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WestEnd 2/2019: Schulden und Schuld -

WestEnd 2/2019: Schulden und Schuld

Neue Zeitschrift für Sozialforschung
Buch | Softcover
227 Seiten
2019
Campus (Verlag)
9783593511566 (ISBN)
CHF 19,55 inkl. MwSt
  • Titel ist leider vergriffen;
    keine Neuauflage
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In Anlehnung an die berühmte »Zeitschrift für Sozialforschung« (1932 - 1941) verfolgt auch ihre seit 2004 halbjährlich erscheinende Nachfolgerin »WestEnd« den Anspruch einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Zur Veröffentlichung kommen Aufsätze und Essays aus Soziologie, Philosophie, politischer Theorie, Ästhetik, Geschichte, Entwicklungspsychologie, Rechtswissenschaft und politischer Ökonomie. Neben den Rubriken »Studien« und »Eingriffe« behandelt jedes Heft ein Schwerpunktthema.Schulden sind allgegenwärtig. In Europa sind öffentliche und private Schulden im Zuge der neoliberalen Restrukturierung der letzten drei Dekaden zu einer Rekordhöhe angestiegen. Die darauffolgenden politökonomischen Austeritätsmaßnahmen, die mit einem moralisierten Schulddiskurs gegen »Schuldnerstaaten« einhergingen, hatten gravierende Auswirkungen, insbesondere für die südeuropäischen Gesellschaften und den Rückbau sozialer und demokratischer Bürgerrechte. Infolgedessen hat sich die Nord-Süd-Divergenz zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten im Euroraum außerordentlich vertieft. Der Begriff der Schulden lässt sich - vor allem in der deutschen Sprache, die in diesem Begriff die Schuld verortet - in einer Vielzahl von Diskursen nicht allein mit einem ökonomischen Verständnis erfassen. In ihm verdichten sich zahlreiche Bedeutungsinhalte ökonomischer, politischer, moralischer, ethischer, religiöser und juridischer Art. Dieses Heft wird der Pluralität des Begriffs nachgehen: Es präsentiert inter- und transdisziplinäre Reflexionen und empirische Analysen zu gegenwärtigen Schuld- und Schuldenbeziehungen innerhalb des sich im tiefgreifenden Wandel befindenden europäischen Geflechts.InhaltStudien:Jasmin Siri/Paula-Irene Villa: Zur Politisierung einer Kategorie in Zeiten ihrer digitalen ReproduktionFrieder Vogelmann: Mit Unwahrheit kämpfen. Zur Aktualität von VernunftkritikHauke Brunkhorst: Entkopplung von Wahrheit und Demokratie. Autoritärer Liberalismus im globalen Strukturwandel der ÖffentlichkeitStichwort: Schuld und SchuldenHg. von Aristotelis Agridopoulos, Axel Honneth, Nathalie Karagiannis und Peter WagnerAristotelis Agridopoulos, Axel Honneth, Nathalie Karagiannis und Peter Wagner: EinleitungJohann Szews: Zeitregime der Verschuldung. Zur Aktualität von Nietzsches Genealogie der MoralNathalie Karagiannis: Tabula rasa. Das Ende der SchuldenAristotelis Agridopoulos: Schuld und Krise. Zeitdiagnosen im KonfliktAndreas Streinzer: Das Gerangel um die Extraktion. Handlungsmöglichkeiten Verschuldeter in GriechenlandBo Strath: Wirtschaftstheorien und die Schuldfrage im Nord-Süd-GefällePeter Wagner: Historisches Unrecht im Zeitalter von Menschenrechten und DemokratieEingriffe:Michael Walzer: Welcher Sozialismus?Martin Saar: Ordnung - Praxis - Subjekt. Oder: Was ist Sozialphilosophie?Micha Brumlik: FundamentalismusAndreas Huyssen: Behemoth Wiederkehr. Faschismus im 21. JahrhundertArchiv:Dirk Braunstein: »Seien Sie also unbesorgt ...« Einleitung in den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Karl R. PopperTheodor W. Adorno und Karl R. Popper: Briefwechsel 1961Mitteilungen aus dem IfS:Martin Saar/Tobias ten Brink: Die Leidenschaft der Freiheit. Zum Gedenken an Ulrich Rödel, 1943-2019

