Unter Staren (eBook)
224 Seiten
Christian Brandstätter Verlag
978-3-7106-0887-2 (ISBN)
Antonia Coenen leitet die Filmproduktionsfirma LOUPEFILM in Köln und Berlin und produziert Filme mit den Schwerpunkten Umwelt, Arten- und Tierschutz.
Antonia Coenen leitet die Filmproduktionsfirma LOUPEFILM in Köln und Berlin und produziert Filme mit den Schwerpunkten Umwelt, Arten- und Tierschutz. Philipp Juranek ist Journalist und Filmemacher und realisiert Dokumentationen und Reportagen mit den Schwerpunkten Natur, Politik, Umwelt- und Naturschutz. Seit nunmehr fünf Jahren realisieren die beiden den Podcast "Gut zu Vögeln", der zu den ältesten und erfolgreichsten Vogelpodcasts im deutschsprachigen Raum gehört. 2023 erschien ihr erstes Buch "Vogel entdeckt – Herz verloren".
Der star am alex
Antonia
Als ich im September 2020 mit meinem Köfferchen am Alexanderplatz stand und auf die Regionalbahn in Richtung Brandenburg wartete, umzingelten sie mich: ein Rudel Stare. Wie treue Hunde schauten sie mich erwartungsvoll an und suchten den Boden vor mir nach Krümeln ab. Sie waren zu zehnt, pickten an meinen Schuhen, flogen dicht an meinen Ohren vorbei und bettelten laut und vehement. Natürlich griff ich direkt nach meinem Handy und nahm ein Video auf. Langsam folgte ich der Gruppe über den Bahnsteig und vergaß alles andere um mich herum.
Dass es im Winter Stare am Alex gab, war Philipp und mir schon 2016 aufgefallen, und wir hatten in unserem Büro in der Choriner Straße im Stadtteil Prenzlauer Berg oft über dieses neue Phänomen gesprochen. Für uns waren Stare Zugvögel. Wieso flogen sie nicht mehr in den Süden? Wie schafften sie es durch den eisigen Berliner Winter? Wo schliefen die Tiere? Persönlich hatte ich die Stare so nah und so frech, wie an diesem Tag auf meinem Weg zu Philipp nach Brandenburg, noch nie erlebt. Das war auch kein Wunder, denn so oft war ich nicht mehr am Alexanderplatz unterwegs. Ende 2018 bin ich zurück nach Köln gezogen, und im März 2020 hat Corona uns überrollt. Ich war das erste Mal nach dem Lockdown wieder in Berlin. Eine außergewöhnliche Zeit.
Als mein Zug einfuhr, filmte ich noch immer die glitzernden Vögel und schaffte es im letzten Moment in die Bahn. Drei Haltestellen und 15 Minuten später rollte der Regionalzug gemütlich über die Stadtgrenze, und mir fiel mit Schrecken auf, dass ich meinen Koffer am Alex stehen gelassen hatte. Ruckartig und mit pochendem Herzen sprang ich auf und konnte nichts machen – außer hoffen, dass meine Sachen irgendwo abgegeben worden waren. Am Vortag war ich das erste Mal nach dem Lockdown shoppen gewesen und hatte für die erste Reise all meine liebsten Kleidungsstücke eingepackt. Natürlich waren auch Arbeitsutensilien im Gepäck gewesen, zwei Festplatten mit Filmmaterial und diverse Ladekabel. Die Hoffnung, den Koffer jemals wiederzusehen, war gleich null, denn am Alexanderplatz bleibt kein Krümel unbeaufsichtigt liegen. Und so war es dann auch – mein Koffer war weg.
Es gibt wohl kaum einen Ort in Berlin, der so verschmutzt und unfreundlich ist wie der Alex. Einst als Symbol für die Moderne geplant und als lebendiges Zentrum der Hauptstadt der DDR konzipiert, zieht er täglich Zehntausende an, die eng aneinandergedrängt von A nach B eilen oder hier Zuflucht suchen. Dazwischen werden Drogen vertickt, Hochprozentiges getrunken, Portemonnaies und Koffer gestohlen oder irgendwie sonst Kohle gemacht.
