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Deutschland in den Goldenen Zwanzigern (eBook)

Von schillernden Nächten und dunklen Tagen - Ein SPIEGEL-Buch
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26959-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Deutschland in den Goldenen Zwanzigern -
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Glanz, Glamour und tiefe Abgründe: unser Land vor hundert Jahren
In den Zwanzigerjahren war Berlin die wohl schillerndste Metropole der Welt: Auf dem Ku'damm flanierten elegant gekleidete Damen, unter den Leuchtreklamen der Lichtspielhäuser versammelten sich lange Menschenschlangen, Amüsierlokale lockten mit Tanz, Champagner und allem, was anderswo als verboten galt. Doch trotz Glamour und Aufbruchstimmung waren die Zwanziger auch ein düsteres Jahrzehnt. Spektakuläre Kriminalfälle hielten die Bevölkerung in Atem, Armut und Arbeitslosigkeit begannen die Gesellschaft zu polarisieren, und die Wut der Menschen über die politische Lage entlud sich in brutalen Straßenkämpfen. Mit diesem Buch laden SPIEGEL-Autor*innen und renommierte Historiker zu einer atemberaubenden Zeitreise ein, die eine der spannendsten Epochen der deutschen Geschichte wieder aufleben lässt.

»Ich bin Babel, die Sünderin, das Ungeheuer unter den Städten … Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine prima Armee, jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Es tut sich was, meine Herrschaften! Das muss man gesehen haben!«

Klaus Mann, Sohn des Nobelpreisträgers
Thomas Mann, in seiner Autobiografie
»Der Wendepunkt« über die Zwanzigerjahre

BERLIN BEI NACHT


Glamour, Boheme und Sündenpfuhl – in den Zwanzigern galt die deutsche Hauptstadt als eine der aufregendsten Städte der Welt. Zu Recht?

Von Fiona Ehlers

Es ist dieser Geruch nach damals, der einem schon an der Kneipentür in die Nase steigt. Ein Geruch nach Zigarrenrauch, Bier vom Fass, nach Schmalzstulle und Solei. »Wilhelm Hoeck« ist eine dieser Kleine-Leute-Kneipen im Berliner Westen, sie existiert seit 1892. Draußen rauscht der Berliner Feierabendverkehr, drinnen hängt an einer vergilbten Wand ein Foto des damaligen Gastwirts, bullig und beschnauzt wie der olle Friedrich Ebert, Reichspräsident, und an derben Holztischen stehen mittelalte Herren, heben ihre Biergläser und rufen »Hoch die Mollen!«, als hätte Zille sie dort hingezeichnet und hundert Jahre stehen gelassen.

Es dämmert, als Stadtführer Arne Krasting den Laden in Charlottenburg betritt, ein langer Lulatsch Mitte vierzig. »Eine gute Grundlage schaffen«, sagt er, küsst die Hand und bestellt Eisbein auf Erbspüree und ein paar Schnäpse. Auch Arne Krasting wirkt wie aus der Zeit gefallen, Schiebermütze, Knickerbocker, Studentenbrille. Krasting ist Historiker mit eigenem Stadtführungsunternehmen; »Zeitreisen« hat er es genannt. Er zeigt Besuchern das Berlin der Zwanzigerjahre, immer mehr wollen die Drehorte der Serie »Babylon Berlin« besuchen. Das einzig Moderne an Krasting ist das Tablet im Rucksack, das er von Zeit zu Zeit herauszieht, um vor Ort Filmausschnitte, Fotos, Reklame von einst zu zeigen sowie Zitate zum Besten zu geben. Krasting sagt, er hätte gern gelebt zu jener Zeit, sein liebstes Buch vom damaligen Berlin sei »Fabian« von Erich Kästner.