Studien

3Jasmin Siri und Paula-Irene Villa: Gender. Zur Politisierung einer Kategorie
in Zeiten ihrer digitalen Reproduktion
25Frieder Vogelmann: Mit Unwahrheit kämpfen. Zur Aktualität von Vernunftkritik
47Hauke Brunkhorst: Entkopplung von Wahrheit und Demokratie. Autoritärer
Liberalismus im globalen Strukturwandel der Öffentlichkeit

Stichwort
Schuld und Schulden. Hg. von Aristotelis Agridopoulos, Axel Honneth,
Nathalie Karagiannis und Peter Wagner

77Aristotelis Agridopoulos, Axel Honneth, Nathalie Karagiannis
und Peter Wagner: Einleitung
81Johann Szews: Zeitregime der Verschuldung. Zur Aktualität von Nietzsches
Genealogie der Moral
91Nathalie Karagiannis: Tabula rasa. Das Ende der Schulden
103Aristotelis Agridopoulos: Schuld und Krise. Zeitdiagnosen im Konflikt
117Andreas Streinzer: Das Gerangel um die Extraktion. Handlungsmöglichkeiten
Verschuldeter in Griechenland
127Bo Stråth: Wirtschaftstheorien und die Schuldfrage im Nord-Süd-Gefälle
137Peter Wagner: Historisches Unrecht im Zeitalter von Menschenrechten
und Demokratie

Eingriffe

149Michael Walzer: Welcher Sozialismus?
161Martin Saar: Ordnung – Praxis – Subjekt. Oder: Was ist Sozialphilosophie?

175Micha Brumlik: Fundamentalismus
187Andreas Huyssen: Behemoths Wiederkehr. Faschismus im 21. Jahrhundert

Archiv

197Dirk Braunstein: »Seien Sie also unbesorgt …« Einleitung in den Briefwechsel
zwischen Theodor W. Adorno und Karl R. Popper
205Theodor W. Adorno und Karl R. Popper: Briefwechsel 1961

Mitteilungen aus dem IfS

221Martin Saar und Tobias ten Brink: Die Leidenschaft der Freiheit. Zum Gedenken an Ulrich Rödel, 1943–2019

