Wenn der Blick aufs Handy zur Qual wird (eBook)
336 Seiten
mvg Verlag
9783989220256 (ISBN)
Norman Wolf (geb. 1993) studierte Psychologie in Marburg. Er postet als @deinTherapeut zu Mental-Health-Themen und wurde 2018 mit dem Goldenen Blogger ausgezeichnet. Als psychosozialer Berater bei der AIDS-Hilfe unterstützt er queere Jugendliche beim Coming-out. In seinen Büchern zu den Themen Mobbing und Cybermobbing schildert er eigene Erfahrungen und unterstützt Betroffene darin, sich aus dem Mobbing-Teufelskreis zu befreien und Selbstvertrauen zurückzugewinnen. In Workshops und Fortbildungen klärt er Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte über den richtigen Umgang mit Mobbing auf. Er lebt in Frankfurt.
Norman Wolf (geb. 1993) studierte Psychologie in Marburg. Er postet als @deinTherapeut zu Mental-Health-Themen und wurde 2018 mit dem Goldenen Blogger ausgezeichnet. Als psychosozialer Berater bei der AIDS-Hilfe unterstützt er queere Jugendliche beim Coming-out. In seinen Büchern zu den Themen Mobbing und Cybermobbing schildert er eigene Erfahrungen und unterstützt Betroffene darin, sich aus dem Mobbing-Teufelskreis zu befreien und Selbstvertrauen zurückzugewinnen. In Workshops und Fortbildungen klärt er Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte über den richtigen Umgang mit Mobbing auf. Er lebt in Frankfurt.
Mit zwölf Jahren wünsche ich mir, tot zu sein. Damit die Angst endlich aufhört. Immer wenn ich von der Schule komme, schaue ich auf die Uhr und rechne mir aus, wie lange ich noch habe, bis ich schlafen gehen muss – denn schlafen zu gehen bedeutet: Ich muss schon bald wieder in die Schule und alles fängt von vorn an. So auch heute. Es ist ein angstvoller Countdown: noch sieben Stunden, noch drei Stunden, noch eine Stunde.
Irgendwann liege ich im Bett. Ich kann nicht einschlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich Bauchschmerzen. Mama glaubt mir nicht, ich hatte gestern schon Bauchschmerzen. Sie fragt: »Ist alles in Ordnung?« Ich sage: »Ja.« Nichts ist in Ordnung. Ich traue mich nicht, darüber zu reden. Beim Frühstück kriege ich keinen Bissen runter. Auf dem Weg in die Schule zähle ich die Stationen, die der Bus anfährt: noch sieben, noch drei, noch eine.
Der Klassenlehrer schließt den Raum auf und verschwindet im Lehrerzimmer. Ich setze mich an meinen Tisch und tue so, als ob ich den Hefteintrag von letzter Stunde lese. Ich versuche, unsichtbar zu sein, damit niemand mich anspricht. Denn ansprechen heißt, dass mir gleich wehgetan wird. Max spricht mich an. Er sagt »fette Sau« zu mir. Ich antworte nicht. Er hat ja recht irgendwie. Ich habe schon wieder zugenommen. Ich esse oft, wenn ich fernsehe, das hilft gegen die Langeweile und die Angst. Kurz ist dann alles gut. Und wenn ich den Fernseher auf ganz laut stelle, dann höre ich nicht mal mehr, wie Mama und Papa sich streiten und wie Mama weint.
Während des Unterrichts überlege ich, wo ich mich in der Pause verstecken könnte. Wir schreiben einen unangekündigten Test. Ich weiß nichts. Weil ich letzte Stunde auch überlegt habe, wo ich mich in der Pause verstecken könnte.
Im Bus nach Hause spuckt Pascal mir auf den Kopf – alle lachen. Ich denke an die Worte meines Klassenlehrers: »Ignorier sie einfach, dann hören sie von allein auf.« Also sitze ich da und lasse mich bespucken und auslachen. Ich sitze da, halte aus und denke: Ich bin jemand, der ist so wenig wert, dass man ihn anspuckt.