Der Schock über meine Unachtsamkeit, den Diebstahl meines Hab und Guts und das Rudel Stare vom Alex an jenem Morgen markieren für mich den Beginn unseres späteren Tierfilms »Der Star am Alex«, welcher 2024 auf Arte seine Premiere feierte. Denn seit diesem Tag wurden die Stare vom Alex ein Dauerthema zwischen Philipp und mir. Wir warteten auf ihre Ankunft im September und erzählten uns von ihrem Verschwinden Anfang März. Das Witzige ist, dass es früher umgekehrt war: Die Stare verschwanden im Herbst und kamen im Frühling zurück. Wir wechselten die Perspektive. Die Alex-Stare stellten die Welt auf den Kopf, auch unsere, es war der Beginn eines wichtigen Abschnitts in unserer Freundschaft. Wilde Gerüchte waren im Umlauf. Angeblich sollten die Stare am Alex die S-Bahn benutzen und am Ostbahnhof wieder aussteigen. Einige sollten das berühmte Geräusch der Berliner S-Bahn, das beim Schließen der Türen ertönt, nachahmen. Immer mehr unserer Podcast-Hörerinnen kamen auf uns zu, mit Fragen zu den Staren, die wir nicht genau beantworten konnten. Größere Berichte über den überwinternden Trupp gab es nach unserem Kenntnisstand zu dem Zeitpunkt aber nicht.
Am 21. Dezember 2021, um genau 10:38 Uhr war es dann so weit. Philipp stand am Alex mit seinem Croissant, wie ich im Jahr zuvor, und wartete auf seine Bahn, als auch er umzingelt und singend und pfeifend dazu aufgefordert wurde, das Croissant mit ihm zu teilen. Die Stare flogen hoch und pickten zielstrebig Krümel aus Philipps Hand, suchten den Boden vor seinen Füßen ab und setzten sich sogar auf seine Schulter. Philipp filmte alles mit dem Handy und konnte es kaum fassen. Die Schamlosigkeit, mit der sich die Vögel an seinem Essen bedienten, ließ keinen Zweifel mehr: Die Alex-Stare mussten ins Fernsehen. Am gleichen Tag trafen wir die Entscheidung, ein Exposé mit unserer Geschichte für einen Fernsehsender zu schreiben.
Bei der Tierfilmproduktion in Deutschland verhält es sich in etwa so wie in der Ornithologie. Bis heute gibt es Orni-Gruppen, in denen keine einzige Frau mitwirkt. Die Ornithologie, wie auch der deutsche Tierfilm, ist schon immer ein vornehmlich von Männern dominierter Bereich gewesen. Somit ist die Perspektive im Tierfilm und in der ornithologischen Forschung männlich geprägt. In der Vogelkunde zeigt sich das beispielsweise in der Annahme, dass nur männliche Vögel singen. Dabei sind singende Weibchen weltweit die Regel, nicht die Ausnahme. Das hat ein internationales Team um Katharina Riebel von der Universität Leiden recherchiert. Die Wissenschaftlerinnen hatten die internationale Fachliteratur systematisch ausgewertet, bestehende Berichte, die schon lange verfügbar waren. Die Ergebnisse zeigten, dass weiblicher Gesang bei 71 Prozent der untersuchten Vogelarten vorkam.
Diese Ergebnisse widerlegen klassische Annahmen über die Evolution des Gesangs und der Geschlechtsunterschiede bei Vögeln. Dass nur Männchen singen, war zentral für die Entwicklung von Darwins Theorie der sexuellen Selektion. Wie andere männliche Schmuckmerkmale diente auch der Gesang dazu, Weibchen anzulocken und mit Rivalen zu konkurrieren. So wurde der Gesang von Vögeln zu einem Lehrbuchbeispiel für die Macht der sexuellen Selektion. Dabei sind Rotkehlchen, Heckenbraunellen, Zaunkönige und auch der Star alles heimische Vogelarten, bei denen auch die Ladys singen. Doch immer noch gilt, dass das Starenmännchen Gas gibt, um die Weibchen zu verführen, sie anzulocken. Das hat ein Geschmäckle, welches impliziert, dass die Weibchen willenlos und bedürftig seien.