225Autorinnen und Autoren

Jasmin Siri und Paula-Irene Villa Gender. Zur Politisierung einer Kategorie in Zeiten ihrer digitalen Reproduktion Die Verselbständigung des Begriffs Gender im Feuilleton, in Debatten und Kommentaren in sozialen Medien, Gender als Thema von Wahlkämpfen (gegen »Gender-Ideologie« kämpft das CSU-Grundsatzprogramm seit 2017 mit dem aufschlussreichen Titel »Die Ordnung«) und policies (Gender Mainstreaming in der EU), Gender als Teil der Waren- und Konsumwelt (Männermüsli und Frauenkulis), Gender als Marker einer individuellen Identität (he/her, him/his, they/them usw.) und als Teil von identity politics (was auch immer das sein soll, aber offenbar besonders böse derzeit), Gender wie in Gender*_Istas oder Gender wie in trans-: Je nach Kontext wird »Gender«gefeiert oder diffamiert, begeistert für sich reklamiert oder entsetzt abgewehrt. Dabei ist, zumindest aus geschlechterwissenschaftlicher Sicht, interessant, wie sehr sich die Debatte über Gender von dem entfernt hat, was wissenschaftlich – im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung und den interdisziplinären Gender Studies – seit Jahrzehnten an Forschung und Diskussion stattfindet. Die öffentliche und die wissenschaftliche Debatte sind weitestgehend entkoppelt, die antagonistischen Positionen zu Lagern verfestigt und die empirischen Beispiele, an denen sich Debatten entfalten, aus wissenschaftlicher Perspektive oft abseitig. Für Forschende in den Gender Studies bzw. der Geschlechterforschung ergibt sich daraus eine paradoxe Position: Einerseits wird, ohne Kenntnis und zum Teil in bewusster Missachtung einschlägiger Forschung und Begriffe, kritisiert, was sie tun – oder angeblich tun. Andererseits ist es kaum möglich, sich als Forschende_r der Kritik zu entziehen – wie strategisch oder unsachlich sie auch sein mag. Kritik, Diffamierung, Projektionen und Unterstellungen reichen auch in den Gender Studies bis weit in das System Wissenschaft hinein, prägen Wahrnehmungen bei Studierenden und nötigen bisweilen akademische Organisationen zu Stellungnahmen: Die Forderung nach Abschaffung der Gender Studies von Seiten rechtspopulistischer Aktivisten und Bündnisse ist dafür nur ein Beispiel. Dies in einer Situation, in der – auch jenseits der Gender Studies – Erwartungen an Wissenschaft formuliert werden, die über eine nachvollziehbare und begrüßenswerte Neugier weit hinausgehen und die umschlagen in populistische Ansprüche an Nützlichkeit und Allgemeinverständlichkeit von Wissenschaft überhaupt. Dem außerwissenschaftlichen Diskurs zu den Gender Studies zu folgen ist aufwändig, aber eine lohnende empirische Herausforderung. Auf ihn jedoch als Adressierte zu reagieren, stellt – aus wissenschaftlicher Perspektive – eine Schwierigkeit dar. Denn zahlreiche Begriffe werden verdreht, entkontextualisiert und in völlig anderer Weise verwendet, um das Feld der Gender Studies oder der Gender-Politik angeblich zu beschreiben. Dabei geht es nicht um simple Missverständnisse oder naive Unkenntnis. Vielmehr wird in zahlreichen politischen und subkulturellen Kontexten recht gezielt, dafür mit wenig bis keiner Sachkenntnis, diffamiert. Die politisch-strategische Nutzung des Begriffsrepertoires der Gender Studies führt zu Deutungen, die wissenschaftlich unsinnig sind, die so auch im Feld nicht vertreten werden, und die doch öffentliche Debatten prägen. So finden sich aktuell zahlreiche Stimmen, die den Gender-Begriff als symptomatisch für postmoderne Denkformen sehen, und diese wiederum ausgerechnet für identity politics verantwortlich machen. Wo doch Identitätskritik bzw. Kritik an allzu einfachen Vorstellungen gegebener, subjektivistischer, fester Identitäten gerade ein »Markenkern« postmoderner und auch poststrukturalistischer Theorien ist, gerade in feministischer und geschlechtertheoretischer Hinsicht. Es zeigt sich hier wie auch an anderen Beispielen, dass Sozialwissenschaften und öffentliche Diskurse auf Gedeih und Verderb miteinander verwoben sind – und dementsprechend ist es aus wissenschaftlicher Perspektive sinnvoll, die neue Politisierung von »Gender« genauer in den Blick zu nehmen. Logischerweise ist es ebenso interessant und auch relevant für das Forschungsfeld, sich selbstreflexiv zu fragen, was diese neuen Politisierungen mit dem Feld selbst zu tun haben. Dies birgt die Möglichkeit, entlang von außerwissenschaftlichen Resonanzen etwas über sich und die eigene diskursive Performativität zu lernen. Verschiedene Protagonist_innen des öffentlichen Diskurses verstehen »Gender« als einen an sich politischen, gar ideologischen Begriff. Die Genese und Verwendung des Begriffs in der Forschung wird dabei völlig ausgeklammert. »Gender« ist zu einem politischen Kampfbegriff geworden. Er wird von christlichen Fundamentalist_innen und der politischen Rechten gleichsam attackiert, da Erstere darin eine Bedrohung christlicher Lebensweisen, Letztere die der Nation sehen. Und auch in linken Kontexten finden sich Äußerungen, die Gender Studies oder deren Ergebnisse als entweder überholt darstellen, als störenden »Nebenwiderspruch« links (oder vermeintlich rechts) liegen lassen wollen, oder aber in Gender gleich den kulturrelativistischen Verrat an den eigentlichen Kämpfen um Universalismus und Menschenrechte wittern (vgl. Berendsen 2015). Dabei werden bisweilen gendertheoretische Perspektiven als abgehoben, unrealistisch und als eine identitäre Übertreibung spezifischer politischer Gruppen diffamiert, während wiederum die wissenschaftliche Genese dieser Perspektiven wider besseren Wissens missachtet wird. Nicht zuletzt in diesen aktivistischen Kontexten scheint auch das verwirrende Verständnis von poststrukturalistischer Lektüre als Identitätsmotor seinen Ursprung zu haben – zumindest hinsichtlich der empirischen Beispiele, die von den Kritiker_innen herangezogen werden. So wird gerade in sich als links bezeichnenden, besonders kritisch gerierenden Konstellationen »Gender« mit postmodernem Kulturrelativismus verbunden, zum Teil auch als latent antisemitisch verstanden. Letzteres deshalb, weil das Konzept auf das Werk von Judith Butler enggeführt wird, und deren Werk wiederum als Ausdruck einschlägiger politischer Aussagen der Autorin zur Unterstützung von Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) und zur Kritik an der israelischen (Palästina-)Politik (vgl. Fetscher 2012). Angesichts dieser komplexen Gemengelage, einer Polarisierung von »Pro«- und »Contra«-»Gender« und der diskursiven Frontstellung, die sich daraus ergibt, wird die wissenschaftliche Stellungnahme zu Genderfragen zum Eiertanz, sowohl habituell als auch ganz praktisch. Denn Wissenschaft muss sich per se mit Rhetorik schwertun, die in antagonistischen »dafür/dagegen-Binaritäten« strukturiert ist. Aus wissenschaftlicher Perspektive können wir uns weder dafür entscheiden, ein Geschlecht zu haben oder in Praxis zu machen, noch ergibt es Sinn, »für« oder »gegen« Gender zu sein. Denn, um es erneut klar auszubuchstabieren: Gender im Sinne der Forschung und auch mancher policies, etwa dem Gender Mainstreaming, meint nicht mehr und nicht weniger als eine biosoziale Differenz, die, historisch konstituiert, durch andauernde Praxen in verobjektivierten Zusammenhängen beständig sozial (re)produziert, also im soziologischen Sinn konstruiert wird; mithin die Tatsache, dass wir beispielsweise als Töchter, Söhne, Mütter, Väter, als Professorin oder Arbeitsloser, als non-binäre Person oder Christin (usw.) mit gesellschaftlichen Anforderungen an unser Geschlecht oder einer vergeschlechtlichten Praxis – können Frauen Politik? Können Männer sich um Babys kümmern? Sind Personen, die sich weder als Männer noch als Frauen positionieren, normale Menschen