Vom Überfluss zur inneren Fülle (eBook)
277 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8197-2913-3 (ISBN)
Oliver Bartsch hat als Online-Redakteur und Fachjournalist mit den Schwerpunkten Achtsamkeit, Psychologie, Spiritualität und Postwachstums-Ökonomie für viele verschiedene Verlage und Online-Portale gearbeitet. Heute arbeitet der gelernte Verlagskaufmann, Germanist und Gestalttherapeut als Lehrer an einem bayrischen Gymnasium.
Oliver Bartsch hat als Online-Redakteur und Fachjournalist mit den Schwerpunkten Achtsamkeit, Psychologie, Spiritualität und Postwachstums-Ökonomie für viele verschiedene Verlage und Online-Portale gearbeitet. Heute arbeitet der gelernte Verlagskaufmann, Germanist und Gestalttherapeut als Lehrer an einem bayrischen Gymnasium.
Leben in Achtsamkeit
Ich habe kein Navi im Auto und möchte trotzdem das abgelegene Intersein-Zentrum finden, wo ich mich fünf Tage lang in Achtsamkeit üben will. Trotz Google-Maps und der Versicherung, dass es an der Straße ein Schild gibt, kann ich keins entdecken und irre orientierungslos durch die Gegend. In einem zünftigen bayrischen Wirtshaus frage ich nach einem von Laien geleiteten Zentrum für spirituelle Praxis und Meditation in der Übertragungslinie von Thich Nhat Hanh, dem Intersein-Zentrum für Leben in Achtsamkeit, was mit einem ungläubigen Achselzucken quittiert wird.
Zartes Grün
Erst als ich nach einem Ort frage, wo gestresste Großstädter nur durch Schweigen und Beten relaxen und zu sich selbst finden können, leuchtet ein verstehendes Wissen in den Augen der katholischen Wirtsleute: "Da müssen’s nur noch den Weg hochfahren und den Schildern folgen." Tatsächlich sehe ich nach wenigen hundert Metern ein kleines, verwittertes Holzschild mit dem Hinweis "Haus Maitreya".
Meine erste Lektion habe ich verstanden: "Vertraue darauf, dass du den Weg findest, auch wenn er noch vielleicht so weit entfernt scheint."
Ich komme zur Abendessen-Zeit an, genieße aber erst mal den grandiosen Ausblick, denn das Zentrum liegt eingebettet inmitten malerischer Hügel in unmittelbarer Nähe zum Nationalpark Bayerischer Wald. Ich setze mich auf eine Bank, die auf einer Anhöhe am Rand des Anwesens steht und den Blick auf ein atemberaubendes Landschafts-Panorama freigibt: Die Bäume tragen ein erstes zartes Grün, aber die in den Senken liegenden Schneereste zeugen noch vom nahen Winter.
Nonverbale Kommunikation
Ulrike, ein Mitglied der elfköpfigen Sangha, die ständig dort lebende spirituelle Gemeinschaft der Praktizierenden, zeigt mir das "Eichelhäher"-Zimmer, dass ich zusammen mit zwei anderen, mir noch unbekannten männlichen Besuchern teile. Ich muss wohl leicht die Augenbrauen nach oben gezogen haben, denn ich werde von Ulrike gefragt, ob mit meinem Bett etwas nicht in Ordnung sei und ob ich ein anderes möchte. Beschämt muss ich mir eingestehen, dass ich unangenehm überrascht war, eine auf dem Boden liegende Matratze und kein richtiges Bett vorzufinden, dies aber verbal nicht kommunizieren wollte und mich zu einer mir unbewussten nonverbalen Kommunikation habe hinreißen lassen. Ich stammele etwas von "Nein, ist schon in Ordnung so" und denke mir, dass die Mitbewohner nicht nur "Achtsamkeit" in ihre Werbe-Broschüre hineingeschrieben haben, sondern sie auch im Alltag praktizieren. Meine zweite Lektion: "Achte darauf, was du sagst und auch darauf, was du nicht sagst."
