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Die Essenz des Laufens -  Juliane Bruneß

Die Essenz des Laufens (eBook)

Erkenntnisse aus Renn-Odysseen und Trail-Sinfonien
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Meyer & Meyer (Verlag)
978-3-8403-3870-0 (ISBN)
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Warum 100 KM und mehr LAUFEN? In Die Essenz des Laufens erzählt die Ultraläuferin Juliane Bruneß ihren persönlichen Weg vom 'Körperklaus' zur Ausdauersportlerin. Die wortgewandte Entdeckungsreise führt entlang autobiografischer Ereignisse zum Kern des Laufsports und der Frage nach dem Warum. Warum läuft jemand freiwillig 100 Kilometer durch unwegsames und alpines Gelände? Was suchen Menschen dabei? Was finden sie? Die Essenz des Laufens liefert kreative Antworten und schlägt den Bogen zu Philosophie, Soziologie und Popkultur.

Juliane Bruneß, 1990 im Sauerland geboren, ist mit Anfang 20 ihren ersten 100 Kilometer-Lauf um die Zugspitze gelaufen. Seitdem hat sie an über 100 Wettkämpfen, darunter Straßenmarathons wie Ultratrails, teilgenommen und in zahlreichen Medien darübergeschrieben. Seit 2022 betreibt sie den beliebten Podcast Vom Laufen - Das Laufsport-Feuilleton. Juliane Bruneß arbeitet als Juristin in einer Münchener Großkanzlei und wohnt mit ihrer Tochter Emelie wie ihrem Mann Christian im Alpenvorland Garmisch-Partenkirchens.

KAPITEL EINS

MANDARINENKUCHEN – ELBRUS WORLD RACE

Die Fischfutterflocken rieseln durchs neongrüne Licht, um sich kurz auf der Wasseroberfläche festzusetzen. Modrige Aquariumluft erreicht die Nase, als würde die wie ein Mund offenstehende mattschwarze Plastikklappe sie mir entgegenhauchen.

Sofort setzt sich der Madeleine-Effekt in Gang: Die Duftmoleküle aus der Luft gelangen in die Nasenhaupthöhle ans Riechepithel und zu den 30 Millionen Rezeptorneuronen, an die die Moleküle andocken, um sich über die an den Rezeptoren anhaftenden Sensoren direkt ins zentrale Nervensystem chauffieren zu lassen, rasend.

Ist die Geruchsinformation im Gehirn, nah an der Amygdala, dem Areal, das für Emotionen zuständig ist, angekommen, wird auch der Hippocampus als Teil des limbischen Systems, dem Wächter der Erinnerung, aktiviert. Zack, in weniger als einer halben Sekunde wird Erlebtes samt Emotion präsent. Bei mir flackern Bilder vom Toben auf bemoosten Baumstämmen im Wald der Kindheit auf. Alles ist leicht, grün, glücklich und ursprünglich.

Früher. Vor dem Suizid. Als die 0-förmigen Fischmäulchen anfangen, die Wasserhaut zu zerreißen, verschwimmt die Reflexion meiner verquollenen Augen darauf. Drei Fingerspitzen Fischfutter aus der gelben Fischfutterplastikdose. Klappe zu, Duft weg, Fische füttern fertig, erledigt, hämmert es durch den Kopf, als hinge das eigene Leben davon ab. Nächster Schritt.

Meine Finger hacken auf das Handy, um meinem Arbeitskollegen eine Textnachricht zu übermitteln, denn übermorgen ist Montag und an Werktagen wird gewöhnlich erwartet, zu arbeiten. Nicht so ich.

Montag werde ich nicht zur Arbeit kommen, lesen sich weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund, Dienstag auch nicht. Ob ich je wiederkomme zur Arbeit, das kann ich jetzt noch nicht sagen, jedenfalls übermorgen nicht und jedenfalls sind die Fische versorgt, keine Sorge.

Nachfragen ignorierend, lege ich das Handy auf dem Holztisch ab. Alles, was notwendigerweise zu erledigen war, ist jetzt erledigt. Zwei Anrufe, die Fische, die Arbeit, alle Schritte erledigt. Ist noch etwas zu erledigen, irgendetwas, das mir Halt gibt oder Ablenkung, ist wirklich nichts mehr zu erledigen? Nein, wirklich nichts, alles ist erledigt, was zu erledigen ist. Punkt. Panik.

