Bärenzähne (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78344-3 (ISBN)
Zwei Brüder im Hinterland von Montana. Bis jetzt kamen sie noch immer über die Runden, mit dem Holzfällen, dem gelegentlichen Wildern im Yellowstone Nationalpark. Doch nach dem Tod ihres Vaters stapeln sich die Rechnungen, das Dach ist undicht, der Winter nah. Thad und Hazen müssen etwas tun und dafür die eingespielten Rollen, ihr immer gleiches Schauspiel - der eine der strenge und verantwortungsvolle Bruder, der andere verträumt und zu nichts nutz - beenden. Nur so haben sie eine Chance, den unmöglichen Auftrag ihres Kontaktmanns zu erfüllen und sich den Ärger mit dem Geld zumindest eine Weile vom Hals zu halten. Doch dann passiert ein Unglück, bei dem noch mehr verloren geht als das eigene Selbstverständnis.
Bärenzähne ist ein packender, ein rührender Roman über die Bürde, füreinander sorgen zu müssen, über die Schönheit und Lebensgefahr in wilder Natur. Callan Wink knüpft darin ein unvergessliches Band zwischen zwei ungleichen Brüdern in einem weiten, abgründigen Land.
Callan Wink, geboren 1984, arbeitet seit seinem neunzehnten Lebensjahr als Fly Fishing Guide auf dem Yellowstone River in Montana. Im Winter schreibt er. Bisher erschienen sein Erzählungsband <em>Der letzte beste Ort</em> und sein Debütroman <em>Big Sky Country</em>, »ein Buch, das uns das verlorene Amerika näherbringt« (Elke Heidenreich). <em>Bärenzähne</em> ist sein lange erwarteter neuer Roman.
Sie brauchten länger zurück zum Wagen, als Thad erwartet hatte. Sie waren in schwerem Gelände unterwegs und hielten sich von den Wegen fern, damit sie niemanden trafen. Thad stemmte sich gegen das Gewicht auf seinem Rücken und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Hazen hoch, der sich über ihm den Weg durch die Felsen suchte. Auf einer großen Blockhalde zwischen finsteren Fichtengruppen verschnauften sie. Dunkel, voller Flechten und von Quarzadern durchzogen lagen die gewaltigen Gesteinsbrocken da. Vom Gletscher zurückgelassen, stachen sie einzeln verstreut aus dem Grashang hervor, als wären sie dort hingeworfen worden, grobe Würfel spielender Riesen. Sie stellten die Tragen ab, setzten sich auf einen flachen Felsentisch und schauten zurück ins Tal. Sie hatten schon einiges an Strecke hinter sich, aber Thad konnte immer noch den Grat sehen, hinter dem sich die kleine Wiese verbarg, auf der er den Bären erlegt hatte. Einen Tagesmarsch entfernt, und es sah aus, als könnte er einen Stein rüberwerfen. Thad nahm an, dass sie noch einen halben Tag stramm weiterlaufen mussten, bis sie wieder unten am Pick-up waren. Sie hatten noch mindestens drei Grate zu überqueren, dann waren sie wieder in der Zivilisation mit Duschen und Bier und sonst allem. Thad lehnte sich an seine Trage und spuckte aus. »Es geht voran«, sagte er.
Hazen reagierte nicht. Er beobachtete die kleinen, grauen Pikas, die im Geröll umherhuschten und ihre schrillen Warnrufe losließen. Er hielt die .22er-Hülse quer zwischen den Zähnen und blies immer wieder scharf über die Öffnung, dass es laut pfiff. Hazen grinste, wie er mit dicken Backen dasaß und vor Konzentration leicht schielte. »Ha«, machte er. »Nicht schlecht, oder? Ich kann Pika. Guck dir die kleinen Scheißer mal an!«
Eine Handvoll Pikas flitzten zwischen den Felsen hin und her und blieben gelegentlich stehen, um sich umzuwenden und mit dem Stummelschwanz zu wackeln. Anscheinend waren sie sauer auf diesen großen Hochstapler, der sich da an ihrer Sprache verging. Hazen pfiff weiter, während er mit einer Hand den Boden absuchte, ohne die Nager aus dem Blick zu lassen. Dann fand er den richtigen Stein, warf, und die Tiere stoben auseinander.
