Wer Beine hat, der laufe (eBook)
264 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
9783958904118 (ISBN)
Heide Scherer, geb. 1943, war nach dem Lehramts- und Psychologiestudium im Schuldienst tätig. Aus ihren bewegenden Interviews mit Kriegsmüttern und Kriegskindern über ihre Erlebnisse im Winter 1945 entstand ihr Buch. Ihr geht es um die Hochachtung gegenüber den geflüchteten Frauen und Kindern und die transgenerationale Verantwortung, diese Erlebnisse zu verarbeiten und nicht unbewusst weiterzutransportieren. Heide Scherer lebt mit ihrer Familie in Südbaden.
Heide Scherer, geb. 1943, war nach dem Lehramts- und Psychologiestudium im Schuldienst tätig. Aus ihren bewegenden Interviews mit Kriegsmüttern und Kriegskindern über ihre Erlebnisse im Winter 1945 entstand ihr Buch. Ihr geht es um die Hochachtung gegenüber den geflüchteten Frauen und Kindern und die transgenerationale Verantwortung, diese Erlebnisse zu verarbeiten und nicht unbewusst weiterzutransportieren. Heide Scherer lebt mit ihrer Familie in Südbaden.
HELLA
Für die tapferen deutschen Mädchen, die sich als Erste bis Berlin durchgeschlagen haben!
Es ist der 2. Juni 2007, ein freundlicher, sonniger Vormittag. Ich bin in München nahe der Isar, in einer Straße mit Häusern aus der Gründerzeit.
Meine erste Interviewpartnerin wohnt hier. Sie ist bereit, mir ihre Fluchtgeschichte zu erzählen. Damals, im Januar 1945. Völlig überraschend und überstürzt musste sie mit ihrer Schwester von der Schulbank weg fliehen.
Das Treppenhaus mit der geschwungenen Eichentreppe und dem gedrechselten Geländer aus der Gründerzeit erinnert mich an mein Elternhaus. Ich bin erwartungsvoll gestimmt. Wen werde ich antreffen? Werden wir zwei Frauen in einer Atmosphäre der behutsamen Offenheit von den Erlebnissen hören? Wie werden ihre Erzählungen auf uns beide wirken?
An der Wohnungstür erwartet mich eine freundliche ältere Dame. In ihrem Wohnzimmer liegen schon die Unterlagen zu ihrer Flucht auf dem großen Eichentisch. Auch Fotos hat Hella bereitgelegt. Dann beginnt sie zu erzählen.
Mein Vater war vor dem Krieg Auslandskorrespondent bei verschiedenen großen Zeitungen in Italien und Frankreich. Ja, die Drohung eines Krieges war 1938 zum ersten Mal akut. Wir lebten damals in Paris und sind sofort vor dieser Drohung geflohen. Die Franzosen wollten die Deutschen ja bei Kriegsausbruch internieren, wenn es dazu gekommen wäre. Mein Vater wusste das. Er hat uns in zwei verschiedenen Autos zum Bahnhof bringen lassen und uns in den Zug gesetzt. Wir sind zu meiner Tante nach Lüdenscheid gefahren, ganz normal im Zug, fast ohne Gepäck.
Der Krieg brach dann doch nicht aus. So sind wir im Herbst wieder zurückgefahren. Dort haben wir weiter in unserer kleinen Villa am Rand von Paris gewohnt.
1939 war wieder diese Kriegsdrohung. Aber diesmal hatten meine Eltern nicht daran geglaubt. Im August 1939 sind wir mit unseren Sommerkleidchen zu einer anderen Tante gefahren. Es ging nach Pommern in die Sommerferien. Diese Tante hatte einen sehr großen Bauernhof. Meine Mutter musste damals nach Marienbad zur Kur. Und so waren wir drei Kinder alleine bei meiner Tante geblieben und dort versorgt worden. Das war alles wunderschön. Wir haben das sehr genossen.