Betrachtet werden soll das Berliner Nachtleben, um eine Vorstellung zu bekommen, wie die goldenen Zwanzigerjahre gewesen sein könnten. Tatsächlich so wild und zügellos, so ausschweifend wie ihr Ruf? »Es ist nicht mehr viel übrig«, sagt Krasting, »fast alle maßgeblichen Gebäude und Etablissements von damals haben die Nazis, hat der Zweite Weltkrieg zerstört.« Aber es gibt Zeugnisse, vor allem Berichte aus einem Reiseführer der Zwanzigerjahre. In dieser Nacht wird Krasting oft aus ihm zitieren. Der »Führer durch das lasterhafte Berlin« von Curt Moreck, verfasst Ende der Zwanziger, als Geheimtipp für Millionen Berlinbesucher, ist Krastings beste Quelle. Für Moreck, hinter dem Namen versteckte sich der Schriftsteller Konrad Haemmerling, waren alte Bauwerke und Sehenswürdigkeiten schon damals bloß »mumifiziertes Gestern« und »Meilensteine der Langeweile«. Moreck erzählte lieber von Leidenschaften und Süchten. Sein Buch ist eine Art Sittenkunde, die in damalige Mokkadielen führt, auf den Schwulenstrich, in Travestielokale, Hinterhofbordelle und Unterweltspelunken – also das pralle Berliner Leben schildert, »das erst nach Sonnenuntergang erwacht, mit Lichtgirlanden den Nachthimmel anglüht oder sich auch im Dunkeln verbirgt«.

Was er bei Moreck nicht finden kann, zieht Krasting aus dem 2011 erschienenen Bildband »Sündiges Berlin« von Mel Gordon, US-Professor für Theaterwissenschaften aus Berkeley, der ein Verzeichnis der wichtigsten erotischen Läden und Aktivitäten der damals »sehr liberalen« Stadt erarbeitet hat.

Hell und laut und schlaflos muss Berlin in den Zwanzigerjahren gewesen sein. Unaufhörlich feierte es gegen den Untergang an und gegen die Dunkelheit. »Bin jetzt acht Tage in Berlin«, schrieb der französische Maler Fernand Léger, »habe nichts von der Nacht bemerkt. Licht um sechs Uhr, um Mitternacht, um vier Uhr, unaufhörlich Licht.« Berliner Nächte muss man sich erleuchtet vorstellen, voller Menschen und tosendem Verkehr, hupenden Automobilen, Omnibusse und Straßenbahnen, die wie erleuchtete Schlangen durch die Nacht zischten. Um 1920, als die bis dahin selbstständigen Städte Charlottenburg und Schöneberg eingemeindet wurden, war Berlin ein Viermillionenmoloch, Europas größte Industriestadt und nach London und New York die drittgrößte Metropole der Welt. Der Krieg war verloren, es galt, sich neu zu erfinden. Die Lust auf Aufbruch und Austoben war enorm, als hätten die Menschen viel nachzuholen. Vielleicht ahnten sie auch, dass es bald vorbei sein würde mit Jux und Dollerei.

Plötzlich war Berlin keine Residenzstadt mehr. Das Land war nun Republik, Berlin eine offene Stadt. Man schlug die alten Stuckgirlanden von den Hausfassaden und schraubte Reklametafeln aufs Dach, alles schien nun möglich. Für einen Moment, weniger als ein Jahrzehnt lang, war Berlin eine Welthauptstadt, zog internationale Intellektuelle und Künstler wie ein Magnet an. Eine junge Demokratie entstand, die Idee eines Nebeneinanders der Völker und Ideologien. Eine vielfältige, freie Presse sorgte für so etwas wie Debattenkultur. All das trieb Menschen zu kreativen Höchstleistungen an: Bertolt Brechts »Dreigroschenoper« entstand in diesen Jahren, Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«, die Chansonnette Claire Waldoff trällerte: »Wer schmeißt denn da mit Lehm, der sollte sich was schäm’«. Anita Berber tanzte nackt und kokste sich zu Tode, Marlene Dietrich aus Berlin-Schöneberg war die »fesche Lola, der Liebling der Saison«, Otto Dix, George Grosz, Walter Benjamin, Erich Kästner! In den Jahren zwischen 1920 bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 erlebte Berlin seinen »Weltaugenblick«, so nennt es Jens Bisky in seiner 2019 erschienen »Biographie einer großen Stadt«.

Und doch waren die Zwanziger auch ein düsteres Jahrzehnt, »nur kurz golden und gewiss nicht für alle«, sagt Krasting. Die Reparationszahlungen des Versailler Vertrags drückten auch die Hauptstädter, die Inflation von 1923 zerstörte Existenzen. Danach kam die Reichsmark, es gab einen kurzen Aufschwung, den viel beschworenen Tanz auf dem Vulkan. Trotzdem war die Not der Menschen vor allem des Nachts sichtbar, wenn Hunderttausende Arbeitslose ans Licht krochen, um etwas zu beißen zu besorgen.