Buddha und Jesus
Das Oster-Retreat trägt den Titel "Lebendiger Buddha – lebendiger Christus". Karl Riedl, der zusammen mit Helga Riedl das Zentrum mit viel Liebe, aber auch Disziplin seit 1999 leitet, wird den rund vierzig aus ganz Deutschland und dem benachbarten deutschsprachigen Ausland angereisten Gästen – darunter vielen, die jedes Jahr wiederkommen – in vier Vorträgen seine Gedanken dazu nahe bringen.
Natürlich frage ich mich als blutiger Anfänger (ich meditiere erst seit zwei Monaten regelmäßig) schon, wie ich in mir das Christusbewusstsein und die Buddhanatur entdecken kann, die das im Prospekt angekündigt werden, aber nach fünf Tagen intensiver Zurückgeworfenheit auf mich selbst bekomme ich eine Ahnung davon, was es heißt, ein "Bodhisattva" zu sein. Meine dritte Lektion lautet: "Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen."
Aus dem Strom treten
Bevor die Buddhanatur in mir lebendig werden kann, heißt es fünf Tage lang alles ganz langsam tun: "Aus dem Strom treten" nennt Helga das bei der Begrüßung von uns Neuen – von den 42 Gästen sind nur acht zum ersten Mal hier. Entschleunigung ist also angesagt, beim Treppensteigen, beim Essen, beim achtsamen Tun (jeden Vormittag eineinhalb Stunden putzen oder im Garten arbeiten) – bei allem, was du tust. "Schenkt euch jeden Morgen im Spiegel ein Halblächeln", sagt Helga noch, und "der Geist sollte uns nicht beherrschen, erlauben wir ihm, sich auszuruhen", da rast mein Gedankenkarussell schon wie wild, weil ich hin- und hergerissen bin zwischen den tausend Fragen, die ich als Journalist noch habe und dem Verlangen nach innen zu gehen, zur Ruhe zu kommen, in die Stille zu gelangen.
Ich beschließe, keine Fragen zu stellen und früh zu Bett zu gehen, denn am nächsten Morgen reißt mich der Gong um 5.30 Uhr aus meinen Träumen, und ich wanke zur Morgenmeditation.
Um 5.55 Uhr gelange ich in den Meditationssaal, verneige mich vor dem Buddha – eigentlich vor meiner Buddhanatur – und begebe mich auf den einzigen noch freien Platz: Ich bin der letzte, falle gleich vom viel zu schmalen Meditationskissen und versuche, mich bei der angeleiteten zwanzigminütigen Meditation nicht auf meine eingeschlafenen Beine, sondern auf meinen Atem zu konzentrieren. Wir sitzen dicht an dicht, und ein leichtes Gefühl der Beklemmung breitet sich in mir aus; der Soziopath in mir beansprucht mehr Platz und der Asthmatiker mehr frische Luft. Ich fange an zu schwitzen und atme in meine Beklemmung, in die Enge meines Brustkorbs hinein in der Hoffnung, dass er sich ein wenig öffnen möge und ich Gedanken, Ängste, Sorgen und Probleme loslassen kann. Dann endlich der erlösende Gong, dem sich eine fünfminütige Gehmeditation anschließt. Das Blut strömt in meine Beine zurück; dankbar nehme ich die Gelegenheit zur Bewegung wahr. Meine stillen Wünsche werden erhört, denn ein Mitglied der Sangha öffnet die Fenster; gierig sauge ich die frische Luft in meine Lungen.
Sonnengruß
Dann folgt die Morgen-Gymnastik, und ich entscheide mich für Yoga mit Helga, eine weise Entscheidung, denn schon nach zehn Minuten "Sonnengruß" bin ich wohltuend in meinem Körper angekommen und fange an zu schwitzen, diesmal aber nicht aus Beklemmung, sondern weil mein Puls auf 180 ist. Erstaunt stelle ich fest, dass Helga, obwohl schon fast siebzig Jahre alt, so gelenkig ist wie eine 18-Jährige und alle Übungen mit ruhiger, nicht-außer-Atem kommender Stimme erklärt, während ich und die anderen Praktizierenden schon außer Atem sind: "Ich war steif wie ein Brett, als ich vor dreißig Jahren mit Yoga anfing", versichert sie uns. Seitdem praktiziere sie jeden Morgen ihr Yoga, dass ihr Frische und ein gutes Körpergefühl beschere. Ich beschließe, ab heute jeden Morgen den Sonnengruß zu machen, um mit siebzig auch noch so jugendlich und fit zu sein wie sie. Meine vierte Lektion lautet: "Es ist nie zu spät, mit etwas anzufangen, solange du es regelmäßig praktizierst."
