Schwanentage (eBook)
224 Seiten
Ecco Verlag
9783753001173 (ISBN)
»Zhang Yuerans Szenen und Bilder haben einen weltentrückten Glanz, der sowohl von hart gewonnener Einsicht als auch von zeitloser Wahrheit geprägt ist.« Ian McEwan
Das Kindermädchen Yu Ling arbeitet für ein wohlhabendes Ehepaar der chinesischen Elite und kümmert sich hingebungsvoll um deren siebenjährigen Sohn. Yu Ling kennt die Geheimnisse der Familie bis ins Detail, ihre Arbeitgeber hingegen ahnen nicht, dass auch sie einiges verbirgt. Eines Tages plant Yu Ling in der Hoffnung auf Lösegeld und ein besseres Leben, den Jungen zu entführen. Doch es kommt ganz anders: Großvater und Vater des Jungen werden wegen Korruptionsverdachts verhaftet, die Mutter verschwindet spurlos - und Yu Ling ist plötzlich gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die weit in die Zukunft reichen, für sich wie für den Jungen ...
Zhang Yueran schreibt zärtlich, doch mit unerbittlicher Prägnanz über Beziehungsdynamiken und Klassismus aus der Sicht eines Kindermädchens und gewährt so einen einzigartigen Blick auf die chinesische Gesellschaft.
<p>Zhang Yueran ist eine der einflussreichsten Autorinnen Chinas und eine der wichtigsten Stimmen junger urbaner Literatur. Schon 2012 zählte sie das taiwanische<i>Unitas-</i>Magazin zu den 20 wichtigsten Schreibenden unter 40. Ihre Romane und Erzählungen wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ihr Roman »Cocoon« wurde von der <i>New York Times </i>zu den besten Büchern 2022 gewählt und gewann in Frankreich den Prix Transfuge 2019 für den besten asiatischen Roman.</p>
3
Der Junge klebte mit der Wange am Fenster, reglos wie eine Eidechse. Der monotone Ablauf der Comedy hatte ihn schläfrig gemacht.
Der Mann fingerte an seinem Handy herum, dann schaltete er das Radio ein. »Warum kommt keine Musik?«
Kaum hatte er das gesagt, kam ein Brummen aus den Lautsprechern, dann Gesang, der aber gleich ausblendete, wie ein davonfliegender Luftballon. Als das Rauschen nachließ, kam die Musik wieder zurück. Zwei Zeilen eines Lieds ertönten, doch dann legte sich wieder ein Rauschen und Pfeifen darüber, noch stärker als zuvor. Yu Ling hielt sich die Ohren zu und bat den Mann, sofort das Radio abzuschalten. Stur drehte er den Sendersuchknopf, bis er einen störgeräuschfreien Kanal fand, auf dem gerade die Nachrichten liefen. Die Staatliche Gesundheitskommission werde ab sofort auch Berufskrankheiten in die staatliche Gesundheitsfürsorge einschließen. Der Bau einer neuen Hochgeschwindigkeitszugstrecke sei begonnen worden. Die Stimme der Nachrichtensprecherin war kristallklar, schon allein dafür waren sie dankbar. Die Sprecherin konnte sagen, was sie wollte, alles klang nach guten Nachrichten.
In den Jungen kam wieder Leben. Er ließ das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus.
»Lass das!«, sagte Yu Ling.
Prompt hing der Junge mit dem ganzen Oberkörper draußen und stieß einen fröhlichen Schrei aus.
Yu Ling drehte sich um und forderte den Mann auf, sofort rechts ranzufahren.
»Jetzt mach nicht so ein Getue«, sagte der Mann, »ich sehe doch, ob einer an uns vorbeifährt.«
»Das ist mir egal!«
Die Augen des Manns blitzten wütend. »Nun werd nicht gleich hysterisch. Bleib cool.«
Links vor ihnen tauchte ein großer Lastwagen auf. Sofort drehte sich Yu Ling wieder nach dem Jungen um. Der saß inzwischen wieder brav auf seinem Platz und studierte aufmerksam den Lastwagen. Dann deutete er auf den großen Käfig auf der Ladefläche. »Was ist da drin?«
Yu Ling reagierte nicht. Der Junge fragte noch einmal. »Vielleicht Hühner«, antwortete der Mann.
