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Der ungezähmte Wald (eBook)

Eine neue Sicht auf unser wichtigstes Ökosystem

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-8419-0824-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der ungezähmte Wald -  Martin Levin
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Der deutsche Wald: Sehnsuchtsort, Mythos, Identitätsstifter, aber auch Wirtschaftsfaktor. Deutschland hat die größten Holzvorräte in ganz Europa, mehr noch als Finnland oder Schweden, und ist Spitzenreiter in der Forstwirtschaft. In Zeiten der Klimakrise und des Artensterbens kommt dem Wald allerdings eine neue Schlüsselrolle zu, er soll gleichzeitig sauberes Wasser und gute Luft generieren, CO2-Emissionen limitieren, nachhaltige Roh- und Brennstoffe liefern und Naturschutz und Erholung garantieren. Aber ist er dazu überhaupt noch in der Lage? Denn es geht unseren Wäldern so schlecht wie nie. Martin Levin ist Verfechter des Naturwaldes, der, weitgehend in Ruhe gelassen, sich selbst reguliert. Der langjährige Oberförster des Göttinger Stadtwaldes, erklärt das Ökosystem Wald und seine Geheimnisse und zeigt, wie der resiliente Wald von morgen aussehen könnte.

Martin Levin war 33 Jahre lang Leiter des Stadtwald Göttingen, der Lehrforstamt der dortigen Universität und die gute grüne Stube der Göttinger ist. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Waldökologie, urbane Forstwirtschaft und Umweltpädagogik. Seit seiner Pensionierung 2018 arbeitet er als Waldberater im In - und Ausland. 

Martin Levin war 33 Jahre lang Leiter des Stadtwald Göttingen, der Lehrforstamt der dortigen Universität und die gute grüne Stube der Göttinger ist. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Waldökologie, urbane Forstwirtschaft und Umweltpädagogik. Seit seiner Pensionierung 2018 arbeitet er als Waldberater im In - und Ausland. 

Prolog – Kein schöner Land: Natur- und Waldverständnis in Europa


Die Westküste Europas ist erreicht, und eine halbe Stunde später blicke ich durch das Flugzeugfenster auf Wald. Heimatliche Gefühle durchströmen mich, begeistert zeige ich meinem Försterkollegen aus Gambia die Landschaft unter uns. Das ist Deutschland! Wir Förster seien stolz auf unsere nachhaltigen, naturnahen und ertragreichen Wälder!

Mein Kollege schaut eine Weile schweigend aus dem Fenster, dann wendet er sich mir zu und sagt: „Ich sehe da unten keinen Wald, ich sehe Plantagen.“ Im ersten Moment bin ich irritiert, dann werde ich nachdenklich.

Wer hat dich, du schöner Wald, / Aufgebaut so hoch da droben … Eichendorffs Gedicht „Der Jäger Abschied“ beschreibt das innige Verhältnis, das wir Deutsche zu unserem Wald haben. Der Wald ist ein Wohlfühlort, ein Ort der Seele, des Ursprungs. Mit Wald verbinden wir Heimat schlechthin. Quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen geht man leidenschaftlich gerne „raus in die Natur“, und der Ausflug ins Grüne, der Waldspaziergang, ist geradezu typisch für uns Deutsche.

Anders jedoch, als vor allem im Dritten Reich propagiert, ist unsere positive Einstellung zum Wald nicht seit Urzeiten in der „Volksseele“ verwurzelt; sie hat auch nichts mit einem wie auch immer gearteten intimeren Naturverständnis von uns Deutschen zu tun. Sie ist vielmehr eine Reaktion auf die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und auf den damit verbundenen, sich stark beschleunigenden Wandel, der als bedrohlich empfunden wurde: Während alles sich veränderte, erschien der Wald als ein Hort der Beständigkeit. In ihm schien die gute alte Zeit bewahrt geblieben zu sein.

Der Wald, der im 19. Jahrhundert besungen und gemalt wurde, war indes schon lange kein Urwald oder Naturwald mehr. Die Wälder, die wir auf Gemälden dieser Zeit erkennen können, sind das Ergebnis „moderner“ Forstwirtschaft. Caspar David Friedrichs Gemälde Der Chasseur im Wald zeigt einen Jäger inmitten einer Fichtenplantage, wie man sie bis heute in den Mittelgebirgen findet: Die Bäume stehen ordentlich in Reih und Glied. Kein Wunder, wurden sie doch von preußischen Förstern gepflanzt. Alle Fichten sind gleich hoch und gleich alt, unter ihnen wächst kein Kraut mehr. Der Wald, den wir Deutschen so innig lieben, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein auf maximalen Holzerlös optimierter Wirtschaftswald. Und dies bereits im 19. Jahrhundert!