Und plötzlich, am 1. September 1939, brach der Krieg wirklich aus. Und wir waren noch in Deutschland. Meine Mutter kam Gott sei Dank an dem Tag aus Marienbad zurück, sodass wir wieder zusammen waren. Aber nun war natürlich keine Möglichkeit mehr, nach Paris zurückzukehren. Und wir saßen da mit unseren Sommerkleidchen. So sind wir wieder nach Lüdenscheid zurück zu meiner anderen Tante gefahren. Die war sehr großzügig. Außerdem war sie die Lieblingsschwester meiner Mutter. Bis Weihnachten 1939 haben wir dort gewohnt.
Von Paris sind wir dann nach Berlin umgezogen. Mein Vater wurde vom Oberkommando der Wehrmacht, dem OKW, als Sonderführer im Hauptmannsrang eingezogen. Er sprach fantastisch Französisch und als Balte auch Russisch. Man brauchte ihn als Fachwissenschaftler sozusagen. Nach der Eroberung von Paris wurde er als Verbindungsoffizier nach Frankreich entsandt. Dort hat er zwei oder drei Jahre lang Dienst getan.
Er hat auch unser Haus in Paris wieder gefunden. Das war völlig unzerstört. Unsere Sachen waren alle noch vorhanden. Franzosen hatten in diesem Haus gewohnt. Das Essen stand noch auf dem Tisch. Die Anzüge meines Vaters waren verschwunden und auch alle Papiere. Aber sonst, die ganzen Möbel und das Silberzeug waren noch da. Das wurde alles nach Berlin geholt und dort eingelagert, weil wir ja kein eigenes Haus mehr hatten. Dort wurden die Sachen zerbombt und sind verbrannt.
Die Familie war jetzt in Deutschland und mein Vater alleine in Paris. Aber er kam immer wieder zu Besuch zu uns. Wir hatten in Berlin-Schlachtensee eine möblierte Wohnung gemietet, direkt am See, wahnsinnig romantisch und groß.
Mein Vater wurde vom OKW in die Wlassow-Geschichte einbezogen. Weil er so gut Russisch konnte, hat er die Flugblätter entworfen. Das war eine ganze Gruppe von Offizieren, die General Wlassow überreden wollten und es auch geschafft haben, auf der Seite Deutschlands gegen die Kommunisten zu kämpfen. Wlassow war Weißrusse und kein Kommunist. Aber das ist eine ganz eigene Geschichte. Deswegen war mein Vater in Berlin am OKW und nicht an der Front.
Nun muss ich etwas ausholen: Die Balten wurden von Hitler 1939 aus dem Baltikum umgesiedelt. Das war der Vertrag mit Stalin: Alle Deutschen raus, damit Stalin das Gebiet mit Kosaken besetzen konnte. Die baltischen Adelsleute, in der großen Zahl Gutsbesitzer, wurden in Polen, in den Warthegau und in das Gouvernement Warschau, umgesiedelt. Polen war indessen aufgeteilt. Dort wurden sie mit den polnischen Gütern entschädigt. Anstelle des Gutes im Baltikum bekamen sie ein Gut in Polen.
Die elfjährige Hella (vorne) mit ihrer Familie in Gembitz im Sommer 1944
Die Umsiedlung hat während des Krieges oder kurz vorher stattgefunden. Denn Stalin ist 1941 in den Krieg eingetreten. Am Anfang waren wir ja mit Russland verbündet. Das war der Hitler-Stalin-Pakt. Der hat gehalten, bis Hitler 1941 Stalin den Krieg erklärt hat. 1943 kamen die ersten schweren Bombenangriffe. Kurz danach wurden die Mütter und Kinder aus Berlin evakuiert.
Eine meiner baltischen Tanten hatte im Warthegau ein Gut von den Nazis bekommen, ein polnisches Gut. Als dann die Evakuierung der Familien aus Berlin stattfand, sind wir auf dieses Gut gefahren und lebten bei meiner Tante.
Im Sommer 1943 sind wir auf dieses Gut gekommen. Ich war zehn, nein elf Jahre vielleicht schon. Bis zur Flucht, also bis zum Januar 1945, sind wir auf diesem Gut gewesen und lebten dort. Auf Deutsch hieß der Ort Gembitz und auf Polnisch Gembice. Das liegt etwas nördlich von Posen und südlich von Schneidemühl.
Mit der Kutsche werden die Kinder zur Bahnstation gebracht.
