fiktion • Aydin • Belletristik • Entfernung • Erinnerung • Familiengeschichte • Fikri Anil Altintas • Herkunft • Identität • Krankenhausalltag • Kulturelle Entfremdung • Liebe • Literatur • Migrationserfahrung • Mutter-Sohn-Beziehung • Neuanfang • Roman • Sehnsucht • Trauer • türkisch-deutsche Familie • Umbrüche • Verlust • Zweite Generation |
| ISBN-10 | 3-406-83703-4 / 3406837034 |
| ISBN-13 | 978-3-406-83703-6 / 9783406837036 |
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