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Der Riss (eBook)

Wie die Radikalisierung im Osten unser Zusammenleben zerstört
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2262-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Riss -  Michael Kraske
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Der Rechtsruck im Osten kam nicht über Nacht, sondern hat eine lange Tradition. Michael Kraske, der kurz nach der Wende aus dem Sauerland nach Leipzig zog, spürt differenziert und empathisch den Gründen für den Riss im deutschen Osten nach. Ein aufwühlender Erfahrungsbericht und zugleich tiefgründige Analyse - eine kraftvolle deutsch-deutsche Erzählung. 'Der Riss' beschreibt, wie in Sachsen über viele Jahre eine Gewöhnung an rechtsextreme Ideologie, Strukturen und Gewalt eine Radikalisierung der Gesellschaft bewirkt hat. Pegida hat offenem Rassismus den Weg bereitet. Wahlerfolge der AfD, eine Zunahme rechter Straftaten, aber auch systematisches Versagen von Politik, Polizei und Justiz sind das Ergebnis. Michael Kraske erzählt nicht nur drastische Geschichten von Tätern und Opfern, sondern versucht die grassierende Wut zu verstehen, ihren wahren Kern aufzuspüren und er zeigt die drastischen Folgen. Es geht nämlich nicht darum, wie 'Ossis' oder 'Wessis' sind, sondern um Missstände und gefährliche Entwicklungen, denen entgegengewirkt werden muss mit einem 'New Deal Ost'.

Michael Kraske, geboren 1972, ist Journalist und Autor von Sachbüchern sowie Romanen und lebt in Leipzig. Er schreibt Reportagen und Porträts und interviewt für die ZEIT, SPON, MDR, National Geographic. Außerdem ist er Radio- und TV-Experte für WDR, MDR, Bayerischer Rundfunk, Deutschlandfunk und Phoenix.

Michael Kraske, *1972, ist Journalist und Autor von Sachbüchern sowie Romanen und lebt in Leipzig. Er schreibt Reportagen und Porträts und interviewt für die ZEIT, SPON, MDR, National Geographic. Außerdem ist er Radio- und TV-Experte für WDR, MDR, Bayerischer Rundfunk, Deutschlandfunk und Phoenix.

Beben im Osten


Ich bin ein Einheitsmensch. Kurz nachdem es wieder nur ein Deutschland gab, räumte ich mein geliebtes Jugendzimmer im Keller des Reihenhauses in Iserlohn, wo es immer nach Wald und Regen riecht, packte alles in einen gemieteten Lastwagen und fuhr nach Leipzig, um dort Politikwissenschaft zu studieren. Mittlerweile lebe ich länger in Leipzig, als ich im Westen war. Über ein Vierteljahrhundert.

Es war ein rauer Start damals, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung. In Leipzig gab es viele marode Häuser mit beigegrauen Fassaden, so gut wie keine Telefonanschlüsse, und als ich am ersten Abend nach Licht und Leben suchte, kam mir die City zwischen Nikolai- und Thomaskirche verdunkelt und ausgestorben vor, weil ich die wenigen Cafés nicht kannte. Da alle Wohnungen in der Stadt entweder vermietet oder verfallen waren, zog ich mit meiner damaligen Freundin in ein abgelegenes Haus südlich von Leipzig. Dahinter dämmerte in einer verlassenen Gärtnerei Ödland, und dahinter wiederum öffnete sich die Erde zu einem monströsen Loch, das gierige Bagger auf der Suche nach Braunkohle in die Erde gefräst hatten. Ich fremdelte mit dieser Stadt ohne Lichter, ohne aneinandergereihte Konsum- und Amüsiermeilen, und die Leipziger fremdelten mit mir, dem vorlauten Wessi. Sobald mich mein Akzent als einen von drüben outete, sprang Misstrauen an, das ich mit meinem westlichen Maulheldentum fütterte, indem ich meine Kommilitonen mit meiner Meinung über die Stasi und Mauerschützen bedachte. Manchmal reichte es schon, sich über eine unbekannte Suppe namens »Soljanka« zu wundern, um ein Wortgefecht in einem Café zu entfachen. Einmal schlug mir eine Verkäuferin in einem Zelt, in dem ein provisorischer Supermarkt eröffnet hatte, auf die Finger, weil ich es gewagt hatte, eine noch nicht abkassierte Ware vom Band zu nehmen.