Am Nachmittag stehe ich nackt vorm Badezimmerspiegel. In der Dusche habe ich versucht, mir die Spucke vom Kopf zu waschen. Aber das Gefühl geht einfach nicht weg. Ich schaue in den Spiegel und spreche all die Dinge aus, die sie jeden Tag zu mir sagen. »Fette Sau«, sage ich. »Ekelhaft, wie du aussiehst. Und du wunderst dich, dass niemand mit dir befreundet sein will.« Ich sehe mir ins Gesicht und frage mich, wann ich zum letzten Mal glücklich war. Meine Tage bestehen doch nur noch aus Angst. Ich gehe in die Schule und habe Angst, dann komme ich nach Hause und habe Angst vorm nächsten Tag. Ich will das nicht mehr und ich kann das auch nicht mehr. Ich halte das nicht mehr aus. Und wen würde es schon interessieren, wenn ich nicht mehr da wäre? Meine Mitschüler*innen können mich sowieso nicht leiden. Und meine Eltern, die sind so mit sich selbst beschäftigt, die würden es vielleicht nicht mal bemerken. Und ich, ich müsste endlich keine Angst mehr haben.
Mit 24 Jahren sitze ich in einem Auto auf einem amerikanischen Supermarktparkplatz und weine. Es ist das alte Auto meiner Gastmutter, das ich auch dann benutzen darf, wenn ich mich nicht gerade um die Kids kümmere. Ich nutze es, um einzukaufen oder nach Boston zu fahren. Ich starre in die Dunkelheit vor mir, nur der Screen meines Handys leuchtet zurück. »Ich will ihn eigentlich nur kaputtschlagen«, steht da. »Kann man das Hemd mal treffen und zusammenschlagen?« Zuerst waren es nur Kommentare im Netz, heute ist der Hass endgültig in die Realität übergeschwappt. Irgendjemand hat herausgefunden, wo mein Gastvater arbeitet, und ihm eine E-Mail geschrieben. Ich sei ein Narzisst, heißt es darin, und wie er mich mit seinen Kindern alleinlassen könne. Nachdem ich die Kids zur Schule gebracht hatte, nahmen meine Gasteltern mich beiseite und meine Gastmutter sagte: »Norman, ich vertraue dir. Aber sei vorsichtig. Diese Menschen, die wollen dein Leben zerstören.«
Manchmal wird mir alles zu viel, dann setze ich mich ins Auto, drehe die Musik auf volle Lautstärke und fahre los. Das Auto ist so alt, dass es nur ein Kassettenfach hat, und die einzige Kassette, die ich habe, ist ein Album von The 1975. Oft fahre ich ans Meer und dann stehe ich da einfach, höre der Musik zu und starre durch die Windschutzscheibe aufs Wasser. Ich höre »I Always Wanna Die (Sometimes)«, und wenn der Song vorbei ist, spule ich zurück und höre ihn noch mal. Es ist wie damals, denke ich. Ich bin so viel älter, so weit weg von zu Hause und längst fertig mit der Schule. Und trotzdem ist es genau wie damals: die Hilflosigkeit, der Wunsch, dass es aufhört, und das Gefühl, dass ich nichts tun kann – alles das Gleiche. Ich denke an die Worte meines Klassenlehrers zurück: »Ignorier sie einfach, dann hören sie von allein auf.« Leadsänger Matthew Healy singt »If you can’t survive, just try« und ich denke: Ja, ich versuch’s. Es ist eine Liedzeile, an der ich mich festhalte. Aushalten, Tag für Tag, denke ich, bis es irgendwann aufhört. Irgendwann hören sie auf, ganz sicher.
Mit 29 Jahren sitze ich auf einem grauen Plastikstuhl in der Praxis eines Psychotherapeuten. »Ich wollte tot sein«, sage ich.
Er antwortet: »Herr Wolf, was Sie mir da schildern, das sind traumatische Erfahrungen.«
Ich nicke und sage »Danke«, als ob er mir gerade ein Kompliment gemacht hätte. »Danke, dass Sie das nicht kleinreden.« Ich habe lange überlegt, ob ich hierherkommen soll. Ich hatte Angst, mein Problem könnte nicht wichtig genug sein, dass ich einer Person den Platz wegnehmen könnte, die die Hilfe dringender braucht. Mobbing sei doch nur ärgern, Jungs raufen halt und es bilde den Charakter, das haben meine Lehrkräfte damals zu mir gesagt und heute noch hört und liest man es immer wieder. Außerdem geht’s mir die meiste Zeit ja okay. Das bisschen Unsicherheit, die paar selbstabwertenden Gedanken. Und auch die schlimmen Phasen halte ich irgendwie aus. Da komme ich eben ein paar Tage lang nicht aus dem Bett und ertrage meinen eigenen Anblick nicht mehr – irgendwann geht auch das wieder vorüber. Das schaffe ich allein, dachte ich. Jedes Mal dachte ich das wieder. Und irgendwann dachte ich: Aber muss ich denn? Muss ich das denn allein schaffen oder darf ich mir Hilfe suchen? Dann habe ich diesen Termin gemacht.
