Vanilleeis zum letzten Gruß (eBook)
Menschen sterben. Das gehört zum Leben. Genauso wie das Abschiednehmen. Und das Erinnern. Trauerrednerin Andrea Franken berichtet davon und ihre Geschichten machen Mut, unverkrampft mit dem Thema Bestattung umzugehen und die Abschiedszeremonie so zu gestalten, wie es zu der oder dem Gestorbenen passt: Wieso nicht die Lieblingsmusik zum letzten Geleit, auch wenn es nun mal 'Heidewitzka, Herr Kapitän' war? Wieso nicht der Oma dicke Socken anziehen, wo sie doch im Leben immer gefroren hat? Wieso nicht gemeinsam Vanilleeis zum letzten Gruß essen - Manfreds Lieblingssorte - und dabei nochmal an alle schönen Erlebnisse mit ihm denken? Eine gelungene Trauerfeier macht das Leben der Verstorbenen sicht- und spürbar und bringt tröstende Erinnerungen auf den Punkt. Wie das gelingt, abseits von strengen Regeln und quälender Unpersönlichkeit, zeigt dieses Buch.
Damit ist es vor allem eine Einladung für die Leserinnen und Leser, sich Gedanken zu machen - nicht nur über den Tod, sondern vor allem über das eigene Leben: Ist es in sich stimmig? Ist es von beglückenden Beziehungen geprägt? Wie würde die eigene Trauerfeier aussehen? Kann und möchte man diese Entscheidung den nächsten Angehörigen überlassen oder sollte man die Sache doch lieber selbst in die Hand nehmen?
Andrea Franken, geb. 1980, ist Ergotherapeutin und IHK-zertifizierte Freie Rednerin. Es macht sie glücklich, als Trauerrednerin Menschen einen würdevollen Abschied zu ermöglichen. Ihre langjährige Erfahrung macht sie zur Spezialistin für besondere Fälle. Gerade dann, wenn Kinder sterben mussten oder Menschen Suizid begingen, wenn Angehörige körperlich oder psychisch eingeschränkt oder dement sind, ist eine individuell gestaltete Trauerfeier von größter Bedeutung.
Liebe, Geldgier und verpasste Chancen
Warum es so wichtig ist, zu Lebzeiten aufeinander zuzugehen
»Sie müssen da sehr behutsam sein«, meinte der Bestatter. Und dann gab er mir noch ein »Sie schaffen das!« mit auf den Weg. Gut, dass er mich vorwarnte. Denn jetzt sitze ich mit der untröstlichen Anita am Tisch. Ihr Mann Stefan erlitt urplötzlich eine Lungenembolie. Nach zwei Tagen des Hoffens und Bangens am Krankenhausbett ist er verstorben. Mit 57. Seiner Witwe riss es den Boden unter den Füßen weg. Stefan war ihr Ein und Alles gewesen. Anita weint, schluchzt laut, wischt nervös Tränen, legt ihre Hände immer wieder vors Gesicht, ringt um Haltung. Mehrmals setzt sie an und will etwas sagen, aber statt der Worte kommen nur noch mehr Tränen.
Ich sitze still. Anitas Kummer ist bodenlos. Ich muss beinahe mitweinen. Andere würden jetzt vielleicht sagen: Wie unprofessionell! Aber Mitgefühl ist menschlich, das musst du nicht immer wegdrücken. In diesem Moment kann allerdings nichts und niemand Anita helfen. Auch ich nicht, das muss ich aushalten. Ich sitze still, Aktionismus wäre völlig fehl am Platz. Mein Bauchgefühl sagt mir in solchen Situationen, ob ich nach einer gewissen Zeit vorschlage, an einem anderen Tag wiederzukommen. Oder ob ich bleibe, auch wenn es lange dauert, bis sich mein Gegenüber gefasst hat.
Ich bleibe.
Wenn jemand meint, eine Trauerrednerin müsse immer nur die gleichen zwanzig Fragen abspulen, um später am Grab eine Rede halten zu können, der irrt sich ganz gewaltig. Jede Begegnung ist einzigartig und wird von einer breiten Palette an Emotionen bestimmt. Ich treffe jedes Mal auf einen ganz eigenen Mix aus Trauer, Schmerz, Angst, Verbitterung, Liebe, Hoffnungslosigkeit, Gleichgültigkeit, Wehmut, Verzweiflung, Dankbarkeit, Verärgerung, Einsamkeit, Enttäuschung, Erleichterung, Müdigkeit, Wut, Aufregung und vielen anderen Gefühlszuständen mehr. Und jedes Mal lasse ich mich auf die Stimmung ein. Nur so komme ich dem Kern näher: Wer war der oder die Verstorbene? Wie waren die Beziehungen zu den Trauernden?