Es waren Jahre der Hyperempfindlichkeit, in denen sich Wessis und Ossis fremd blieben. Es war aber auch eine Zeit des Aufbruchs, in der sich Macher und Spinner, Träumer und Visionäre ausprobieren konnten. In Kellern und alten Fabriketagen entdeckte ich mir bis dahin vollkommen unbekanntes Leben. Das brutale Stroboskoplicht in der Distillery, dazu harte und unmelodische Beats, der Sound einer neuen Zeit. Im St. Petersburg schenkte Igor, der aus der Ukraine stammt, Rotwein an Anzugträger und Großstadtstreuner aus, und es kam vor, dass man mitten in der Woche Samba tanzend ins Morgengrauen trat. Meine große Freiheit. Igor gehört inzwischen das Café Telegraph, in dem ich später die Premiere meines ersten Romans feierte, und als er sich neulich zu mir an den Tisch setzte, erinnerten sich zwei Veteranen an die gute alte Zeit. Was ich erst später begriff: Diese vermeintlich gute Zeit bedeutete für viele im Osten totalen Verlust: Land, Job, Währung, Marken, Vertrautheiten – alles weg. Oder wie mein Freund Tom aus Thüringen es mal auf den Punkt brachte: »Von heute auf morgen konnte man nicht mal mehr die Fahrkartenautomaten bedienen.« Heute weiß ich das. Trotzdem vermisse ich manchmal die Aufbruchstimmung von damals, den Mut, die Neugier. Nichts war fertig, alles schien möglich.

Inzwischen sind in Leipzig Farben und Lebensformen explodiert. Die alte Uni, die aussah wie asbestverseucht, ist einem modernen Campus gewichen. Die kathedralenhaften Hallen des monumentalen Kopfbahnhofs beherbergen heute eine Shopping-Mall. Die alte Blechbüchse am Ring ist mit ihrer silbern glänzenden Haut jetzt Teil einer riesigen Einkaufspassage. Überall in der Stadt gibt es Bars, Cafés und Restaurants, die edel illuminiert sind und exotisch bekocht werden. Im Barcelona gibt es die besten Tapas, vor der naTo das letzte Krostitzer und verbale Weltrettungen mit den Jungs, mit denen ich schon vor fünfundzwanzig Jahren in meinen Politikseminaren gepredigt habe. Aus den Tiergefängnissen des Zoos sind Freigehege geworden, in denen sich die tierischen Bewohner vor neugierigen Blicken der Besucher verstecken können. Die hässlichen Braunkohlenarben im Süden der Stadt wurden erst kiessteinige Mondlandschaften und danach Badeseen mit Sandstränden und Häfen, in denen Segelboote ankern. Ein Stadtteil nach dem anderen ließ das Beigegrau hinter sich. Auf der Karli, wie man die Karl-Liebknecht-Straße hier nennt, reihten sich zuerst Dönerläden, Plattenläden und Restaurants aneinander. Auf den Radwegen fahren Studenten und Lebenskünstler von der Uni zur WG und zurück. Mittlerweile ist die Szene vom Süden weiter in den Westen gezogen und besiedelt die alten Industriebrachen, wo vor der Wende Zehntausende malochten. In der alten Baumwollspinnerei teilen sich Hunderte Künstler aus aller Welt die Ateliers in Nachbarschaft zu Neo Rauch, der die Leipziger Schule mit Weltruhm schmückte.

Doch es waren nicht die Häutungen und Metamorphosen der Stadt, die mich ankommen ließen, sondern Begegnungen. Mit Anna, die als Kind mit einer Münze ins Treppenhaus geritzt hatte: »Weg mit dem Nato-Raketenbeschluss«. Die in einem Thüringer Internat Russischlehrerin werden sollte. Und mit der ich lernte, über DDR-Skurrilitäten wie den sozialistischen Jugendwettbewerb »Messe der Meister von morgen« genauso zu lachen wie über meine westdeutsche Sozialisation mit so verstörenden Ereignissen wie Schützenfesten inklusive Alkoholisierten in Uniform. Humor war unser Schlüssel und unsere Sprache. Wir lachten über meine dicke Kinderhornbrille, die mich wie einen jungen Woody Allen hatte aussehen lassen. Und über die bescheuerten Liedtexte, die Anna als Kind singen musste, weil die SED das so wollte: »Nimm die Hände aus der Tasche, sei kein Frosch und keine Flasche …« Ich zeigte ihr meine Kinderfotos, auf denen ich karierte Schlaghosen trug, und Anna fand auf einer Videokassette den Ausschnitt aus dem DDR-Fernsehen, wo sie im Blauhemd mit Engelsstimme für die sozialistische Sache auftritt. Auf diese Weise lernten wir unsere kindlichen Mikrotraumata kennen, mit einem tröstlichen und versöhnlichen Blick. Dass wir Freunde werden konnten, war nur möglich, weil wir uns schamlos Einblicke gewährten, weil wir neugierig verglichen, wie wir geworden waren, wer wir sind. Weder machte die realsozialistische Dauerberieselung aus Anna einen schlechteren noch die früh trainierte unbekümmerte Lust, meine Meinung immer und überall zu äußern, aus mir einen besseren Menschen. Diese Haltung schuf die Basis, kritische Fragen zu stellen: nach dem Leben im jeweils anderen Deutschland. Den eigenen Überzeugungen. Nie mussten wir uns voreinander rechtfertigen. Dadurch konnten wir uns viel erklären. Anna war eine der Ersten, mit der es egal wurde, in welchem Deutschland man groß geworden war. Weil Humor, Sympathie, Neugier, Offenheit und Respekt verbindender sein können als gleiche Herkunft. Anna lebt inzwischen als Lehrerin im Westen. Ich bin im Osten geblieben.

