Essinstinkt (eBook)
240 Seiten
Riva Verlag
978-3-7453-0468-8 (ISBN)
David Raubenheimer ist Insektenforscher und Professor für Ernährungsökologie an der School of Life and Environmental Sciences der Universität Sydney. Zusammen mit Stephen J. Simpson hat er bei seinen Forschungen u. a. über die Mormonengrillen Feststellungen gemacht, die heute als sogenannter »Eiweißeffekt« oder »Eiweißverdünnung« bekannt sind. Stephen J. Simpson ist akademischer Direktor des Charles Perkins Centre, Professor an der School of Life and Environmental Sciences der Universität Sydney und Geschäftsführer von Obesity Australia. Er hat zusammen mit David Raubenheimer geforscht und neue Wege beim Thema Ernährung beschritten.
David Raubenheimer ist Insektenforscher und Professor für Ernährungsökologie an der School of Life and Environmental Sciences der Universität Sydney. Zusammen mit Stephen J. Simpson hat er bei seinen Forschungen u. a. über die Mormonengrillen Feststellungen gemacht, die heute als sogenannter »Eiweißeffekt« oder »Eiweißverdünnung« bekannt sind. Stephen J. Simpson ist akademischer Direktor des Charles Perkins Centre, Professor an der School of Life and Environmental Sciences der Universität Sydney und Geschäftsführer von Obesity Australia. Er hat zusammen mit David Raubenheimer geforscht und neue Wege beim Thema Ernährung beschritten.
KAPITEL 9
Nahrungsumgebungen
Der Nobelpreisträger und Physiker Leon Lederman stellte fest, während einer intensiven, arbeitsreichen Zeit im Labor verschwinde die Außenwelt und die Besessenheit sei total. Genau das erlebten auch wir in den Experimenten mit Heuschrecken, Kakerlaken, Fliegen, Mäusen und anderen Wesen, was uns aber dabei half, einige grundlegende Wahrheiten über Adipositas und Langlebigkeit aufzudecken.
Doch für uns Biologen gibt es einen wichtigen Unterschied: Ein Teil der Außenwelt, der uns immer bewusst sein sollte, ist derjenige, in dem sich unsere Studienobjekte entwickelt haben und normalerweise leben. Es sind jene Lebensräume, die der Schlüssel zum Verständnis sind, warum die Biologie, die wir im Labor beobachten, genau in dieser Form existiert, welche Bedeutung sie für das Tier hat und was schiefgehen kann, wenn die alten Verbindungen zwischen Biologie und Lebensraum durch menschliches Zutun gekappt werden.
Solche Fragen hatten David 1989 in die Wüste Arizonas geführt, zwei Jahre bevor wir zusammen in Steves Büro die Daten des großen Heuschrecken-Experiments analysierten. Er hatte sich dorthin begeben, um das Verhalten einer bestimmten Insektenart in ihrem natürlichen Lebensraum, der Wüste, zu untersuchen.
Es wurde heiß, und ich [David] hatte mich selbst in große Schwierigkeiten gebracht. Wie an den Tagen zuvor hatte ich den Vormittag damit verbracht, einem Grashüpfer nachzustellen. Das war eine heikle Aufgabe: Kam ich ihm zu nahe, konnte ich ihn verschrecken; blieb ich auf Distanz, konnte ich ihn aus den Augen verlieren. So widmete ich ihm meine volle Aufmerksamkeit – war dennoch immer auf der Hut vor Klapperschlangen, Taranteln, Skorpionen und anderen Gefahren in dieser dürren Landschaft.
Nach einigen Stunden ließ meine Aufmerksamkeit langsam nach. Die Hitze wurde immer schlimmer, meine Lippen fingen an, spröde zu werden, und meine Nasenlöcher und mein Hals waren mit Staub belegt. Ich hatte Durst. Da bemerkte ich, dass ich meinen Rucksack mit Wasser und Nahrung unter einem Busch zurückgelassen hatte, wo ich das Tier am Morgen kurz vor Sonnenaufgang zum ersten Mal entdeckt hatte. Ich war hin und her gerissen: Wenn ich zurückkehrte, um den Rucksack zu holen, verlöre ich meine »Beute«. Bliebe ich aber an ihm dran, hätte ich nichts zu trinken und zu essen.
Ich blieb.
Um zu verstehen, wie ich in diesen Schlamassel geraten war und warum ich nicht die vernünftige Wahl getroffen und meine Nahrung und mein Wasser geholt hatte, muss man einige der Gründe kennen, weshalb Steve und ich bereits so lange zusammenarbeiten. Jeder von uns hat eine ganz eigene Reihe von Fähigkeiten und Erfahrungen in die Partnerschaft eingebracht, aber wir haben auch etwas gemeinsam: unser Verständnis von Biologie und Ernährung.