Bei Anita gibt es gerade nur eine einzige Gefühlsfarbe: bodenlose Traurigkeit. Vor weniger als einer Woche saß Stefan noch ganz selbstverständlich hier am Tisch. Zwanzig, dreißig Jahre wären für ihn und Anita »noch drin gewesen«. Gemeinsam alt werden, das Leben genießen. Über erste Zipperlein lachen und sich gegenseitig unterstützen, wenn der eine nicht mehr gut aus dem Sessel hochkommt und der andere vergesslich wird. In Erinnerungen schwelgen. Aber das Leben ist nicht fair. Stefan ist weg. Und Anita ist noch da, alleingelassen mit ihrem Kummer.
Nach einer gefühlten Ewigkeit frage ich Anita, ob es in Ordnung ist, wenn ich die Kerze auf dem Tisch anzünde. Sie nickt dankbar. Zum ersten Mal seit unserer kurzen Begrüßung an der Haustür nimmt sie wieder ihre Umgebung wahr. Sie schaut mich an und sieht mir zu, wie ich das Streichholz aufflammen lasse und an den Docht halte. Ein Bild steht neben der Kerze. Stefan, wer sonst. Stille. Durchatmen. Aushalten.
Langsam, stockend kommen wir ins Gespräch. Anita beginnt, von der Liebe ihres Lebens zu erzählen. Ich bin froh, dass sie sich nun öffnen kann. Als sie sagt: »Ich habe seit Stefans Tod nicht mehr geschlafen«, werde ich hellhörig. Solche Aussagen sind keine Übertreibung. Ich höre oft von Hinterbliebenen, dass sie nicht zur Ruhe kommen. Sobald sie die Augen schließen, geht das Kopfkino los, und das ist schwer erträglich. Auch wenn sie manchmal stundenweise wegdämmern, fehlt doch der erholsame Schlaf, der die Kräfte regeneriert. Schlafentzug ist eine Folter. Trauernde Menschen müssen so viel Ballast tragen, so viel organisieren, sich völlig neu orientieren! Ohne Schlaf werden sie noch dünnhäutiger, noch emotionaler.
Anita sagt, dass heute Nachmittag eine gute Freundin kommen und einige Tage bei ihr bleiben wird. Ich bin erleichtert, denn man darf trauernde Menschen nicht alleinlassen. Trauer kann dazu führen, dass der Körper sich nicht mehr meldet und Grundbedürfnisse keine Berücksichtigung mehr finden. Oft höre ich auch: »Ich habe keinen Appetit mehr, ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe.« Schlafen, trinken, essen, sich warm anziehen … manchmal funktionieren ohne liebevollen Beistand die alltäglichsten Dinge nicht mehr. Das kann auch in die Verwahrlosungsrichtung gehen. Wenn alles zu schwer wird, geht sogar der Gang unter die Dusche über die Kräfte. Es ist gut, wenn man sich dann Hilfe holt. Das ist kein Scheitern.
Seit der Realschule waren Anita und Stefan ein Paar. Unzertrennlich, durch dick und dünn. Vor ein paar Jahren wurde Stefan, der im Bergbau gearbeitet hatte, frühpensioniert. Für andere Beziehungen ist das ja ein Stresstest, aber Anita und Stefan rückten nur noch enger zusammen. Anita schließt ihre Augen: »Wir brauchten nur uns, um glücklich zu sein.«
Es tut ihr gut, in ihre Erinnerungen abzutauchen. Sie erzählt von stundenlangen Spaziergängen mit Stefan. Hand in Hand, durch die Stadt, im Park, am Meer. Vom Miteinander zu Hause, dem gemeinsamen Kochen. Die Gesprächsthemen sind ihnen nie ausgegangen. Kurze Nachrichten, wenn sie getrennt unterwegs waren. Die Verabschiedung: »Tschüss, Schatz, ich liebe dich.« Die Info: »Ich bin jetzt im Hotel angekommen.« Das war keine Routine, das war liebevollstes Füreinander-da-Sein.
»Einmal kam ich in die Küche, als er staubsaugte«, erzählt Anita. »Er stellte den Sauger zur Seite, nahm mich in den Arm, und dann haben wir getanzt. In der Küche. Einfach so.« Sähe ich so eine Szene in einer Vorabendserie, würde ich sagen: total kitschig! Und absolut unrealistisch. Aber für Anita und Stefan gehörten solche Situationen zum Leben. Ich bin bewegt, dass sie geschafft haben, wovon alle Welt redet: carpe diem und Co., das Glück im Hier und Jetzt finden, das Leben genießen. All diese Kalendersprüche und Kaffeetassen-Aufschriften – es geht, wenn man es will.
Und jetzt?