Im nächsten Moment bietet das Fenster der Balkontür dem Oberkörper den Halt, der gegen das Zusammensacken stützt, die Stirn schlägt gegen die Scheibe. Schreie schallen ins Ohr. Das müssen meine sein, denn ich bin alleine im Haus. Aber jemand muss mich doch umarmen, mich zusammenhalten, sonst werde ich auseinanderbrechen, das ist klar.

Die schwitzige Haut der Stirn stempelt einen schmierigen Abdruck auf das Balkontürglas. Ab jetzt ist alles anders, ab jetzt sieht man nur noch verschwommen hindurch. Oder sind das die Tränen, die den schwarzen Mascara in die Augen geschwemmt haben, der die Sicht behindert? Die durch den Grauschleier erkennbare Allgäuer Berglandschaft, das Immenstädter Horn, das sich auf der anderen Seite befindet, sieht unscharf noch sanfter und idyllischer aus, wie durch den Filter Harmonie. Als wäre nichts passiert. Als wäre alles okay und wie immer. Während ich von innen heraus eingehe.

Während ein anderer eben die verzweifeltsten Momente seines Lebens erlebte. Ein anderer. So anders ist er nicht. Der Heulkrampf verhindert das Atmen. Schreie ersticken ohne Atmung. Ich ersticke. Jemand muss mich fest umarmen, sonst werde ich eingehen. Irgendjemand.

Zehn Minuten zuvor verlassen sachliche Worte die Kehle, der Verstand funktioniert, als ich meine Schwestern informiere, dass ihr Vater nicht mehr lebt, dass er tot ist. Das ist zu erledigen. Ob meine Schwester rechts ranfahren könne, frage ich sie. „Warum denn das?“, fragt sie. Sie solle eben rechts ranfahren und erst dann informiere ich sie, als sie sicher am Straßenrand steht und nicht mehr im Schock als Reaktion auf meine Information in den Gegenverkehr fahren kann.

Sehr vernünftig ist das, einen Unfall soll sie nicht verursachen, nachdem sie die Information gehört hat. Meine andere Schwester frage ich, ob sie allein sei, nein, ihr Mann wäre bei ihr, der wird sie in den Arm nehmen können. Gut, also informiere ich auch sie. Sehr vernünftig ist das, denn allein sein und durch die Gefühle auseinanderbrechen soll sie nicht, nachdem sie die Information gehört hat.

Auflegen. Dann ist das erledigt. Das war vor den Fischen. Vor der Textnachricht, bevor ich das Handy weglegte.

Minuten zuvor, um kurz nach zwölf Uhr mittags, an diesem sonnigen Samstag im Mai, erreicht ein Anruf mein Handy auf dem Holztisch, an dem ich nach einem Schönwetterlauf am Alpsee sitze. Ein Heulen und die gebrochene Stimme meiner Mutter. Nicht in der Lage, auch nur ein verständliches Wort hervorzubringen.

Das braucht sie auch nicht, denn ich weiß sofort, was es ist. Papa ist tot. Wie? Das ist es, was ich nicht weiß. Er hat sich umgebracht. Brücke. Okay. Weitere Fragen funktionieren nicht.

Ein Schrei. Von mir? Mehr Information verkrafte ich nicht. Ob die anderen schon Bescheid wüssten? Das muss ich noch wissen. Nein, nur mein kleiner Bruder. Eine Polizeibeamtin hat ihn informiert und von der Uni abgeholt. Meine Schwestern wissen von nichts. Das erledige ich, sage ich. Und die Fische und die Arbeit, denke ich.

Ich komme, das sage ich noch in das feuchte Handymikrofon. Dann ist das Gespräch vorbei. Das war vor den zwei Gesprächen mit meinen Schwestern, vor den Fischen, vor der Textnachricht, vor dem Weglegen des Handys, vor dem schmierigen Balkontürglas.

Ein Jahr zuvor hat Papa noch gesagt: „Kind, lass das lieber sein. Den Mount Elbrus in Russland besteigen? Das ist viel zu gefährlich für dich. Guck dich doch mal an, du bist viel zu klein und zierlich für so was“, während er meinen Oberarm demonstrativ schüttelt und daran erinnert, dass meine unmuskulären Ärmchen, wie er sie nennt, im Fitnessstudio nicht einmal das niedrigste Gewicht an den Geräten zu stemmen schafften.

Und, um mich zu necken, weil er weiß, dass mich das an die Decke bringt: „Das ist nichts für Frauen.“ Pff! Als ich das Equipment mühsam zusammengespart, gekauft und den Flug gebucht hatte, war er wie immer sehr stolz, dass sah man in seinen Augen und an seinem rechtsseitig hochgezogenen Mundwinkel.