Dabei könnte man gerade bei Vögeln auch ein anderes Narrativ bemühen: Die Vogelweibchen, als unabhängige Individuen, schauen sich die Männchen genau an und überlegen dann, welches ihnen nah kommen darf. Dafür müssen die Männchen auf sich aufmerksam machen und auffallen. Entweder ihr Gefieder ist besonders bunt, sie singen sehr facettenreich, oder aber sie schmücken das mögliche Nest mit besonders viel Finesse. Sind sie erfolgreich, kommen sie in die engere Auswahl der wählerischen und beschäftigten Vogeldamen, der selbstständigen »grown woman«, ganz nach Beyoncé. Manchmal, wie bei der emanzipierten Heckenbraunelle, haben die Weibchen auch mehrere Männchen am Laufen oder brüten in Gemeinschaften. Vogelweibchen haben manchmal auch gar keinen Bock mehr auf die Typen und werden lesbisch, wie die fortschrittlichen Möwinnen in Kalifornien, von denen ein Artikel der New York Times aus dem Jahr 1977 berichtet:
»Ein Forschungsteam einer Universität berichtet, dass etwa 14 Prozent der weiblichen Möwen auf einer Insel vor der kalifornischen Küste lesbisch sind. Dies sei der erste solide Beweis für weit verbreitete Homosexualität unter wilden Vögeln. Eine der weiblichen Möwen übernimmt eine männliche Rolle, und die Vögel bilden stabile Partnerschaften, ähnlich wie heterosexuelle Möwen: Sie gehen die Bewegungen der Paarung durch, legen sterile Eier und verteidigen ihr Nest wie andere Paare, heißt es in dem Bericht. Es wurden keine Hinweise auf Homosexualität bei männlichen Vögeln gefunden.«
Es gibt einen tollen Song aus dem Jahr 1979 mit dem Titel »Lesbian Seagulls« von Tom Wilson Weinberg. Er erschien auf seinem Album »The Gay Name Game«, auf dem sich der Australier offen zu seiner Homosexualität bekannte. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Albums war er etwa 34 Jahre alt und hatte zuvor seine originellen queeren Lieder in Cafés und bei Veranstaltungen zur Schwulen-Emanzipation in den späten 1970er-Jahren aufgeführt. Später wurde das Lied von Engelbert populär gemacht und 1996 sogar im Film »Beavis and Butt-Head do America« verwendet.
Ich glaube, dass wir heute viel mehr Wissen über den Schutz unserer Vögel gesammelt hätten, wären mehr Frauen früher an der Forschung beteiligt gewesen oder hätten bedeutende Professuren erhalten. Die Geschichte hat gezeigt, dass es meistens die Frauen waren, die sich im Artenschutz engagierten. Man denke an die Zoologin und Biologin Rachel Carson, die Primatenforscherinnen Jane Goodall und Dian Fossey, die Ozeanografin Sylvia Earle oder die Umweltaktivistin Vandana Shiva. Diese Frauen haben maßgeblich dazu beigetragen, das Bewusstsein für den Schutz der Natur und die Bedeutung der...
| Erscheint lt. Verlag | 9.4.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | Wien |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
| Technik | |
| Schlagworte | Artenschutz • Artenvielfalt • Birdwatching • garten vögel • Heimischer Vogel • Natur • Naturkunde Buch • Naturschutz • Ornithologie • Stare • Stare Vögel Gesang • Star Vogel • Sturnus vulgaris • Umwelt • Vogel • Vogelarten • Vogelbeobachtung • Vogel des Jahres • Vogelgesang • Vogelkunde • Vogelschutz • Vogelschwarm • Vogelwelt • Zugvögel |
| ISBN-10 | 3-7106-0887-2 / 3710608872 |
| ISBN-13 | 978-3-7106-0887-2 / 9783710608872 |
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