Jetzt ist Anita allein, niemand mehr an ihrer Seite. Keiner hält ihre Hand, umarmt sie, fragt nach. Und doch nehme ich nun auch eine zweite Emotion wahr: Dankbarkeit. Aus Anitas Worten klingt jetzt schon so unglaublich viel Dank für die Zeit, die sie und Stefan zusammen hatten. Für dieses Geschenk, das die beiden bewusst genossen haben.
Die vielen Begegnungen mit Hinterbliebenen führen mir immer wieder vor Augen: Erlebtes Glück kann einem niemand mehr nehmen. Die Erinnerung an eine Liebe wird weiterstrahlen. Es kann etwas dauern, bis die Dankbarkeit ihre tröstende Wirkung entfaltet und die Vorherrschaft der Trauer beendet. Nicht mehr trauern heißt nicht, dass der geliebte Mensch nicht mehr vermisst wird, dass buchstäblich Gras über ihn gewachsen ist. Nein, die Trauer wird zum stillen, kostbaren Begleiter.
Ihre Trauer wird Anita durchleben müssen. Aber mehr und mehr wird sich die Dankbarkeit in den Vordergrund schieben und zum vorherrschenden Gefühl werden. Dankbarkeit ist nicht nur das beste Antidepressivum, sie ist auch das wirksamste Mittel, um die Macht der ersten, lähmenden Trauer zu brechen.
Es gibt noch etwas, was mich bei der Begegnung mit der lebenden Anita und dem gestorbenen Stefan besonders beeindruckte. Ich hole da jetzt mal ein bisschen weiter aus.
Manchmal sind Liebende ja so sehr der Welt entrückt, dass sie gar nicht glauben können, dass ihr Glück auch mal ein Ende haben wird. Aber das wird es – definitiv. Dafür bin ich als Trauerrednerin sozusagen Kronzeugin. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass beide Partner zu exakt derselben Zeit versterben. Fast immer bleibt einer von beiden zurück, und wenn die Liebe noch so groß war. Ich habe einige Male erleben müssen, dass die innigst geliebte Freundin das Leben des Verstorbenen zwar jahrzehntelang geteilt hat, ihn vielleicht sogar die letzten Jahre aufopferungsvoll gepflegt hat – und am Ende wurde sie von der undankbaren Verwandtschaft ohne einen Pfennig aus Haus oder Wohnung geworfen. Natürlich gilt das auch für all die anderen Kombinationen von Geschlechtern. Frau stirbt, Mann steht auf der Straße. Oder Mann/Mann, Frau/Frau und alle Möglichkeiten von Gemeinsamkeit, die weder Ehen noch eingetragene Partnerschaften waren.
Daran ist nicht zu rütteln: Ohne Testament gilt die gesetzliche Erbfolge. Und die richtet sich ausschließlich nach verwandtschaftlichen Verhältnissen. Es erben die Angehörigen erster, zweiter und vielleicht auch noch dritter Ordnung. Alles andere zählt nicht. Weder der Stapel Liebesbriefe noch »Er/sie hat aber immer gesagt, dass ich das Haus bekomme« beeinflusst die Rechtsprechung. So manche, die sich auf das Gerechtigkeitsgefühl von Blutsverwandten verließen, hatten ein böses Erwachen. Bös wird’s auch, wenn ein unverheiratetes Paar denkt, es gäbe keine Probleme, weil sie keine nahen Verwandten haben. Auch hier wieder: Die hinterbliebene Freundin, der hinterbliebene Freund geht leer aus. Wenn es noch nicht einmal irgendeinen Großneffen in Australien gibt, fällt alles an den Staat. Alles.
Auch bei Verheirateten kann es anders kommen, als sie sich das vorgestellt haben. Denn wenn es kein Testament gibt, sieht das Gesetz für die überlebenden Ehepartner und anderen Angehörigen eine ganz bestimmte Erbfolge vor. Die kann jeder googeln. Hier mal ein kleiner Test: Wie viel Prozent der Erbmasse bekommt ein Ehepartner/eine Ehepartnerin beziehungsweise ein eingetragener Partner/eine eingetragene Partnerin auf jeden Fall?
- 25 Prozent
- 50 Prozent
- 100 Prozent
Dass es nicht immer die 100 Prozent sind, ist klar. Denn wenn Kinder da sind, sind ja auch sie...
| Erscheint lt. Verlag | 26.2.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
| Schlagworte | 99 fragen an den tod • Abschied Tod und Trauer • Angstfrei sterben • Begräbnis • bestatter anrufen • Bestattung • Bestattungskultur • eBooks • Evangelisch • Fragen zu Sterben, Tod und Bestattung • freie bestattung • Gesundheit • Katholisch • Moderne Bestattungsriten • Ruheforst • sarg oder urne • Spirituell • Tod • Trauerbewältigung • was darf nicht ins grab |
| ISBN-10 | 3-641-32228-6 / 3641322286 |
| ISBN-13 | 978-3-641-32228-1 / 9783641322281 |
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