Tabu (eBook)
208 Seiten
edition a (Verlag)
978-3-99001-827-9 (ISBN)
Raphael M. Bonelli, geboren 1968, ist Neurowissenschaftler und habilitierter Psychiater. Er arbeitet in der Wiener Innenstadt in eigener Praxis. Forschungsaufenthalte fu?hrten ihn an die Harvard University, die University of California Los Angeles (UCLA) und die Duke University. Bonelli leitet das RPP-Institut und betreibt damit Social-Media-Kanäle mit insgesamt etwa 350.000 Abonnenten. Er ist Autor mehrerer Bu?cher u?ber psychologische Themen, seine beiden Bu?cher »Bauchgefu?hle« und »Die Weisheit des Herzens« waren SPIEGELBestseller.
Raphael M. Bonelli, geboren 1968, ist Neurowissenschaftler und habilitierter Psychiater. Er arbeitet in der Wiener Innenstadt in eigener Praxis. Forschungsaufenthalte führten ihn an die Harvard University, die University of California Los Angeles (UCLA) und die Duke University. Bonelli leitet das RPP-Institut und betreibt damit Social-Media-Kanäle mit insgesamt etwa 350.000 Abonnenten. Er ist Autor mehrerer Bücher über psychologische Themen, seine beiden Bücher »Bauchgefühle« und »Die Weisheit des Herzens« waren SPIEGELBestseller.
KAPITEL 1
Der Fall der woken Mauer
»Die Bedrohung, die mich in Bezug auf Europa am meisten beunruhigt, ist nicht Russland, nicht China. Was mich beunruhigt, ist die Bedrohung von innen: der Rückzug Europas von einigen seiner grundlegendsten Werte.«
Als diese Worte von J. D. Vance am 14. Februar 2025 über Internet und Medien durch ganz Deutschland verbreitet wurden, reagierten die Menschen erst einmal mit Schock. Einige dachten empört: Das darf man doch nicht sagen! Das ist unerhört! Die Politiker und etablierten Medien überschlugen sich in einhelliger Entrüstung.
Doch die meisten Menschen dachten lächelnd: Das darf man doch nicht sagen! Das ist großartig! Endlich sagt es einer! Wenn ich das sage, steht die Polizei vor meiner Tür … Für diese Leute war die Rede des Amerikaners wie ein unerwarteter strahlend blauer Himmel nach wochenlangem dichtem Nebel. Was war passiert?
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sprach der US-Vizepräsident über die aus seiner Sicht größte Bedrohung für Europas Frieden. Und das seien nicht äußere Gefahren, sondern der Verlust der Meinungsfreiheit, für deren Etablierung Europa viele Jahrhunderte lang kämpfte. Ohne das Wort zu benutzen, beschrieb Vance genau das, wovon dieses Buch handelt: die Tabuisierung der anderen Meinung und die systemische Ausgrenzung von Andersdenkenden. Dass Vance möglicherweise im Glashaus sitzt und mit Steinen wirft, liegt auf der Hand: Man sieht zwar den Splitter im Auge des Bruders, aber den Balken im eigenen Auge erkennt man nicht. Dass in den USA auch nicht alles perfekt läuft, schmälert allerdings nicht den Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Betrachten wir für einen Moment diesen Splitter, denn als Europäer sind wir ja unmittelbar davon betroffen. Bezüglich der Einmischung anderer Staaten in europäische Wahlkämpfe sagte Vance:
»Wenn Ihre Demokratie von ein paar hunderttausend Dollar digitaler Werbung aus einem fremden Land zerstört werden kann, dann war sie von Anfang an nicht sehr stark. Die gute Nachricht ist, dass ich glaube, dass Ihre Demokratie weit weniger zerbrechlich ist, als viele zu befürchten scheinen. Und ich glaube, dass sie noch stärker wird, wenn wir unseren Bürgern erlauben, ihre Meinung zu äußern.«