»Wohin fahren die?«
»Zum Markt«, sagte der Mann, »um geschlachtet zu werden.«
Der Junge schwieg. Kurz darauf beugte er sich vor, tippte dem Mann an die Schulter und bat ihn anzuhalten. Der Mann ignorierte ihn und überholte den Lastwagen. Als sie auf gleicher Höhe waren, streckte der Junge den Kopf zum Fenster hinaus und schrie: »He! Anhalten! Anhalten!«
Der Lastwagenfahrer trat sofort auf die Bremse und stoppte. Der Junge reckte sich nach dem Türgriff, und Yu Ling schrie auf. Der Van fuhr auf den Seitenstreifen und kam zum Stehen.
»Was machst du da, verflucht noch mal?«, brüllte der Mann den Jungen an.
Yu Ling sagte, sie steige mit dem Jungen aus, der aber versprechen musste, auf keinen Fall auf der Straße herumzurennen. Der Fahrer des Lastwagens kniete unterdessen neben der Hinterachse und inspizierte die Reifen.
»Was hast du da auf deinem Laster, Onkel?«
Der Fahrer starrte ihn finster an. »Verdammt, ich habe gedacht, mir wären die Reifen geplatzt!«
Der Junge rannte zur Ladeklappe und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Darf ich mal sehen?«
»Würden Sie so nett sein …?« Yu Ling sah den Fahrer flehend an. Sie rief den Mann zu sich, ließ sich seine Zigaretten geben und streckte dem Fahrer das Päckchen hin. Er klemmte sich eine Zigarette hinters Ohr, stand auf und öffnete die Ladeklappe. Dann hob er den Jungen hoch und half ihm auf die Ladefläche. Der Junge ging in die Hocke, um den Käfig zu inspizieren, in dem sich weiße Gänse drängten, dicht an dicht, sodass es aussah wie ein einziger weißer Federball, aus dem sich lange Hälse durch das Gitter reckten.
»Schwäne!«, rief der Junge entzückt. »Solche hab ich letztes Jahr auf einem See gesehen, im Urlaub mit Papa und Mama.«
Yu Ling korrigierte ihn nicht, sonst hätte der Junge sie bestimmt nach dem genauen Unterschied zwischen Schwänen und Gänsen gefragt, über den sie nichts zu sagen wusste. Schwäne kannte sie nur aus dem Fernsehen, wie sie majestätisch über herrliche Seen glitten, als hätten sie keine Füße.
»Hast du genug gesehen?«, fragte sie den Jungen.
»Können wir die mitnehmen?«
Yu Ling setzte ein strenges Gesicht auf. »Wenn wir Schwäne kaufen, gibt es keinen Ausflug. Deine Entscheidung.«
Der Junge ließ sich auf die Ladefläche plumpsen. »Dann kein Ausflug.«
»Wie du meinst. Dann fahren wir jetzt nach Hause.« Sie stapfte zum Auto zurück, aber der Mann packte sie am Arm. »Was soll das?«
»Wir fahren zurück, heute ist kein guter Tag für einen Ausflug.«
»Spinnst du?« Der Mann zog hastig an seiner Zigarette, warf die Kippe weg und rief dem Fahrer zu: »Wie viel?«
»Fünfhundert pro Stück.«
Der Mann riss die Augen auf. »Das ist ja glatter Raub.« Trotzdem zog er sein Smartphone hervor und überwies das Geld.
»Du kannst dir einen aussuchen, aber nur einen«, sagte er zu dem Jungen.
»Und was wird aus den anderen Schwänen?«
»Die gehen dorthin, wo sie hingehören«, sagte der Mann. »Jetzt mach schon, wir müssen weiter.«
Der Junge zog eine Schnute und sah zu Yu Ling. Auch der Mann sah Yu Ling an. Sie zögerte. »Wir haben nicht so viel Geld. Du kannst einen Schwan haben oder gar keinen. Du entscheidest.«
Der Junge gab nach, aber dann zerbrach er sich den Kopf, welchen er nehmen sollte. Die Gänse schliefen, nur auf der hinteren Seite des Käfigs war eine, die die pechschwarzen, glänzenden Augen aufriss. »Die da«, sagte der Junge. Als der Fahrer in den Käfig stieg, schlugen jedoch im Nu sämtliche Gänse die Augen auf und wichen schnatternd zurück. Der Fahrer griff sich eine heraus, aber der Junge bestand darauf, dass er die ganz hinten wollte, die er eben ausgesucht hatte. Seine Augen wanderten über den Käfig, von links nach rechts, von rechts nach links. Der Fahrer richtete sich genervt auf und wartete, die Hände in die Seiten gestemmt.