Die moderne Forstwirtschaft ist, wie der Diesel- und der Ottomotor, eine Errungenschaft unseres Landes, auf die wir nicht zu Unrecht stolz sind. Wir haben den nachhaltigen Waldbau erfunden: Wir ernten nur so viel Holz, wie nachwächst. Die deutsche Forstwirtschaft ist getragen von grenzenlosem Optimismus und dem Glauben an den Fortschritt. Sie markiert wie die Industrialisierung eine Aufbruchszeit und ist Kennzeichen einer neuen Epoche, die sich mit aller Kraft den Naturwissenschaften, den verbesserten Methoden der Landvermessung und der Mathematik zuwandte. Ihr Ziel ist bis heute ein möglichst großer Holzertrag. Dementsprechend ist „Waldbau“ die wichtigste Disziplin der Forstwirtschaft, sie bedeutet so viel wie „Landwirtschaft mit Bäumen“.

Unsere Plantagenwälder lieben wir deswegen so sehr, weil wir kaum etwas anderes kennen. Wilde, ursprüngliche Natur gibt es heute fast nirgendwo mehr. Das ist tatsächlich in ganz Europa so. Die letzten Urlandschaften in Deutschland sind das Wattenmeer, das Hochgebirge über den Almen und einige restliche Moorgebiete. Die Gründe dafür reichen gut 2.000 Jahre zurück. Wilde Natur war den Römern zutiefst suspekt, im Gegensatz zur „schönen“, vom Menschen gestalteten Landschaft. Eine der ältesten bekannten Beschreibungen der deutschen Landschaft stammt von dem Gallo-Römer Ausonius aus dem Jahr 371 n. Chr. Ihm ging das Herz auf beim Anblick des von Menschenhand gestalteten Moseltals, das bereits damals intensiv landwirtschaftlich genutzt wurde1. Den Hunsrück hingegen, den er ebenfalls durchquerte, schildert Ausonius als eine weglose, abweisende, Furcht einflößende Gegend, deren finsterer Wald ihm den Blick zum Himmel versperrte. Diese kulturell geprägte Sichtweise, die nur die vom Menschen gestaltete Landschaft als schön empfindet, wird von den Franken übernommen und wirkt bis ins Mittelalter hinein. In dem mittelalterlichen Epos „Heliand“2 geht Jesus statt in die Wüste in den Wald. Was Wüste bedeutet, war offenbar unbekannt und der Wald wurde wie die Wüste als unwirtlich und unheimlich empfunden. Die Rodung des wilden Waldes, die Urbarmachung des Landes wurde so erfolgreich vorangetrieben, dass im Hochmittelalter lediglich 8 Prozent des heutigen Deutschlands noch mit Wald bedeckt waren, etwa so viel wie heutzutage im waldärmsten Bundesland Schleswig-Holstein. Erst nach der großen Pestkatastrophe, die zwischen 1350 und 1750 in ganz Europa wütete, eroberte der Wald wieder größere Flächen zurück. Heute liegt sein Flächenanteil hierzulande bei 30 Prozent.

Bis ins 18. Jahrhundert war der seit der Römerzeit umgestaltete Wald ein bedeutender Energielieferant und Holz der wichtigste Rohstoff für Haus- und Schiffsbau sowie für die Herstellung von Gebrauchsgegenständen. Der Wald diente zudem als Weideland für Schweine, Kühe, Schafe und Ziegen. In ärmeren Gegenden wurde das Laub zusammengekratzt und als Dünger auf die Felder ausgebracht. Der Wald war der Ort der mittelalterlichen Industrie: Glashütten und Köhlereien waren hier angesiedelt, Pottasche und Gerberlohe wurden in ihm gewonnen3. Im Erzgebirge und im Harz lieferte er Stützbalken für die Bergwerke.

Zum Vergnügen oder zur Erholung ging damals niemand in den Wald, im Gegenteil. Aus Göttingen wissen wir, dass ihn die Bevölkerung nur für eine begrenzte Zeit im Jahr betreten durfte, und zwar um dort zu arbeiten. Ansonsten war es streng verboten.