Dieser letzte Satz ist besonders bedeutsam, denn darin impliziert Vance, dass es den Bürgern Europas eben nicht erlaubt ist, ihre Meinung frei zu äußern. Er selbst brachte einige Beispiele für Meinungen, die auf die eine oder andere Weise ausgeschlossen werden. Da wäre das Beispiel von Adam Smith-Connor, der in Großbritannien vor einer Abtreibungsklinik ein stummes Gebet verrichtete, um seinem Sohn Jacob zu gedenken, der nie das Licht der Welt erblickte, weil seine frühere Freundin sein Kind abgetrieben hatte. Die britische Polizei nahm ihn fest, da er mit seinem stillen Gebet die Entscheidung einer Frau, ihr Baby abzutreiben, beeinflussen könnte. Dabei hatte Smith-Connor keine Transparente, Schilder oder Sprechchöre mitgebracht, sondern bloß seine Gedanken, die um sein eigenes Schicksal und das seines ungeborenen Sohnes kreisten. Doch bereits dies war, wie Vance es in Anlehnung an den großen britischen Dystopen George Orwell nannte, ein »Gedankenverbrechen«, das geahndet wurde. Denn es waren Gedanken, die im herrschenden gesellschaftlichen Klima ein Tabu berührten: »Abtreibung tötet einen ungeborenen Menschen.«
Es geht wohlgemerkt nicht darum, ob Smith-Connor richtig oder falsch liegt. Es geht einzig um die Frage, ob er diese Meinung vertreten darf. Und offenbar durfte er sie nicht vertreten, zumindestens nicht dort. So wie zahlreiche schottische Haushalte, die im Umkreis von zweihundert Metern (»Pufferzone«) um eine Abtreibungsklinik leben und die vor kurzem einen Brief der Regierung erhielten. In dem Brief wurden die Bewohner aufgefordert, Aktivitäten innerhalb ihrer eigenen vier Wände zu unterlassen, die von außen hörbar seien – zum Beispiel ein Gebet – und so eine abtreibungswillige Passantin zum Nachdenken bringen könnten. Auf diese Weise werden Tabus aufgestellt, um die Meinungs- und Glaubensfreiheit radikal zu unterdrücken.
Angst vor den eigenen Wählern
Ein weiteres unaussprechliches Tabu sprach Vance ganz ungeniert an – das vielleicht größte, das ebenfalls zurzeit zu bröckeln beginnt:
»Und von allen dringenden Herausforderungen, denen sich die hier vertretenen Nationen gegenüberstehen, ist meines Erachtens keine dringender als die Massenmigration.«
Vance berührt hier das Problem, dass die etablierten Parteien »Angst vor den Wählern« hätten. Denn deren Meinungen verletzten Tabus, die über Jahrzehnte in die Gesellschaft eingesickert waren. Viele fühlen sich durch diese willkürlichen Tabus verunsichert. Was darf ich eigentlich noch sagen? Worüber sollte ich lieber nicht sprechen? Was sollte ich am besten gar nicht denken? So kam es, dass Vance Themen aufgriff, die den meisten Menschen völlig logisch erschienen, über die sie sich aber nicht zu sprechen trauten. Noch nicht. Denn die Zeiten ändern sich, dafür ist nicht zuletzt der Wahlsieg von Donald Trump und J. D. Vance ein Symptom. Sie gewannen ihre Wähler, weil sie jene überfälligen Tabus, die sich zwischen politische Eliten und die Bürger geschoben hatten, durchbrachen. Vance versprach in München:
»Unter der Führung Donald Trumps werden wir vielleicht nicht mit Ihren Ansichten übereinstimmen, aber wir werden für Ihr Recht kämpfen, Ihre Meinung öffentlich zu äußern, egal ob wir miteinander übereinstimmen oder nicht.«
Ob Vance tatsächlich Wort halten wird, wird die Zeit zeigen. Die Beschneidung der Behörden durch Elon Musk, das Aussperren kritischer Presse oder der Eklat rund um den Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 28. Februar 2024: Es gibt einige umstrittene Maßnahmen der Trump-Regierung, die dem Selbstanspruch nicht zu genügen scheinen.