So wie mit Anna ging es mir nach und nach auch im Umgang mit Verkäuferinnen, Nachbarn, Handwerkern und Kellnern. Es wurde egal, wer woher kommt. Jedenfalls in den flüchtigen Begegnungen und kurzen Wortwechseln, die nicht mehr Misstrauen ausdrückten, sondern Normalität. Oft auch Augenzwinkern und einen derben Charme, den ich nur hier fand. Ich begann Wurzeln zu schlagen. Mich auf den intensiven Geruch von Bärlauch zu freuen, der in lauen Sommernächten aus dem Auwald in die Stadt zieht. Und ich begann erste Male zu sammeln. Mein Examen. Das erste Mal FKK am Kulki, dem See hinter den Plattenbauten. Die ersten hölzernen Tänze in vernebelten Kellergewölben zu elektronischer Musik. Meine erste Lesung in der rappelvollen Kellerbar vom Café Telegraph. Irgendwann begann ich auf die Frage, wo ich herkomme, zu antworten: aus Leipzig. Mehr noch: Ich erklärte Leipzig zu meiner neuen Heimat. Das ist ein großes Wort. Größer als zu Hause sein und sich heimisch fühlen. In Leipzig habe ich nachts mit einer Unbekannten vor dem Eingang von Auerbachs Keller Walzer getanzt. Hier habe ich meine große Liebe getroffen, an der Palmensäule vor der Nikolaikirche, die ursprünglich für die Helden der Montagsdemos errichtet wurde, dadurch aber zu meinem ganz persönlichen Denkmal der Liebe wurde. Hier bin ich Vater geworden. Über die holprigen Leipziger Bürgersteige habe ich den Kinderwagen geschoben und Wege und Stadtansichten verinnerlicht, sie zu meinen gemacht. In der Kita lernte ich warmherzige und mitfühlende Erzieherinnen kennen, die Rita, Hanni, Katrin und Corinna hießen. Die das strenge ostdeutsche Kita-Regiment durch offene Gruppen ersetzten, um kleine Abenteurer auf den Weg zu bringen. Meine Erfolge, Dramen, Euphorien und Abstürze spielen in Leipzig.

Meine Tochter ist hier geboren und aufgewachsen, bevor sie ein Jahr durch Australien reiste und danach in den Westen zog, um Lehrerin zu werden. Auch sie ist ein facettenreicher Einheitsmensch, der nunmehr merkwürdige Erfahrungen im Westen macht. Zwar sächselt sie nicht, auch wenn sie es ganz gut kann, aber wenn sie ihren Freund um die »Waschtasche« bittet, fragt der spöttisch zurück, ob sie vielleicht den »Kulturbeutel« meine. Sprachlich ist sie ein Kind des Ostens. Und nicht nur das. Es erstaunte sie zu erfahren, dass Schulsportstunden im Westen nicht mit dem von ihr für selbstverständlich gehaltenen, kollektiv gebrüllten...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte AfD • Alltagsrassismus • Behördenversagen • Bestenliste • Demokratie • Demokratieverständnis • Gewalt • Heimat • Nationalismus • New Deal Ost • NSU • ostdeutsche Identität • Ostdeutschland • Pegida • Politik • Rassismus • rechte Gewalt • Rechtsextremismus • Rechtspopulismus • Rechtsruck • Rechtsstaat • Reportage • Völkischer Nationalismus • Wut • Wutbürger
ISBN-10 3-8437-2262-5 / 3843722625
ISBN-13 978-3-8437-2262-9 / 9783843722629
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