Wir teilen aber noch mehr. So haben wir unabhängig voneinander und bei zahlreichen Gelegenheiten verstanden, dass es Dinge gibt, die man nicht herbeisehnt. So erkannten wir beide, dass man trotz der beeindruckenden Ausrüstung und Methoden der modernen Wissenschaft so manches über Tiere nur mit Fleißarbeit erfährt: indem man sie beobachtet und ihr Verhalten stundenlang, ja sogar tagelang aufzeichnet.
Mit dieser unbequemen Wahrheit wurden wir bereits bei unserem Laborexperiment mit den Heuschrecken konfrontiert. In dem typischen Versuch, wie in Kapitel 1 beschrieben, hielten wir etwa 40 Heuschrecken, jede in ihrer eigenen kleinen Plastikbox, in der nur das Wesentliche vorhanden war: Nahrung, Wasser und eine Stange, auf der sie sich zwischen den Mahlzeiten ausruhen konnte. Eine Zeituhr war so programmiert, dass sie alle 60 Sekunden piepste und signalisierte, dass es an der Zeit war, aufzuzeichnen, was die erste, zweite, dritte – bis zur vierzigsten – Heuschrecke tat. So hatte jeder, der gerade Schicht hatte, etwa 10 Sekunden Pause, bevor es weiterging. Diesen Zyklus wiederholten wir im Minutentakt, Stunde für Stunde, zwölf Stunden oder mehr pro Tag, manchmal rund um die Uhr und über mehrere Tage hinweg. Es war eine zermürbende Arbeit, bei der die Marathonschichten nur von lieben Partnern, Freunden und Kollegen unterbrochen wurden, die dafür sorgten, dass unsere eigene Biologie nicht zu kurz kam.
Unsere Ergebnisse zeigten, dass Heuschrecken ein auffallend regelmäßiges Fressverhalten an den Tag legten. Die Insekten hatten einen Tagesablauf mit festen Ess-, Trink- und Ruhezeiten – ein wenig wie unser Tagesablauf mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Die genauen Details eines solchen Musters hingen jedoch von den Umständen ab, einschließlich der Art ihrer Nahrung, waren aber dennoch vorhersehbar.
Doch es gab ein Problem. Wie viele unserer Kollegen uns schnell daran erinnerten, konnten diese Experimente allenfalls den Beweis erbringen, dass das Verhalten der Insekten in einer künstlich regulären Laborumgebung eben künstlich regelmäßig war. Es war nicht ausgeschlossen, dass ihr Verhalten in freier Wildbahn anders sein könnte. Um das herauszufinden, mussten wir also das Labor verlassen. Nur so konnten wir herausfinden, ob das Verhalten der Tiere in ihrem wesentlich komplexeren Habitat, in dem sie sonst lebten und sich entwickelten, genauso regelmäßig war.
Die »Nahrungsumgebung« ist ein wichtiger Aspekt, der in den folgenden Kapiteln im Mittelpunkt stehen wird. Dabei geht es um alle Faktoren in einem Lebensraum, welche die Ernährung beeinflussen: Art und Vielfalt der Nahrung, ihre Menge und Verfügbarkeit sowie die Faktoren, welche die Fähigkeit eines Tieres beeinflussen, verfügbare Lebensmittel zu essen. Bei Tieren in freier Wildbahn umfassen diese Faktoren das Risiko, von Raubtieren gefressen zu werden, die Konkurrenz der Tiere untereinander und sogar nicht biologische Probleme wie die Temperatur.
Unsere Herausforderung bestand darin, eine Grashüpferart zu finden, die sich in freier Wildbahn so genau verfolgen ließ, dass wir detaillierte Verhaltensmuster über lange, ununterbrochene Zeiträume, ähnlich unserem groß angelegten Experiment in der künstlichen Nahrungsumgebung des Labors, aufzeichnen konnten. Das war nicht einfach. Ein Problem dabei war, dass Grashüpfer klein und meist gut getarnt vor ihrem botanischen Hintergrund sind – sie haben sich entwickelt, um nicht gesehen zu werden, geschweige denn, aus nächster Nähe von einem gigantischen Primaten verfolgt zu werden, der mehrere tausend Mal so groß ist wie sie. Eine weitere Herausforderung war, dass Grashüpfer auf eine Bedrohung entweder mit Regungslosigkeit reagieren oder fliehen, davonspringen oder davonfliegen. Die dritte Herausforderung bestand darin, wie sich das Exemplar, dem man nachstellte, wiedererkennen ließ. Selbst wenn wir es im Auge behalten konnten und es weder erstarrte noch floh, stellte sich die Frage, wie wir es identifizieren würden, sobald es, wenn auch nur kurz, in Gegenwart anderer Heuschrecken außer Sichtweite geriet. Da standen die Chancen nicht so gut.