Was allerdings nicht ausschließt, dass Vance’ Argumente in München zutreffen. Es scheint so: Als Facebook in den USA die Zusammenarbeit mit externen »Faktencheckern« beendete, empörten sich hierzulande viele. Aber nicht etwa darüber, dass sie selbst ihre Meinung dort nicht mehr sagen konnten, sondern dass die Meinung von Andersdenkenden wieder sichtbar sein sollte, die doch verboten gehört.
Um den Verlust der Meinungsfreiheit zu unterstreichen, machte Vance provokant auf eine terminologische Anleihe Europas von der früheren Sowjetunion aufmerksam:
»[…] Wenn Sie sich jene Seite in diesem Kampf anschauen, die Dissidenten zensierte, die Wahlen annullierte, dann waren sie sicherlich nicht die Guten. Und Gott sei Dank haben sie den Kalten Krieg verloren.« Er fügte hinzu: »[…] Manchmal ist nicht so klar, was mit einigen der Gewinner des Kalten Kriegs passiert ist. […] Ob sich hinter den hässlichen Wörtern aus der Sowjetzeit wie ›Desinformation‹ und ›Fehlinformation‹ alte festgefahrene Interessen verbergen, die es einfach nicht mögen, wenn jemand mit einer alternativen Sichtweise eine andere Meinung äußert oder – Gott bewahre – anders abstimmt oder – schlimmer noch – eine Wahl gewinnt.«
In diesem Buch soll es nicht darum gehen, die politischen Positionen dieser Rede zu bewerten. Vielmehr soll aus psychologischer Sicht analysiert werden, warum die deutsche Presse mit so heftiger Empörung und Ablehnung reagierte. Die »Tagesschau« schrieb: »Eine beispiellose Abrechnung mit Europa«. Ex-Kanzler Olaf Scholz von der SPD sagte kurz darauf: »Was dort gesagt wurde, ist völlig inakzeptabel.« Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, sagte: »Ich verbitte mir solche Einmischungen in die deutsche Bundestagswahl und auch in die Regierungsbildung danach! Ich lasse mir doch nicht von einem amerikanischen Vizepräsidenten sagen, mit wem ich hier in Deutschland zu sprechen habe.«
Offenbar traf Vance einen wunden Punkt. Er berührte mit seiner unverblümten Rede zentrale Tabus des europäischen Establishments. Jene, die über die Deutungshoheit dieser Tabus verfügen, die regierenden Politiker und die Leitmedien, reagierten darauf mit Entrüstung und Ablehnung. Sogar von einem Ende der amerikanischdeutschen Freundschaft war die Rede. Die aggressive Abwehr der Medien zeigt, dass die woke Mauer zu bröckeln beginnt. Die Cancel Culture frisst ihre Kinder.
Denn Vance ist mit seiner Meinung nicht allein. Vor kurzem errang der ehemalige Talkshow-Star Thomas Gottschalk mit seinem Buch, das den passenden Titel »Ungefiltert« trägt, landesweit Aufmerksamkeit. Darin schreibt er, das Gefühl zu haben, vieles nicht mehr offen sagen zu dürfen. Dass er sich einer Vielzahl von neuen gesellschaftlichen Regeln und Fallstricken gegenübersieht. Dass man heutzutage nicht mehr alles sagen könne, ohne gesellschaftliche Ächtung zu riskieren. Die Reaktionen fielen aus, als hätte Gottschalk im Buch mit Mord gedroht. Ein »alter weißer Mann« sei er, sexistisch sowieso, seine Zeit schon längst vorbei, am besten er hätte gar nichts gesagt. Was sein Gefühl, vieles nicht mehr sagen zu...
| Erscheint lt. Verlag | 31.3.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | Wien |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Corona • Elite • Gender • Gesellschaft • Glauben • Krieg • Liberal • Meinungsfreiheit • Pandemie • Putin • Religion • Trump • Vance • Verschwörung • Volk • woke • Zensur |
| ISBN-10 | 3-99001-827-2 / 3990018272 |
| ISBN-13 | 978-3-99001-827-9 / 9783990018279 |
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