Irgendwann stemmte Thad sich hoch, und es ging weiter. Während der Pause hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und sank nun allmählich gen Westen. Selbst hier oben in den Bergen konnte sie einen noch aufwärmen. Sie stand jetzt hinter ihnen, Thad spürte ihren heißen Blick im Nacken und roch, wie auch unter der Plane auf dem Tragegestell die Temperatur zunahm. Es war, als hätte er einen gärenden Komposthaufen auf dem Rücken, das Bärenfell stank faulig und heiß vom Fieber des Zerfalls.
Es dauerte mehr als einen Kilometer, bis sie die Fliegen abhängten, die sie während der Pause gefunden hatten. Sie schwirrten Thad um den Kopf, immerhin waren es keine Bremsen, aber sie nervten trotzdem, vor allem, da sie nun über eine steile Schutthalde mussten, auf der ein falscher Schritt bedeuten konnte, dass man fünfzig Meter tief oder weiter abrutschte. Hazen führte sie über verschlungene Pfade der Wapitis und Weißwedelhirsche. Manchmal verliefen sie kreuz und quer durch Felsstürze und Labyrinthe aus Sturmschäden, bis sie endlich wieder auf einen anderen Tierpfad trafen, der wieder in die richtige Richtung führte – auf den Wagen zu.
Das meiste Essen und Wasser hatten sie zurückgelassen, um Platz für die Einzelteile des letzten Bären zu schaffen, und seit knapp vierundzwanzig Stunden hatten sie nichts Anständiges mehr gegessen. Thad spürte sich schwächer werden. Es kam ihm vor, als würde sein Rückgrat unter der Last der Trage gequetscht, die Wirbel unwiederbringlich zusammengeschweißt. Wahrscheinlich würde er auch noch gebückt herumlaufen, wenn er die Trage endgültig abgesetzt hatte, sein Rücken auf ewig zum gequälten Fragezeichen gestaucht. Wurzeln und Steinbrocken griffen nach seinen Füßen. Anstiege, die ihm wenige Stunden vorher nichts ausgemacht hätten, brachten ihn jetzt zum Keuchen und die Waden zum Brennen. Der Mund trocknete langsam aus, die Zunge blieb am Gaumen kleben, und die Zähne hatten einen Belag bekommen, über dem sich seine Oberlippe zu einer Dauergrimasse aufrollte. Irgendwann kam er um eine Ecke und sah Hazen auf allen vieren, die Trage noch auf dem Rücken, während er sich Wasser ins Gesicht spritzte. Sie befanden sich in einem weitgehend ausgetrockneten Bachbett, in dem nur noch ein kleines Rinnsal über den weißen Sand und die schimmernd oval geschliffenen Kiesel plätscherte. Thad fand eine Stelle, wo das Wasser über einen flachen Stein stürzte und sich dann in einem kleinen Becken sammelte. Er ließ sich auf den Bauch sinken, tauchte mit dem ganzen Kopf ein und trank große Schlucke, ohne die Augen vor den sprudelnden Bläschen des kleinen Wasserfalls zu verschließen. Er trank, bis ihm weiße Punkte hinter den Augen tanzten und er nach Luft schnappen musste. Das Wasser schmeckte nach Moos und Stein. Es fühlte sich auf der Zunge seidig an, ganz anders als Leitungswasser.