Dann ergab sich eine fast maßgeschneiderte Antwort auf einige dieser Fragen. Über unsere Kollegin Liz Bernays, die Professorin an der Universität von Arizona in Tucson war, erfuhren wir von einem Grashüpfer namens Taeniopoda eques. Das war ein vielversprechender Start. Denn diese Art war alles andere als klein, schüchtern und gut getarnt. Sie gehören nicht nur zu den größten, langsamsten und mutigsten Heuschrecken, sie sind mit ihren leuchtend gelben Streifen auf schwarzem Untergrund auch auffällig gefärbt. Und: Die Männchen fliegen selten, die Weibchen gar nicht.
Kurz: Ein Tier, das sich entwickelt hat, um gesehen zu werden, nicht um sich zu verstecken. Und es hat den Stolz und das Selbstvertrauen des Unverwundbaren. Aus gutem Grund, denn sein Körper birgt einen giftigen Chemikaliencocktail. Mit seiner hellen Färbung und seiner selbstbewussten Fortbewegung – eine Kombination, die Aposematismus genannt wird und für giftige Kreaturen typisch ist –, sendet es die Botschaft aus: »Leg dich nicht mit mir an!« Und trifft sie doch einmal auf ein hartnäckiges oder naives Raubtier, das ein Nein nicht akzeptiert, hat es sogar einen Plan B parat: Es hebt seine Flügel an und zeigt seine leuchtend rote Unterseite. Die letzte Warnung, bevor es aus seinen Tracheen, einer Reihe von seitlich liegenden Bullaugen, durch die es auch atmet, eine giftige Ladung abscheulich riechenden Schaums absondert.
Ich packte meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg nach Arizona.
Am Anfang verbrachte ich die Zeit mit Taeniopoda, ohne irgendwelche Daten aufzuzeichnen. Ich beobachtete sie nur, wollte sie und die Herausforderungen, welche die Wüste für mich bereithielt, kennenlernen. Bald erkannte ich, dass die Art zwar perfekt für unsere Zwecke war, die einzelnen Grashüpfer selbst jedoch nicht ganz. Was ihnen fehlte, waren Namensschilder, damit ich sie, wenn ich eine Gruppe verfolgte, voneinander unterscheiden konnte.
Dieses Problem überwand ich, indem ich von einer weiteren Besonderheit der Biologie dieser Art profitierte. Abends, wenn die Nahrungssuche zu Ende war, kletterten sie auf einen Busch, um dort in etwa Schulterhöhe die Nacht zu verbringen. Kurz nach Sonnenuntergang, als auch die Hitze des Wüstentages langsam verschwand, kühlten sie so stark aus, dass sie sich nicht mehr bewegten – wie ein Magnet am Kühlschrank. So konnte ich mir einfach ein Exemplar schnappen, farblich markieren und zurücksetzen, als wäre nichts passiert. Als ich am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang wieder nachsah, saßen die Tiere noch genauso da wie am Vorabend. Sobald die aufgehende Sonne sie wieder ausreichend erwärmt hatte, kletterten sie hinunter und begannen den Tag mit Nahrungssuche.
Es bedarf eines gewissen Maßes an Zielstrebigkeit, um zwölf Stunden ununterbrochen durch eine Wüste zu wandern, nur mit...
| Erscheint lt. Verlag | 9.8.2020 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Ernährung / Diät / Fasten |
| Schlagworte | Aktiv • Alltag • ändern • Änderung • Appetit • Aufbau • Aufbauen • bewusst • Eiweiß • entgegenwirken • Erkennen • Ernähren • Ernährung • Essen • FIT • Fitness • flexibel • Flexibilität • Fördern • Förderung • Forschen • Forschung • Fressen • Gesund • Gesund Essen • Gesundheit • Gesund kochen • gezielt • Helfen • Hilfe • Information • Informieren • Instinkt • Instinktiv • Intuition • intuitiv • Kalorien • Kochen • Kraft • kräftig • Kräftigen • Lebensmittel • Lebensstil • Lernen • Lösungen • Medizin • medizinisch • Motivation • Motivieren • motivierend • Natur • Natürlich • Neuerscheinung • neuerscheinung 2020 • optimieren • Optimierung • Positiv • Prävention • präventiv • Probleme • Protein • Ratgeber • Stärke • Stärken • Therapie • therapieren • Tier • Tiere • Tipps • trainieren • Training • üben • Übung • Umsetzen • Umsetzung • Unterstützen • Unterstützung • Ursachen • Verändern • Veränderung • verbessern • Verbesserung • Verhalten • verhindern • vermitteln • Vital • Vitalität • Vorbeugen • Wirken • Wirkung • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftlich • Wohlbefinden • Wohl fühlen • Ziel • Ziele |
| ISBN-10 | 3-7453-0468-3 / 3745304683 |
| ISBN-13 | 978-3-7453-0468-8 / 9783745304688 |
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