Da sagte er gedämpft und ernst: „Kind, pass auf dich auf, komm gesund zurück!“ Ein Fingerzeig auf die Wange, ein Kuss auf die Fingerzeigstelle und auf die Stirn, eine Umarmung, bei der er mit der rechten Hand meinen Rücken klopft.

Jahre zuvor stand er am Streckenrand eines Halbmarathons, den ich in meiner alten Heimat, dem Sauerland, lief. Angemeldet, um ihm stolz zu zeigen, dass ich Halbmarathon laufen kann. Ich wollte alles geben. Unklug war es, die Flasche Wein auf der Geburtstagsfeier mit Freunden am Vorabend zu trinken.

Statt als stolze Läuferin an ihm, dem Wartenden, dem zu Imponierenden, vorbeizulaufen, humpelte ich in zweistelliger Pace krampfgeschüttelt, in gebeugter Haltung, die Hände in Wadennähe, die Zuckende immer wieder kneifend, ins Ziel. Ein lächerliches Bild war das, Stolz unangebracht.

Lachend empfing er mich, drückte mich an seine Brust, sein herausragender Kuchenbauch war im Weg. Er schmunzelte: „Ach, so sieht das aus, wenn man Marathon läuft? Dann könnte ich das ja auch.“ Freute sich selbst am meisten über sein gelungenes Necken und reichte ein Stück seines Lieblingskuchens, Mandarinenkuchen, als Versöhnungsangebot. Kuss auf die Wange, Stirn, Umarmung mit Rückenklopfer.

Weitere Jahre zuvor stand er noch am Streckenrand meines ersten Fünf-Kilometer-Laufs, dem Radio-MK-Lauf, in Hemer mit zwei Stücken Kuchen. Eines davon: Mandarinenkuchen, für mich.

Jetzt ist er tot. Kein Kuchen, kein Kuss, kein Pabba, nie mehr.„Da oben wirst du deinem Papa nah sein“, sagen sie. Das ist makaber und es stört mich, wenn sie es sagen. Auf 5642 Metern Höhe wäre man dem Himmel so viel näher. Na und?

An den Himmel glauben vielleicht Kinder. Ich bin kein Kind mehr, leider. Tod ist Tod und das ist schlimm. Einem toten Papa will doch keiner nah sein, nur dem lebendigen. Mit Mandarinenkuchen, Rückenklopfen, jedem Necken der Welt und dem rechtsseitig hochgezogenen Mundwinkel.

Die Wochen nach dem Suizid bestehen aus Aushalten. Neben meinem Jurastudium, erst in Marburg, dann in Norwich und Bonn, habe ich mich für eine Fernuni entschieden, damit ich örtlich nicht gebunden bin und in die Berge ziehen kann. Es wird das Allgäu und eine Teilzeitstelle. Das Entgelt ist so niedrig, dass ich mir weder eine Wohnung noch ein Zimmer im hochpreisigen Bayern leisten kann.

Daher bietet mir mein Arbeitgeber an, während des befristeten Jobs auf einer Matratze in der Abstellkammer am Arbeitsplatz zu wohnen, wenn ich ab und zu die Fische versorge. Deal. Zwischen Aktenregalen zu schlafen, macht mir nichts aus, habe ich doch sowieso vor, viel draußen zu sein und maximal zum Schlafen in mein Zimmer einzukehren. Nun ist die Situation gekippt.

Der Rückzugsort, den ich bräuchte, ist nicht vorhanden, ich kann ihn zwischen Aktenschränken auf circa zwei Quadratmeter Bewegungsfläche nicht finden. Immer wieder kommt ein Kollege oder eine Kollegin in mein Kämmerchen, um sich der Akten zu bedienen und unterbricht dabei ab und zu einen Weinkrampf, zu dem ich mich zurückgezogen hatte. Das ist mehr als unangenehm.

Mit geröteten Augen anschließend im Gemeinschaftsbüro zu sitzen, macht die Situation noch unerträglicher. Die Blicke der Kollegen wiegen Tonnen. Gleich der Enge meiner Wohnsituation fühlt sich die innerliche Beklemmung an. Von allen Seiten wird es eng: rechts, links, unten, oben und von den Schultern aus drückt zusätzlich eine...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Sport
ISBN-10 3-8403-3870-0 / 3840338700
ISBN-13 978-3-8403-3870-0 / 9783840338700
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