Wir lebten zusammen auf dem Gut. Nach den Sommerferien 1943 stellte sich heraus, dass wir nicht nach Berlin zurückkehren konnten. Denn die Evakuierung sollte dauerhaft sein. So sind meine Schwester und ich zur Schule in eine Nachbarstadt gefahren. Die war etwa 40 Kilometer entfernt und hieß Kolmar. Dort war ein Gymnasium. In Kolmar wurden wir eingeschult und lebten in einem möblierten Zimmer. Zu zweit und ohne unsere Familie. Mein jüngerer Bruder kam in die Volksschule im Dorf in Gembitz.
Der Krieg kam im Dezember 1944 immer näher. Meine Eltern wussten sicher, dass die Russen durchbrechen werden. Aber sie durften uns das überhaupt nicht sagen. Wir Kinder haben nichts davon gewusst. Aber mein Vater war im OKW und hat das sicher gewusst.
Nun kommen die verworrenen Geschichten: Im Januar 1945 sind wir nach den Weihnachtsferien wieder in die Schule gebracht worden. Nun konnte man entweder die zehn Kilometer mit der Kutsche zur Bahnstation Sarben gebracht werden und dann mit dem Zug über Schneidemühl nach Kolmar fahren. Oder man konnte mit der Kutsche diese 40 Kilometer durch den Wald fahren. Das war nicht unmöglich für die Pferde. Also sind wir manchmal direkt nach Kolmar gebracht worden und manchmal eben nur bis zur Bahnstation. Eineinhalb Jahre sind wir dort zur Schule gegangen.
Die beiden Schwestern Hella (oben 1943) und Else (rechts 1944) mussten alleine die Flucht nach Berlin antreten.
Nach diesen Weihnachtsferien 1944/45 sind wir im Januar ab Sarben mit dem Zug gefahren. Der Wald war schon so von Partisanen durchsetzt, dass die Kutscher sich weigerten, uns Kinder durch den Wald zu fahren. Ich war damals zwölf und meine Schwester vierzehn Jahre alt.
Die Schule ging noch ziemlich regelmäßig. Das heißt: Meine Schwester wurde bereits abgestellt, um große Mengen Butterbrote für die ersten Flüchtlingstrecks zu schmieren. Die zogen schon von Ostpreußen aus bei uns durch. Aber das wurde sehr geheim gehalten. Das sollte man nicht erzählen.
Im Warthegau war es verboten zu flüchten. Aber weiter östlich, wo die Russen schon vorgedrungen waren, wurde die Flucht freigegeben. Sukzessive konnten dort die Trecks in Marsch gesetzt werden.
Ich weiß aus Erzählungen, dass meine Tante, die ja aus dem Baltikum kam und die Russen kannte, längst große Erntewagen vorbereitet hatte. Sie hatte die mit Planen ausfüttern und vom Stellmacher große gebogene Stangen über die Wagen zimmern lassen. Alles war schon mit Stroh gefüllt. Die Wagen standen bereits in der Remise und waren zur Flucht fertig. Das war auch nachher die Rettung für meine Mutter und meinen Bruder. Und für die Frauen, die dort von dem Gut flohen.
Mein Vater ist in den Tagen um den 15. oder 17. Januar vom OKW nach Posen geschickt worden, um dort noch einen Lehrgang zu gestalten. In dem Moment, als dann am 20. Januar die Nachrichten kamen, dass die Russen durch die Linie durchgebrochen wären, die die deutschen Soldaten gezogen hatten, war er in Posen. Meine Mutter hatte ihn dort besucht. Mein...
| Erscheint lt. Verlag | 11.2.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
| Schlagworte | 1945 • 2. Weltkrieg • authentische Berichte • Deutsches Reich • existenziellen Erschütterungen • Flucht • Fluchterlebnisse • Flüchtlinge • Flüchtlingstreck • Gewalterfahrung • Kriegsflüchtling • Kriegskinder • Kriegsmütter • Mut • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Notunterkunft • Notunterkünfte • Trümmerwüsten • Überlebenskampf • Verzweiflung • Westdeutschland • Winter 1945 • zerbombte Städte • Zweiter Weltkrieg |
| ISBN-13 | 9783958904118 / 9783958904118 |
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