Trude Hesterberg, Kabarettstar aus der »Wilden Bühne« und Geliebte Heinrich Manns, notierte in ihren Memoiren: »Bettelnd standen diese Menschen mit ihren ausgehungerten Kindern an den Ausgängen der Bars und der Tanzdielen, die wie giftige Pilze aus dem Boden schossen. Alles wurde kürzer, die Haare, die Kleider, die Liebe, der Schlaf!« Wie erlebte der Durchschnittsbürger die Berliner Nächte? Das sei es, sagt Krasting, was seine Gäste vor allem interessiere. Wie frei war sie wirklich, die Liebe? Und gab es auch Drogen?

Überspannt? I wo! Dit is Balin! Schlangenfrau in einem Gasthaus.

Der Aufstieg des Berliner Kurfürstendamms zum Vergnügungsboulevard begann, als sich 1907 die Pforten des »Kaufhauses des Westens« öffneten, noch heute als KaDeWe berühmt. Ein paar Straßenblocks weiter westlich bis hinauf nach Halensee avancierte der Ku’damm zum Schaufenster der Stadt – und auf Schau kam es damals an. Er war der »hellste Stern der Stadt«, notierte Curt Moreck. Hier werde all das befriedigt, was »Menschen im 20. Jahrhundert an Bedürfnissen und Genüssen zu befriedigen« hätten: »Schon ein Bummel unter Lichtreklamen ist wie eine lebendige Dusche, gibt Spannkraft, Lebensfreude, gibt Hoffnung auf Abenteuer und Sensationen. Der Berliner braucht sie als Nervenpeitsche wie der Süchtige seine Spritze.«

Hier also begann die Berliner Nacht, meist schon zum damals so beliebten Fünfuhrtee: Es ging um Zerstreuung, Betäubung und Vergessen. Man flanierte unter Platanen, glühte vor in den vielen Straßencafés und Spelunken, reihte sich ein in die Menschenschlangen vor den Lichtspielhäusern. »Damals war der Ku’damm vor allem Kino«, sagt Stadtführer Krasting, so etwas wie die Spielwiese des jungen Mediums Film. 1929 gab es knapp 400 Kinos in Berlin mit Platz für 150 000 Zuschauer. Wer tagsüber am Fließband gestanden hatte bei Siemens, Osram oder Borsig, ließ sich abends für 30 Pfennig in einen Samtsessel fallen und schaute Charlie Chaplins »Goldrausch«, »Das Cabinett des Dr. Caligari« oder Filme, in denen Berlin die Hauptrolle spielt: »Metropolis« oder »Berlin – Sinfonie einer Großstadt«.

Stadtführer Krasting zeigt auf den jüngst renovierten »Alhambra«-Palast, Ecke Adenauerplatz, ab 1922 eines der Uraufführungskinos des Tonfilms. Die »Filmbühne Wien«, ein paar Straßenzüge weiter Richtung Zoo, war eines der bekannten Premierenkinos. Stumm- und Tonfilmstars wurde hier der rote Teppich ausgerollt, Gaffer lockte es in die umliegenden Cafés. Heute wird hier anderen Göttern gehuldigt, heute stellt Computerriese Apple seine Ware aus wie in einem modernen Großstadttempel.

Dort hingegen, wo heute Tommy Hilfiger Freizeitmode verkauft, befand sich in den Zwanzigern das »Nelson-Theater«. In der Silvesternacht 1925, ein Jahr vor Aufhebung des allgemeinen Tanzverbots, trat dort eine hüftschwingende, Grimassen schneidende Josephine Baker auf. »Ihr Popo, mit Respekt zu vermelden, ist ein schokoladener Grießflammerie der Beweglichkeit«, schwärmte damals ein Kritiker. »Baker war Stadtgespräch, Berlin trug sie auf Händen«, sagt Stadtführer Krasting und läuft weiter den Ku’damm entlang, im Volksmund einst auch...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte Berlin • Bundesrepublik • Deutsche Geschichte • Die wilden Zwanziger • eBooks • Geschichte • Goldene Zwanziger • Neue Sachlichkeit • Roaring Twenties • Spiegel • Tanz auf dem Vulkan • Weimarer Republik • Zwanzigerjahre
ISBN-10 3-641-26959-8 / 3641269598
ISBN-13 978-3-641-26959-3 / 9783641269593
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