Erfrischt wanderten sie weiter. Als die Sonne hinter den Gipfeln in ihrem Rücken versank, marschierten sie im trüben Zwielicht weiter, das alle Konturen weicher zeichnete, während der Geruch der Kiefern mit der kühleren Luft feuchter wurde. Tiefe Dunkelheit legte sich über ihre Umgebung, als Hazen sie durch eine Gruppe Espen führte. Die Stämme schimmerten silbern im Mondlicht. Die Blätter wechselten allmählich die Farbe und hatten schon einen leichten Goldrand. Bald würde es hier oben schneien, gewaltige Wehen im Wind wabern und im Lee der Bäume Kämme und Täler bilden wie Wellen auf dem Ozean. Wenn Thad mit den Fingern über die glatte Rinde der Bäume strich, schien sie die über den Tag gespeicherte Wärme abzugeben. Espen waren ihm unheimlich. Sie blieben unter sich, wuchsen so nah beieinander, dass sie sich mit den Blättern berührten und die Zweige ineinander verhaken konnten wie Finger. Sein Vater hatte ihm erzählt, das größte Lebewesen der Erde sei eine Espengruppe in Kanada, die sich über Tausende von Kilometern erstrecke. Denn wenn man durch einen Espenwald geht, kommt man nicht an voneinander unabhängigen Bäumen vorbei. Espen sind Klone, die aus der gemeinsamen Wurzelmasse austreiben, also besteht ein ganzer Wald oft nur aus einer einzigen Pflanze, und der eine Baum ist vom anderen nur so unabhängig wie die Hand eines Menschen von seinem Fuß. Thad konnte es nicht so richtig erklären, aber für ihn hatte eine Gruppe Espen immer eine Art Bewusstsein.
Diese Baumgruppe zog sich scheinbar ewig hin, aber als er endlich hinauskam, konnte er in einiger Entfernung schon den überwucherten Wanderparkplatz sehen, auf dem Hazen gerade seine Trage neben dem Pick-up abstellte.
In der Kühlbox war kaum noch Eis, aber das Bier war so kalt, dass es im Rachen wehtat. Thad trank mit einem Zug die halbe Flasche aus und rülpste herzhaft. Im Wagen hatte er einen Beutel Wapiti-Jerky, und sie zerrten und kauten an dem salzigen Fleisch, bis ihnen der Kiefer schmerzte, spülten mit Bier nach, rülpsten und gähnten, reckten die Arme und den Rücken. Sie setzten sich auf die Heckklappe, und Thad beschloss, dass sie sich im Dunkeln nicht in das Forststraßenlabyrinth wagen, sondern lieber dort draußen übernachten sollten, um die Übergabe dann morgen im Wald zu regeln und hinterher ohne die Ware nach Hause zu fahren.
»Ich mach Feuer.« Hazen wühlte in der Kühlbox nach dem nächsten Bier. Vier hatte er schon intus, und mit mehr gefiel er Thad nicht. Denn dann wurde er schnell bockig und war nicht mehr so geschmeidig wie sonst.
»Kein Feuer. Und das ist dein letztes Bier. Such dir einen Platz zum Schlafen. Und nimm deine Trage mit, lass sie nicht auf der Ladefläche liegen.«
»Mein Schlafsack ist nass. Ich mach ein Feuer und trockne ihn.«
»Und warum ist er denn nass?«
»Keine Ahnung, ist er eben.«
»Tja, da hast du wohl Mist gebaut. So kalt ist es gar nicht, du wirst es überleben. Hättest das Ding die ganze Zeit schon auslüften können, statt hier rumzustänkern und mir mein Bier wegzusaufen.«
»Wenn ich kein Feuer krieg, dann gib mir wenigstens noch ein Bier.« Das letzte hatte er mit drei großen Schlucken geleert, den Mund noch voll halbgekautem Jerky.
»Nein. Kein Feuer, kein Bier mehr. Geh pennen, wir sehen uns morgen.«
»Scheiße, Mann! Ein Bier noch. Ich geb dir das Geld...
| Erscheint lt. Verlag | 14.10.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Hannes Meyer |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | Beartooth |
| Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
| Sachbuch/Ratgeber | |
| Schlagworte | abgehängt • aktuelles Buch • Amerika • Armut • August • Bärenjagd • Beartooth deutsch • Beartooth Mountains • Big Sky Country • Brüder • Bücher Neuerscheinung • Der letzte beste Ort • Holzfällen • Männerbild • Männerrollen • Männlichkeit • Montana • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Nordamerika (USA und Kanada) • Provinz • Rocky-Mountain-Nationalpark • Rocky Mountains • Sehnsuchtsort • Spannung • Überlebenskampf • USA • USA Westen • USA Westen: Mountain States • Vereinigte Staaten von Amerika USA • weirdness • Wilderei • Yellowstone Nationalpark • Yellowstone-Nationalpark |
| ISBN-10 | 3-518-78344-0 / 3518783440 |
| ISBN-13 | 978-3-518-78344-3 / 9783518783443 |
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