Auf wilden Pfaden (eBook)
352 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-78453-1 (ISBN)
Im August 2015 macht Katherine May sich auf, um den 1041 Kilometer langen South West Coast Path Way entlang der Küsten von Somerset, Devon und Cornwall nach Dorset zu wandern. Sie will den Kopf freibekommen, endlich verstehen, warum ihr so vieles in ihrem Leben schwerer zu fallen scheint als anderen: Warum hat sie immer wieder das Gefühl, nicht recht zu verstehen, was andere meinen, wenn sie mit ihr sprechen? Warum verspürt sie so oft den Impuls, aus einer Gruppe Menschen in die Einsamkeit zu flüchten? Und warum empfindet sie es als besonders herausfordernd, Mutter zu sein? Je öfter sie einen Fuß vor den anderen setzt, bei Wind und Wetter an der Küste entlang, desto klarer wird ihr, woher ihr »Anderssein« rührt - und dass die Wanderung auch eine Wanderung zu ihr selbst ist.
Katherine May schreibt Romane und Sachbücher, u. a. über Autismus. Sie verfasste zahlreiche Artikel für u. a. die Times und unterrichtete Creative Writing an der Christ Church University in Canterbury. Sie lebt am Meer im englischen Whitstable und liebt es, draußen zu sein. Mays Bücher erscheinen in 26 Sprachen. Ihr Buch Überwintern. Wenn das Leben innehält war ein internationaler Erfolg und stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Marieke Heimburger übersetzt aus dem Englischen (u. a. Maya Angelou, Marie Benedict, Maya Lasker-Wallfisch) und aus dem Dänischen (u. a. Jussi Adler-Olsen). 2022 erhielt sie als Auszeichnung für ihr bisheriges übersetzerisches Werk das Barthold-Heinrich-Brockes-Stipendium.
1
Minehead Strandpromenade, August
Wir kommen viel zu spät in Minehead an.
Wir hatten vor, unseren noch schlafenden Jungen in eine Decke eingemummelt auf seinen Autositz zu packen und um halb sechs in Whitstable loszufahren. Wir gingen davon aus, dass er so ungefähr bei Bristol aufwachen würde, und wollten dann irgendwo anhalten und ein stilvolles, idyllisches Familienfrühstück einlegen. Und mittags, so der Plan, wäre ich bereits auf dem South West Coast Path unterwegs.
Ich weiß nicht, wann wir endlich lernen werden, dass Pläne in unserer Familie ein hoffnungsloses Unterfangen sind. Als Bert uns um acht Uhr mit einem lauten »DAAAAAAAADDDDDDYYYYYYY« aus seinem Zimmer weckt, ist schnell klar, dass wir vergessen hatten, den Wecker auf fünf zu stellen. Nach einigem Hickhack fahren wir um neun Uhr endlich los – und damit pünktlich für den dicksten Verkehr. Ganz England scheint sich vorgenommen zu haben, dieses verlängerte und letzte Wochenende vor Schuljahresbeginn voll auszukosten und im Westen des Landes zu verbringen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als schlecht gelaunt im Stau zu stehen und unterwegs mehrere Raststätten anzufahren.
Um drei Uhr nachmittags erreichen wir dann endlich Minehead. »Sind wir jetzt in Devon?«, fragt Bert, und ich sage »Ja«, weil ich keine Lust habe, ihm hier und jetzt eine neue Grafschaft zu präsentieren. De facto sind wir nämlich in Somerset, aber Devon kennt er schon, und wenn alles planmäßig verläuft, werde ich morgen Nachmittag die Grenze überqueren.
»Wir sind in Devon«, sage ich. »Und es ist wunderschön hier.« Ich setze mich auf die Kante des offenen Kofferraums und schnüre meine Wanderstiefel. Jenseits des Kiesstrands sehe ich die Ferienanlage Minehead Butlins. Ich frage mich, ob ich das Richtige tue, ob es mir wirklich helfen und guttun wird, diesen wilden Pfad zu gehen, nach dem ich mich so sehr gesehnt habe. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das hier ein Irrweg, vielleicht ist es doch gar nicht das, was ich will.
Eine riesige metallene Landkarte, gehalten von zwei riesigen metallenen Händen, markiert den Startpunkt. Ich posiere mit Bert für ein Foto, dann scrolle ich durch die Bilder auf meinem Handy, weil ich eins davon mit einem kecken Es geht los! auf Twitter posten will. Aber dann bin ich entsetzt, wie dick ich auf den Fotos aussehe, und poste stattdessen eins von Bert, wie er verschmitzt lächelnd vor der Wanderkarte steht. Ich finde es derzeit grundsätzlich besser, Fotos von ihm statt von mir zu posten.
»Ich muss jetzt wirklich los«, sage ich an H gewandt. »Sonst komme ich ja nie an.« Ich werde unruhig. Ich muss mich in Bewegung setzen. Die beiden sind so schrecklich langsam, und ich bin heute auf Hochtouren.
»Na, dann geh doch«, sagt er. »Wo genau musst du hin?«
»Weiß ich nicht. Ich denke mal, dass ich einfach der Küstenlinie folge. Darauf achte, dass das Meer immer rechts von mir ist.«
»Da kann ja nicht viel schiefgehen«, sagt er. »Nicht mal bei dir.«
»Nicht mal bei mir.«
»Wir treffen dich dann später.«
Wir schlendern die Strandpromenade entlang, an einem Pub, einem Café und einer Eisdiele vorbei. Bert will einen Lolli. H sucht eine öffentliche Toilette. Ich werde immer gereizter. Wie lange wollen wir denn noch durch Minehead trödeln? Wahrscheinlich war das alles eine dämliche Idee von mir, und ich werde nie loskommen. Ich muss noch gut vierzehn Kilometer schaffen, bevor die Sonne untergeht, und ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt noch vierzehn Kilometer schaffen kann.
Doch dann interessiert sich Bert plötzlich rasend für einen Spielplatz, ich bekomme einen Vorsprung, drehe mich um und sage: »Tschüüüüss! Wir sehen uns in Porlock Weir!« Und damit bin ich weg, allein auf dem South West Coast Path, auf meinen eigenen Füßen.
Der South West Coast Path ist ein ziemlich anspruchsvoller, schroffer und schonungsloser Küstenfernwanderweg im Südwesten Englands. Er führt von Minehead in Somerset bis Poole Harbour in Dorset zunächst an Devons Nordküste entlang, umrundet dann ganz Cornwall und verläuft weiter an Devons Südküste. Ich nenne ihn schonungslos, weil er auf fast schon böswillige Weise jede Abkürzung verweigert, selbst da, wo jeder vernünftige Mensch eine nehmen würde. Immer wieder muss man an der Steilküste nicht ganz ungefährliche Abstiege in irgendwelche Buchten bewältigen, nur um gleich darauf wieder steil bergauf zu kraxeln und dann, oben angekommen, einen viel vernünftigeren, praktisch flach verlaufenden Weg zu entdecken.
So ist er, der SWCP: glorreich und brutal. Auf seinen 1014 Kilometern klammert er sich stets an die äußerste Kante der zerklüfteten Küstenlinie, eine Kante, von der regelmäßig ganze Brocken abbrechen und im Meer verschwinden. Manchmal könnte man meinen, der Weg wurde für Bergziegen entworfen, nicht für Menschen.
Früher, als der Weg noch keinen eigenen Namen hatte und nicht mit schicken Eichelsymbolen markiert war, wurde er von Küstenwachen benutzt. Sie hatten ein Wegenetz entwickelt, dem sie folgten, um in abgelegenen Buchten nach Schmugglern Ausschau zu halten. Das erklärt vielleicht die vielen anstrengenden Auf- und Abstiege, aber ich glaube, dafür gibt es noch einen anderen Grund. Ich glaube, der SWCP hat auch viel mit einer etwas befremdlichen Naturbegeisterung zu tun. Jedenfalls habe ich immer, wenn ich auf ihm unterwegs bin, das Gefühl, dass jemand anderes meinen Drang teilt, die Welt in ihrer ganzen Größe kennenzulernen, ihre Grenzen mit meinen Füßen zu erkunden, und zwar auf dem längsten und härtesten Weg.
Das mag nun vielleicht nicht danach geklungen haben, aber: Ich liebe den SWCP! Es drängt mich immer wieder zu ihm, insbesondere zu der Strecke zwischen Bantham und Start Point, die um den südlichsten Zipfel von Devon führt. Dort bin ich durch meine persönlichen höchsten Höhen und tiefsten Tiefen gegangen, denn ich habe diese Ecke immer dann wieder aufgesucht, wenn es in meinem Leben gerade am allerbesten lief – und wenn es ein Scherbenhaufen war. In den South Hams kann ich immer wunderbar abschalten und auftanken.
Der SWCP trat in mein Leben, nachdem H und ich heimlich im Standesamt von Maidstone in Kent (also sehr weit im Osten) geheiratet hatten. Danach wollten wir genauso heimlich in den Westen abhauen, uns dort in ein strohgedecktes Häuschen verkriechen und unseren Freunden mit ein paar lustigen Postkarten von unserer Eheschließung berichten. So weit, so schlecht geplant. Wir wurden von einer älteren, über einen Gehstock gebeugten Dame in Empfang genommen, die uns erzählte, die letzten Gäste seien »etwas rätselhaft« gewesen, sie seien nämlich bei Nacht und Nebel abgereist und nie wieder aufgetaucht. Der Grund dafür wurde schnell klar: Im Bad roch es nach altem Urin, überall waren Spinnen, und jedes Mal, wenn wir das Licht ausmachten, fing es irgendwo fies an zu rascheln. Zwei schlaflose Nächte hielten wir es dort aus, dann vertrauten wir uns der Touristen-Info in Kingsbridge an.
Die Frau hinter dem Tresen schüttelte bedauernd den Kopf und sagte: »Diese schrecklichen alten Cottages!« Dann griff sie zum Telefon, und nach einem kurzen Gespräch mit einer uns unbekannten dritten Person, im Verlaufe dessen sie uns als »ganz reizendes junges Paar« anpries, verkündete sie uns, wir hätten riesiges Glück, so kurzfristig überhaupt etwas zu finden, und dass sie überzeugt sei, dass wir uns dort wohler fühlen würden.
Etwas beklommen fuhren wir nach Salcombe – einen uns völlig unbekannten Ort – und zogen ernsthaft in Erwägung, die ganze Sache abzublasen und nach Hause zu fahren, falls uns in dem angesteuerten Bed&Breakfast Nylonbettwäsche und Jesus-Darstellungen an den Wänden erwarteten. Doch dann übertraf es alle unsere Erwartungen: Eine mehrstöckige Altbauvilla mit blass gestrichenen Wänden und Seegrasfußböden sowie eine wunderbare Vermieterin, die den Rest der Woche immer dann, wenn wir auf unserem Balkon saßen und jemand...
| Erscheint lt. Verlag | 26.10.2025 |
|---|---|
| Übersetzer | Marieke Heimburger |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung | |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Anderssein • Asperger-Syndrom • Auszeit • Autismus • Autistin • Bücher Neuerscheinung • Cheryl Strayed • Clara Törnvall • Cornwall • Devon • Diagnose • Dorset • Einsamkeit • England • Erwachsene • Frauen • Hochfunktionaler Autismus • ich bin dann mal weg • Küstenlandschaft • Nachdenken • Nature writing • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Neurodiversität • Raynor Winn • Selbsterkenntnis • Selbstfindung • Somerset • South West Coast Path Way • Südwest-England • The Electricity of Every Living Thing. A Woman’s Walk in the Wild to Find Her Way Home deutsch • überwintern • Vereinigtes Königreich Großbritannien • walking memoir • Wanderung • Westeuropa • Zu-sich-selbst-kommen |
| ISBN-10 | 3-458-78453-5 / 3458784535 |
| ISBN-13 | 978-3-458-78453-1 / 9783458784531 |
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