oder bizarre Ausnahmen? – konfrontiert werden. Wir werden geschlechtlich positioniert und wahrgenommen, ob wir wollen oder nicht, ob wir dies wissen oder nicht, ob das gut ist oder nicht. Geschlechtliche Positionierungen sind relevant, zwar nicht allein und nicht alles entscheidend, aber doch im Hinblick auf rechtliche, ökonomische, politische und kulturelle Teilhabe und Anerkennung, im Hinblick auf Gesundheit und Einkommen, auf Risiken, Gewalt zu erfahren, oder auf die Ausübung bestimmter Berufe (vgl. Villa 2017). Derartige Positionierungen zu beschreiben, in ihrem Gewordensein und ihrer spezifischen Relevanz zu erklären sowie sie sozialhistorisch zu verorten, ist Aufgabe der Gender Studies. Mit einer kurzen Rekapitulierung der Forschungstradition und ihrer Themen beschäftigt sich das nachfolgende Kapitel. Freilich können politische Akteure aus den Ergebnissen der Forschung etwas ableiten, zum Beispiel die Stärkung von Vätern aus der Forschung zur ungleichen Verteilung von Familienarbeit, wie sie in den letzten Elterngeldgesetzen geschehen ist. Doch dies ist keine Besonderheit der Gender Studies, sondern academic business as usual, wie es auch stattfindet in Bezug auf die Geowissenschaften (Klimawandel), die Bio- bzw. Lebenswissenschaft (gesundheitspolitische Initiativen zur Impfpflicht bei Masern oder Reproduktionstechnologien), Natur- und Ingenieurwissenschaften (politisches Interesse an Elektromobilität und Digitalisierung oder an Vermeidung von Mikroplastik), um nur einige wenige zu nennen. Normal ist auch, dass Anwendungen wissenschaftlichen Wissens politisch stark umkämpft sind. Nicht mehr ganz so normal ist zwar, in welchem Ausmaß derzeit das Vertrauen in die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft erodiert, und mit welchem Willen zum Unwissen gegen wissenschaftliche Erkenntnisse agitiert wird. Gleichwohl muss betont werden, dass zumindest in Deutschland kein Grund zum allgemeinen Alarmismus besteht: eine knappe Mehrheit vertraut der Wissenschaft im Allgemeinen (Mau und Villa 2018; Wissenschaftsbarometer 2018). Nun scheint uns ein bedeutender Unterschied jedoch darin zu bestehen, dass (bislang) nicht gefordert wird, Medizin, Geowissenschaften, Elektrotechnik oder Informatik abzuschaffen. Für die Gender Studies hingegen gibt es derlei Aufrufe, ganz konkret und mehrfach. Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) fordert, die Gender Studies abzuschaffen, in Ungarn ist diese Idee bereits politisch mehrheitsfähig und als Streichung der (ohnehin nur zwei) Gender Studies-Studiengänge Realität geworden – eine Realität, die gegen die verfassungsgemäße Freiheit von Forschung und Lehre verstößt. In der Forderung nach Abschaffung der Gender Studies werden in paradoxer Weise zwei konträre Ansprüche formuliert: Einerseits soll sich die Geschlechterforschung mit »echten Problemen echter Menschen in der echten Welt« befassen – und nicht mit den abstrakten, unverständlichen, abgehobenen, theoretischen Glasperlenspielen angeblich überalimentierter »Lehrstuhlbesetzerinnen« im akademischen Elfenbeinturm. Das ist das Motiv des Anti-Intellektualismus, das zahlreiche (rechts-)populistische Bewegungen und neoautoritäre Politiken kennzeichnet. Darin wird Nützlichkeit zum Kriterium von Wissenschaft, und diese Nützlichkeit wiederum technokratisch und ökonomisch enggeführt – Bolsonaros Regierung hat dies in Brasilien jüngst entsprechend formuliert. Andererseits und zugleich wird den Gender Studies aus denselben rechtspopulistischen Konstellationen vorgeworfen, zu nah an der Politik und zu eng mit Interessengruppen verbandelt zu sein. Diese Unterstellung geriert sich als »anti-korruptiv«, als Verteidigung guter – weil objektiver und nicht interessengeleiteter – Wissenschaft. Sie unterstellt den Gender Studies, ein im Kern politisches Unterfangen zu sein, das außerwissenschaftliche