Wie ein Urwald aussieht, wissen wir kaum noch. Der Gedanke an eine sich selbst überlassene Wildnis macht uns auch heute noch nervös. „O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehen“ – so oder ähnlich heißt es in vielen Gedichten und Erzählungen, und auch der tiefe, dunkle Wald unserer Märchen zeugt von der Angst vor einer ursprünglichen, wilden, letztlich lebensfeindlichen Natur. Unsere Sprache spiegelt diese Angst wider und verrät bis heute unsere Einstellung zu Natur und Wald: Begriffe wie „verwildern“, „Unkraut“, „Ödland“ oder „Unholz“ beschreiben negative Zustände, die dort entstehen, wo der Mensch nicht ordnend eingreift. Ungestört wuchernde, sich selbst überlassene Natur gilt als unansehnlich oder gar als gefährlich.

Erst mit Alexander von Humboldt (1769–1859) änderte sich allmählich die Einstellung zur Natur – allerdings nicht in Bezug auf Europa, sondern auf Amerika. Humboldt beschrieb die Schönheit der Urwälder Amazoniens, aber auch bereits ihre Bedrohung durch die Kolonialmächte. Mit seinen umfangreichen Studien am Chimborazo, dem, wie man damals dachte, höchsten Berg der Welt, begründete er die Geobotanik. Und seine Erkenntnis, dass im Naturhaushalt alles mit allem zusammenhängt, war ein Vorgriff auf die heutige Ökosystem- und Biodiversitätsforschung.

Zu Humboldts Zeit begannen die Europäer, Nord- und Südamerika zu besiedeln. Die sogenannte Neue Welt bestand noch zu großen Teilen aus echter Wildnis, für deren Schönheit der preußische Naturforscher seinen Lesern die Augen öffnete. Trotz der Zerstörungen der Siedler blieb in einem so unendlich großen Land noch so viel Natur übrig, dass die Naturphilosophen und -forscher ein neues Verständnis von ihr entwickeln konnten. Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau (1817–1862) entdeckte das einfache Leben mit der Natur. Er zog in den Wald am Waldensee und bewohnte zwei Jahre lang eine selbstgebaute Blockhütte. Sein dort verfasstes Werk Walden, oder: Leben in Wäldern4, in dem er das einfache Leben im Einklang mit der Natur als Gegenentwurf zur Industriegesellschaft beschreibt, ist bis heute eine der wichtigsten Grundlagen für das Naturverständnis in Nordamerika. John Muir (1838–1914) sorgte für den Schutz des Yosemite Nationalparks und wurde zum Vater der Nationalparkidee5. Und George Perkins Marsh (1801–1882) beschrieb in seinem Werk Man and Nature6 eindringlich die Bedrohung der Natur durch den Menschen. Ökologie, Biodiversitätsforschung und Naturschutzbiologie sind Kinder Nordamerikas.

Europa hinkt bis heute hinterher: Erst seit den 1950er-Jahren befassen sich Geobotaniker und Forstwissenschaftler mit der Rekonstruktion des europäischen Urwalds. Dazu vergleichen sie Boden- und Klimadaten mit den Ansprüchen der heimischen Baumarten und stellen Überlegungen über mögliche Waldtypen und Waldgesellschaften an. Als hierzulande erstes Schutzgebiet seiner Art wurde 1970 der Nationalpark Bayerischer Wald gegründet. Mittlerweile gibt es in den meisten Bundesländern Nationalparks. In Berchtesgaden, im Harz, im Kellerwald, in der Eifel, im Hunsrück und im Nordschwarzwald umfassen sie insgesamt 112.545 Hektar Wald, der seiner natürlichen Entwicklung überlassen wird. Das klingt viel, entspricht aber nur einem Prozent der insgesamt elf Millionen Hektar Waldfläche in Deutschland.

Ein Argument gegen weitere Nationalparks ist der große Bedarf an Holz, auch und gerade in Krisenzeiten. Allein für Papier liegt er bei einer halben Tonne oder 0,5 Kubikmeter Holz pro Kopf und...

Erscheint lt. Verlag 7.12.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Schlagworte Deutsche Wälder • Klimaschutz • naturbelassen • Naturwald • resiliente Wälder • Wald • Wälder • Waldwirtschaft
ISBN-10 3-8419-0824-1 / 3841908241
ISBN-13 978-3-8419-0824-7 / 9783841908247
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