Achtsames Tun
Im Morgenkreis fassen wir uns alle an den Händen, werden uns unseres Atems bewusst, singen ein gemeinsames Lied und werden für "das achtsame Tun" eingeteilt – eine Art Arbeitsmeditation. Ich melde mich zum Glastüren putzen, eine auch in meiner Freizeit außerordentlich befriedigende Tätigkeit, denn sie sorgt für den klaren Durchblick. Während des Tages erklingt in unregelmäßigen Abständen ein Gong, der zum Innehalten, zum Unterbrechen des Redens oder Tuns, zum Wahrnehmen des Atems und damit des Lebens einladen soll. Ich erwische mich dabei, wie ich noch mehr Zeit schinden will, indem ich den Teebeutel noch während des Gongs in das heiße Wasser tauche, damit er während der Pause ziehen kann, und ich so die zwei Minuten Stille nicht vergeude. Wie tief ich von dem Gedanken geprägt bin, mehrere Dinge auf einmal zu tun, um Zeit zu sparen, und mich damit vom "zur Ruhe kommen" selbst abhalte, wird mir erst im Laufe dieses Retreats so richtig bewusst.
Wenn ich spüle, spüle ich
Im Spülraum hängt ein Schild: "Wenn ich spüle, spüle ich; wenn ich esse, esse ich; wenn ich schlafe, schlafe ich." Genau das ist der Kern des achtsamen Tuns, der täglichen Praxis, die sehr schwer umzusetzen ist und der täglichen Übung bedarf. Nur wer sich voller Aufmerksamkeit auf das konzentrieren kann, was er gerade tut, sei es spülen, spazieren gehen oder einen Bericht wie diesen schreiben, wer sein Bewusstsein wie einen Laserstrahl auf sein jeweiliges Tun – und später auch Denken – richten kann, der nähert sich seiner Buddha-Natur, die ein Leben voller Liebe, Frieden, Glück und Mitgefühl bedeutet.
Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Zunächst muss ich mal verkraften, dass meine sauber geputzten Glastüren am nächsten Tag vor lauter unachtsamem Anfassen schon wieder voller Fingerabdrücke und Fettflecken sind, und mich weht der Hauch der Vergeblichkeit und die Vergänglichkeit allen Tuns an. "Du musst nichts erreichen, sei einfach wachsam und aufmerksam im Hier und Jetzt", hält mir eine Teilnehmerin entgegen, als ich mich über die Unachtsamkeit beschwere, wie hier mit geputzten Glastüren umgegangen wird. Meine fünfte Lektion lautet: "Sei tolerant deinen Mitmenschen gegenüber, andere Menschen gibt es nicht."
Nichts tun
Karl Riedl zitiert in seinem österlichen Vortrag ein Gedicht von Bertold Brecht:
Radwechsel
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?
"Was will uns Bertold Brecht damit sagen? Er beschreibt eine wichtige innere Bewegung: Wir sollten den Radwechsel – der nichts anderes ist als eine spirituelle Krise – dazu benutzen, den Feldherrnhügel zu besteigen, eine höhere Warte einzunehmen. Wir sind immer noch mit allem verbunden, aber mit einem Abstand, der es uns erlaubt, aus dem Verurteilen auszusteigen und nur das wahrzunehmen, was ist, ohne Bewertung, ohne Urteil, ohne Anklagen, ohne Suchen nach dem Warum, ohne etwas gut oder schlecht zu finden. Ankommen bei uns selbst ist die grundlegende Praxis, der Kern...
| Erscheint lt. Verlag | 8.6.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
| Schlagworte | Achtsamkeit • Postwachstumsökonomie • Psychologie • Spiritualität |
| ISBN-10 | 3-8197-2913-5 / 3819729135 |
| ISBN-13 | 978-3-8197-2913-3 / 9783819729133 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich