Jede Stimme zählt (eBook)
200 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3780-4 (ISBN)
Hochaktuelle Analyse des medienbekannten Politikwissenschaftlers und ein Weckruf an demokratische Parteien, migrantische Deutsche als politische Kraft endlich ernst zu nehmen.
Dieses Buch ist ein Plädoyer für eine politische Neuausrichtung. Es zeigt, wie und warum migrantische Communitys zunehmend von der laut Bundesamt für Verfassungsschutz in Teilen gesichert rechtsextrem eingestuften AfD und dem populistischen BSW angesprochen werden. Vor allem im digitalen Raum finden beide Parteien das ideale Spielfeld, um ihre Botschaften mit großer Reichweite zu verbreiten. Doch warum bleibt eine klare demokratische Antwort oft aus? Wer migrantische Communitys ignoriert, gefährdet auf Dauer die Stabilität unseres demokratischen Systems.
»Özvatan beschreibt klug und präzise eine Problematik, die von Politik und Medien viel zu oft ignoriert wird.« Louis Klamroth, hart aber fair.
Özgür Özvatan, geboren 1985, ist Politikwissenschaftler und Soziologe mit Schwerpunkt Gesellschaftsforschung, insbesondere Integrations-, Extremismus-, Umwelt- undDemokratieforschung. Er promovierte an der Berlin Graduate School of Social Sciences und lehrte am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität. Gemeinsam mit dem Soziologen Daniel Kubiak ist er Host des Podcasts »B.O.M. - Berlin. Ost. Migrantisch«. Seine politischen Analysen erscheinen u. a. in der Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Allgemeinen Zeitung, taz, im Deutschlandfunk, bei Zeit Online und Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er lebt in Berlin.
1Die Bedeutung migrantischer Communitys für die deutsche Politik
In letzter Zeit wurde ich häufig als Experte in Wahlkreisbüros eingeladen. Als einfacher deutscher Staatsbürger hat mich mein Weg nie dort hingeführt, geschweige denn, dass ich mich eingeladen gefühlt hätte. Warum eigentlich nicht?
Auf den ersten Blick sehe ich aus wie ein migrantischer junger Mann, und die gelten in Deutschland allgemein als politikfern. Bezogen auf meine Familienbiografie könnte man damit allerdings nicht falscher liegen. Sie ist nämlich ein Paradebeispiel für Politiknähe. Mein Vater ist Politologe und hat sein Diplom am renommierten Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin gemacht. Als Gründungsmitglied verschiedener Migrantenselbstorganisationen war er insbesondere in den frühen 1980er Jahren gesellschaftspolitisch aktiv. Seine Mutter, meine Großmutter, war Vertreterin der türkischen Minderheit in der kommunalen Politik ihres Geburtslandes Bulgarien. Auch die Eltern meiner Mutter gehörten zur türkischen Minderheit Bulgariens, ihr Großvater war Gelehrter und Arzt mit überregionalem politischem Einfluss. Meine Mutter ist ausgebildete Erzieherin und hat in diesem Beruf über drei Jahrzehnte in Berlin gearbeitet. Kämen meine Eltern und Großeltern nicht aus der Türkei bzw. aus Bulgarien und würden sie nicht muslimisch gelesen, klänge das alles ganz schön bürgerlich und politiknah.
Ich selbst schlug zunächst eine ganz andere Richtung ein. Bis 30 war ich Berufsfußballer und talentiert genug, um zweimal für die deutsche und einmal für die türkische Junioren-Nationalmannschaft aufzulaufen. Nun ist die Fußballkultur im Dunstkreis des Profifußballs nicht sonderlich politisch. Viel Lifestyle, noch mehr Glamour und wenig gesellschaftspolitisches Engagement jenseits der vordiktierten Corporate-Social-Responsibility-Termine, die von den Bundesligavereinen für die Spieler organisiert werden. Hätte mich der Fußball auf Dauer in ein politikferneres Milieu ziehen können? Mit Sicherheit. Wäre es ein Verlust für mich gewesen? Mit Sicherheit. Wäre es eine weitere verlorene Stimme für die lebendige Demokratie gewesen? Mit Sicherheit. Es kam anders, aber selbst als Politikwissenschaftler und politischer Analyst fühle ich mich bei den demokratischen Parteien nicht beheimatet und als deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund auf der Suche nach der richtigen Wahl zunehmend »lost«. Kaum auszudenken, wie politisch heimatlost ich als erfolgreicher Fußballer ohne akademische Karriere gewesen wäre. Ich wurde und werde nicht erreicht, und das ist ganz offenkundig ein Versäumnis der demokratischen Parteien.
Dieses Buch soll die Versäumnisse demokratischer Parteien aufzeigen, Menschen wie mich zu erreichen. Menschen, die sich von demokratischen Parteien nicht angesprochen fühlen, die migrantisch sind, in der ersten, zweiten, dritten oder vierten Generation, aber auch kürzlich eingebürgerte Migrant:innen, die erst vor wenigen Jahren eingewandert sind, Menschen, die jung sind und ihre politische Erstsozialisation auf Social-Media-Plattformen erleben, die politiknah oder politikfern sind – und unabhängig davon politisch heimatlos. Menschen, die an den demokratischen Parteien verzweifeln, obwohl sie dort politisch aktiv sind.
Dieses Buch will ein Bewusstsein dafür schaffen, wie unerlässlich es für demokratische Parteien ist, migrantische Communitys aktiv in den politischen Diskurs einzubeziehen. Als Wähler:innen, Mandatsträger:innen und Menschen, die dieses Land politisch mitgestalten wollen und sollen. Denn wenn demokratische Parteien das nicht tun, lassen sie eine Lücke, die immer größer wird – und die andere politische Strömungen und Parteien besetzen. Und zwar nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden der Demokratie. Wie gut beispielsweise die AfD in dieser Hinsicht aufgestellt ist, hat der Bundestagswahlkampf 2025 gezeigt. Man könnte sagen, für diese Partei zählt wirklich jede Stimme, denn obwohl sie rassistisch, rechtsextrem und migrationsfeindlich ist, wirbt sie auch gezielt um Migrant:innen.
Nimmt die AfD also die Tatsache, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland kontinuierlich steigt, als einzige Partei wirklich ernst? Ja, könnte man provokant antworten. Zwar schürt sie einerseits bewusst Ängste vor und Gewalt gegen Migrant:innen, gleichzeitig aber, und das scheint paradox, wirbt die AfD aktiv um Migrant:innen als Wählergruppe mit Potenzial. Eine Doppelstrategie, die auch beim BSW teilweise zu beobachten ist. Denn das BSW setzt auf Migrationsabwehr und buhlt zeitgleich um die Gunst migrantischer Wähler:innen.
Warum setzen demokratische Parteien dem nichts entgegen? Warum haben sie zugelassen, dass Migrationsabwehr zum alles beherrschenden Wahlkampfthema wird? Warum verschieben sie, mal radikaler (siehe Friedrich Merz, CDU), mal scheibchenweise (siehe Nancy Faeser, SPD) die Grenzen der deutschen Migrationspolitik hin zu einer Entmenschlichung derer, die aus ihrer Heimat fliehen oder sie aus anderen Gründen verlassen müssen? Warum erkennen demokratische Parteien nicht, dass gerade sie Migrant:innen als Wählende brauchen?
Es ist wahr: Unsere Gesellschaft erfährt eine massive Migrantisierung. Diese Entwicklung wird überwiegend – und immer erfolgreicher – als Bedrohung vermittelt. Nur in Semi-Öffentlichkeiten, vor allem in Fachkreisen, wird sie positiv wahrgenommen. Und das, obwohl der Sachverständigenrat für wirtschaftliche Entwicklung eine Netto-Zuwanderung von 400 000 Personen pro Jahr empfiehlt. Bei einer durchschnittlichen Abwanderung von jährlich etwa 1,1 Millionen Personen bedeutet das, dass wir zum Ausgleich 1,5 Millionen Zugewanderte benötigen, um unseren Wohlstand nachhaltig zu sichern. Die sich daran anschließende Rechnung ist einfach: Gäbe es tatsächlich eine Zuwanderung in dieser Höhe, würden innerhalb der nächsten zehn Jahre 15 Millionen neue Migrant:innen nach Deutschland kommen. Die Erkenntnis gilt in Fachkreisen als Status quo, bei demokratischen Parteien führt sie zu einer rhetorischen Blockade. Trotz des hohen Migrationsbedarfs stimmen sie in die vom rechten Rand getriebene migrant:innen- und migrationsfeindliche Symbolpolitik ein.
Selbst nachdem in der ersten Jahreshälfte 2024 bei Demonstrationen gegen rechts vielerorts Rekordzahlen erreicht wurden – sprich, größere Teile der Bevölkerung von einer Dynamik erfasst wurden, an die man hätte anschließen können –, läutete der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz, getrieben vom rechten Rand, im Spätsommer 2024 eine restriktive Wende in der Migrationspolitik ein. Die Unionsparteien klopften sich hernach stolz auf die Schultern und redeten sich das SPD-Manöver als Errungenschaft der Opposition schön, während sich die AfD zurücklehnte und zufrieden die Hände rieb. Getoppt wurde diese Entwicklung durch den CDU-Vorsitzenden und damaligen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, der während des Wahlkampfes am 29. Januar 2025 einen Antrag zur Asylverschärfung in den Bundestag einbrachte. Am 24. Januar hatte er verschärfende migrationspolitische Anträge angekündigt »unabhängig davon, wer ihnen zustimmt«.1 Am Ende waren es die FDP und AfD. Damit hatte eine demokratische Partei, nämlich die CDU, zum ersten Mal seit 1945 auf Bundesebene zusammen mit den Stimmen einer rechtsextremen Partei Mehrheiten geschaffen.
Die Parteien der Mitte normalisieren damit exakt jene Positionen, für die die AfD ownership genießt und für die sie vor wenigen Jahren noch berechtigterweise angeprangert wurde. Grenzkontrollen sind inzwischen Realität und die Absenkung von humanitären Standards im Asylrecht ebenfalls. Letzteres wurde als kollektives Learning aus der Shoah institutionalisiert. Deutschland schafft derzeit also zivile Errungenschaften aus seiner bitteren Vergangenheit ab.
Was den Demokrat:innen der Regierungsparteien dabei nicht auffällt: Sie setzten damit genau jene migrationspolitischen Forderungen um, die Anti-Demokrat:innen seit Jahren einfordern. Doch die Übernahme rechtsextremer Forderungen ist nicht bloß eine migrationspolitische Herausforderung, sie ist auch ein massiver Eingriff in die Erinnerungspolitik des Landes. Sowohl der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland als auch Björn Höcke, AfD-Vorsitzender der Landtagsfraktion in Thüringen, haben eine solche Wende in der Erinnerungspolitik schon vor Jahren gefordert....
| Erscheint lt. Verlag | 18.6.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
| Schlagworte | AfD • Demokratie • Migration • Rechtsextremismus • Teilhabe |
| ISBN-10 | 3-8412-3780-0 / 3841237800 |
| ISBN-13 | 978-3-8412-3780-4 / 9783841237804 |
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