Logiken in Forschung und Lehre trägt und diese damit korrumpiert. Lobbyismus (im Dienst der »Homo-Lobby« oder der »EU-Lobby«) sei, so heißt es, die eigentliche Form der Gender Studies. Diese seien demnach viel zu nah am politischen Geschehen. Ob zu weit weg vom Alltag der Menschen oder zu nah an der Politik, die Gender Studies sind aus dieser Perspektive so oder so nicht angemessen als Wissenschaft aufgestellt. Interessant ist ebenfalls, dass sich die Gegner der Gender Studies ein vergleichsweise kleines Fach für ihren Kulturkampf ausgesucht haben. Vermutlich liegt der Grund hierfür im Potential, durch die Kritik an »Gender« ganz unterschiedliche gesellschaftliche Milieus politisch anzusprechen und zu versammeln. Die medienpolitische Landschaft des 21. Jahrhunderts trägt hierzu erheblich bei. In unserem Beitrag wollen wir ausloten, weshalb gerade der Kampf gegen die Gender Studies sich offenbar zur antipluralistischen Mobilisierung – vor allem von völkisch-rassistischer Seite, aber auch in konservativen und linken Varianten – eignet. Zu diesem Zweck stellen wir im Anschluss an eine kurze Rekapitulierung des Gender-Begriffs die Rhetorik der sogenannten Anti-Genderistenvor. Wir fragen außerdem danach, welche Rolle die veränderten Kommunikationsbedingungen einer pluralisierten Öffentlichkeit für anti-genderistische Politikangebote spielen. Gender Studies, zur Einführung Da wir uns mit einem Diskurs beschäftigen, der, wie bereits angedeutet, sehr unscharf und verfremdend mit dem Begriff Gender und dem Ziel der Gender Studies umgeht, wollen wir zunächst in aller Kürze beschreiben, was Gender als wissenschaftliche Perspektive bedeutet und mit welchen Themen sich die Gender Studies beschäftigen. Unser Fokus ist zwar sozialwissenschaftlich, gleichwohl sprechen wir nach bestem Wissen für das ganze multi-, womöglich gar interdisziplinäre Feld. Gender umfasst Geschlechtlichkeit als Teil der menschlichen Existenz – in jeder Hinsicht und in allen Dimensionen. Gender meint die kulturell verhandelte, medial vermittelte, historisch konstituierte, sozial bedeutete, in Praxen gestaltete, immer kontextspezifische, materielle, biosoziale Form der Geschlechterdifferenz. Wie jede (Grundlagen-)Wissenschaft brechen die Gender Studies mit der »doxa« (Bourdieu 1985), dem (naiven) Alltagswissen (Frauen sind emotional, Männer rational). Sie zeigen vielmehr, wie voraussetzungsreich es ist, ein Geschlecht zu sein (vgl. Villa 2011), weil dies zu sein faktisch ein andauernder praktischer Prozess ist. »Doing gender« (Garfinkel 1984; vgl. Gildemeister 2010) nennt die einschlägige Forschung daher diese fortlaufende soziale Praxis der Geschlechtlichkeit, die selbstverständlich nicht von Körpern oder Biologie absieht – sondern in variabler Weise die Stofflichkeit und Natürlichkeit des Geschlechts überhaupt erst sozial zur Geltung bringt. Oder auch nicht. Denn das »undoing gender« (Hirschauer 2001 und 2014) ist ebenso Thema der Gender Studies: Wie, wo, unter welchen Umständen und in welchem Kontext wird Geschlecht dethematisiert, irrelevant gemacht, in seiner Bedeutung relativiert? Beide Prozesse, doing wie auch undoing gender, finden empirisch statt. Und, auch dies lässt sich nur unter systematischer empirischer Beobachtung feststellen: Sie finden wesentlich hinter dem Rücken der Personen statt, die das tun.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie WestEnd
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 172 x 240 mm
Gewicht 469 g
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Geld / Bank / Börse
Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Austerität • Austeritätspolitik • EU-Politik • Schulden • Schuldnerstaaten • Staatsverschuldung • Verschuldung
ISBN-13 9783593511566 / 9783593511566
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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