»Der da!« Der Junge deutete auf eine Gans und breitete die Arme aus, um sie in Empfang zu nehmen. Gleich darauf, als die großen Hände des Fahrers die Gans am Bauch packten, stieß das Tier einen entsetzlichen Schrei aus, und der Junge schlang die Arme um den Kopf, ging auf die Knie und rührte sich nicht vom Fleck, bis der Fahrer ihm die Gans reichte. Er hatte ihr mit einem Strick die Füße zusammengebunden.
»Kann sie nicht davonfliegen?«, fragte der Junge.
»Wenn sie könnte, wäre sie nicht da, wo sie ist«, sagte der Mann. »Ich habe Tante Yu gesagt, dass wir den Ausflug trotzdem machen, aber nur, wenn du aufhörst, Ärger zu machen. Verstanden?«
»Aber er kann fliegen. Ich habe schon Schwäne fliegen gesehen.«
Die Gans wurde sicher auf dem Rücksitz verstaut. Yu Ling stellte den Rucksack des Jungen zwischen ihn und die Gans und ermahnte ihn, bloß nicht die Hand nach ihr auszustrecken. »Pass auf, dass sie dich nicht beißt.«
Der Van setzte sich wieder in Bewegung, die Scheiben vibrierten, die Radioansagerin verlas weiter die Nachrichten. Wie ein Soldat im Hinterhalt ließ der Junge eine Hand unter den Rucksack gleiten, tastete sich in unbeobachteten Augenblicken vorsichtig in Richtung Gans und hielt wieder inne, um zu sehen, ob sie sich rührte.
Yu Lings Handy klingelte, und sie kramte es aus der Handtasche hervor. Es war der Hausherr. Etwas Unerwartetes sei vorgefallen, sagte er, als sie dranging, sie solle Kuan Kuan sofort nach Hause bringen. Dann legte er auf, ohne ihre Antwort abzuwarten.
»Was ist los?«, fragte der Mann.
Der Junge stand vom Rücksitz auf. »Ich will nicht nach Hause!«, schrie er.
»Setz dich hin!«, sagte Yu Ling.
Der Junge setzte sich, offenbar beruhigt, als er feststellte, dass der Van mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfuhr. Seine Hand schlüpfte wieder unter den Rucksack und wagte sich vor, bis sie die Füße der Gans berührte.
Im Radio sagte die Sprecherin, dass eine Kaltfront Richtung Süden ziehe, in den nächsten Tagen erwarte man sinkende Temperaturen. Dann wurde es zwölf Uhr, Zeit für die aktuellen Nachrichten. Der Van verließ die Autobahn und bog zu einer Tankstelle ab.
Yu Ling öffnete die hintere Tür. »Geh mal rasch zum Klo«, sagte sie.
Der Junge warf einen Blick auf die Gans.
»Ich passe auf«, versprach Yu Ling. »Sie wird nicht abhauen.«
Der Junge sprang aus dem Wagen und marschierte in Richtung Toiletten, nicht ohne sich alle paar Schritte umzudrehen, als zöge ihn etwas magisch an, dann kam er wieder zurückgerannt.
»Jetzt weiß ich, was an diesem Auto anders ist!«, rief er stolz dem Mann zu, der ihm entgegenlief. »Es hat keine Nummernschilder!«
Ausdruckslos schritt der Mann an ihm vorbei. Yu Ling stand mit zurückgebogenem Kopf neben dem Wagen und trank gierig Wasser aus einer Flasche. Der Mann gesellte sich wieder zu ihr.
»Hast du dein Telefon ausgestellt?«, fragte er.
Sie nickte.
»Du musst die SIM-Karte wegwerfen.«
»Warte noch, bis wir die Mautstelle passiert haben.«
»Bist du immer noch unentschlossen?«
»Hör auf mit deinem Gequassel. Ich brauche einen...
| Erscheint lt. Verlag | 23.9.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Karin Betz |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Swan Hotel |
| Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
| Literatur ► Romane / Erzählungen | |
| Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
| Schlagworte | Asiatische Literatur • China • chinesiche Kultur • Chinesische Literatur • EinBlick • Ein-Kind-Politik • Entführung • Feminismus • für Fans von Murakami • Hausmädchen • Kammerspiel • Klassismus • Luxus • Muttschaft • parasite • Patriarchat • Preisgekrönte Autorin • Reichtum • Selbstbestimmung • Sexismus • Unterdrückung • Weiblichkeit |
| ISBN-13 | 9783753001173 / 9783753001173 |
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