»Am schlimmsten ist dieses Gefühl der Hilflosigkeit«, sage ich. »Man fühlt sich, als gäbe es nichts, was man tun, und niemanden, der einem helfen kann.«
Er nickt. »Ich bin froh, dass Sie hier sind.«
Mit 30 Jahren sitze ich an meinem Schreibtisch und schreibe diesen Text. Hi, ich bin Norman – freut mich, dich kennenzulernen. Was du da gerade gelesen hast, ist meine Geschichte. Und vielleicht geht es dir ja so wie mir, vielleicht hast du ähnliche Erfahrungen gemacht. Vielleicht wurdest du auch in der Schule gemobbt oder hast Hass im Netz erlebt und deshalb dieses Buch in die Hand genommen. Vielleicht sind Mobbing und Hass auch deine aktuelle Realität.
Falls das so ist, dann will ich dir direkt eine Sache sagen: Ich bin froh, dass es dich gibt. Wirklich! Auch wenn wir uns gar nicht kennen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, gemobbt zu werden, und dass man manchmal denkt, man sei irgendwie unwichtig oder verschwende nur Platz. Aber das stimmt nicht. Uns alle gibt’s nur einmal auf der Welt. Wir sind Einzelstücke, Unikate. Und allein diese Tatsache macht uns doch wahninnig wertvoll, findest du nicht?
Ich bin seit neun Jahren aktiv auf Social Media, habe plattformübergreifend 100 000 Follower*innen und fast 25 000 Posts abgesetzt. Du kannst es dir vielleicht denken: Ich habe schon viel Hass abgekriegt. Jede zweite Person wurde schon mal online beleidigt. Mehr als ein Drittel der Schüler*innen geben an, schon mal einen Hasskommentar auf Social Media abbekommen zu haben. Jede*r sechste von ihnen war schon mal von Cybermobbing betroffen. Das sind knapp 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen. Man sollte denken: Das ist ja ein Riesenproblem, dann gibt es bestimmt viele Menschen, die dabei helfen können! Trotzdem machen Schüler*innen oft gegenteilige Erfahrungen. Vielleicht kommt dir das bekannt vor, du fragst Lehrkräfte oder Eltern um Rat und die zucken nur mit den Schultern und sagen so was wie: »Weiß ich auch nicht, kann man halt nicht viel gegen machen.« Mich macht diese Aussage wütend, aber sie wundert mich nicht. Ein Großteil dieser Menschen ist selbst nicht mit dem Internet aufgewachsen und schlicht überfordert.
Ich habe mich ganz lange hilflos gefühlt. Manchmal erstarre ich immer noch, wenn ich vor einem Problem stehe. Hilflos zu sein, das wurde mir regelrecht antrainiert. »Kann man halt nicht viel gegen machen.« Ich schreibe diesen Text, um dir zu sagen: Doch, kann man. Klar kann ich nicht alles allein regeln. Aber ich darf mir immer Hilfe suchen und es gibt nichts, das ich aushalten muss. Irgendwann habe ich das gecheckt und einen Termin für eine psychotherapeutische Sprechstunde ausgemacht – das war der erste, wichtige Schritt. Und schließlich fing ich an, mich gegen den Onlinehass zu wehren. Dass das möglich ist, wie das geht und warum man das unbedingt machen sollte, musste ich erst lernen. Ich bin besser darin geworden, Hilfe in Anspruch zu nehmen, mir Dinge, die Unrecht sind, nicht mehr gefallen zu lassen. Aber ich weiß auch, wie schwierig der Weg dahin war und wie ohnmächtig ich mich oft gefühlt habe.
Ich habe meiner Mama nie vom Mobbing erzählt. Sie hat erst davon erfahren, da war ich schon 28 und...
| Erscheint lt. Verlag | 18.5.2025 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
| Schlagworte | Angst • Ausgrenzung • Beratung • Cybermobbing • Cybersicherheit • Hass im Netz • Hate speech • Hilflosigkeit • Kontrollverlust • Medienkompetenz • Prävention • psychischer Druck • Psychoterror • Selbstfürsorge • Selbstvertrauen • Selbstwert • Shitstorm • Social Media • Soziale Medien • Umgang mit Hass |
| ISBN-13 | 9783989220256 / 9783989220256 |
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