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Warten auf den Vater -  Tatjana Böhme-Mehner

Warten auf den Vater (eBook)

Erinnerungen an Ibrahim Böhme
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
208 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
9783958902756 (ISBN)
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22. November 1999: Mein Vater ist tot. Gegen sieben Uhr morgens klingelte das Telefon. Es war die Todesnachricht. Ich wusste schon vorher, dass sie es ist. Nicht, dass ich sie erwartet hätte. Nicht mehr jedenfalls als an irgendeinem anderen Morgen in den letzten Jahren. Obwohl die Nachricht an sich zu erwarten war: Schlecht ging es ihm, seit er sich endgültig aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte. Ein kleines Ende war seither jede unserer Begegnungen gewesen. Im freien Fall von der Lichtgestalt zum enttarnten Spitzel - ich war beiden gegenüber skeptisch. Doch nun ist er tot; und ich frage mich, wer dieser Mensch war. Manfred oder Ibrahim? Dissident oder gemeiner Stasi-Spitzel? Weltflüchter oder Realist? Arbeiter oder Intellektueller? Tragischer Held oder Clown? Ich bin mir nicht sicher. Tatjana Böhme-Mehner schildert in Warten auf den Vater die außergewöhnliche Beziehung zu ihrem Vater Ibrahim (Manfred) Böhme, der 1978 aus der SED ausgeschlossen und mehrere Monate inhaftiert und 1990 zum Vorsitzenden der neu formierten Ost-SPD gewählt wurde. Er galt als aussichtsreicher Bewerber um den Posten des DDR-Ministerpräsidenten. Nach seiner Enttarnung als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi zog sich Böhme aus der Öffentlichkeit zurück. Die Autorin entwickelt anhand realer Erinnerungen das schwierige Verhältnis zu einem irrealen Vater, der immer unterwegs und selten für die Tochter greifbar war; sie entwirft exemplarisch ein faszinierendes Bild vom Alltag in der ostdeutschen Provinz vor und nach der Wende und zeigt, welche tiefen Wunden der radikale Umbruch und die Überwachung durch die Staatssicherheit hinterlassen haben.

Tatjana Böhme-Mehner, Jahrgang 1976, studierte Musikwissenschaft und Journalistik an der Universität Leipzig und promovierte 2003. Es folgten Forschungsaufenthalte und Lehrverpflichtungen in Leipzig, Paris, Halle und Weimar. Ab 1992 war sie als freie (Musik-) Publizistin und Autorin für diverse Medien tätig und betrieb Forschungen zur musikalischen Kulturgeschichte und zur Musik der Gegenwart. Seit 2015 arbeitet sie in einem mehrsprachigen Team als Programme Editor in der Philharmonie Luxembourg und lebt im Saarland.

Tatjana Böhme-Mehner, Jahrgang 1976, studierte Musikwissenschaft und Journalistik an der Universität Leipzig und promovierte 2003. Es folgten Forschungsaufenthalte und Lehrverpflichtungen in Leipzig, Paris, Halle und Weimar. Ab 1992 war sie als freie (Musik-) Publizistin und Autorin für diverse Medien tätig und betrieb Forschungen zur musikalischen Kulturgeschichte und zur Musik der Gegenwart. Seit 2015 arbeitet sie in einem mehrsprachigen Team als Programme Editor in der Philharmonie Luxembourg und lebt im Saarland.

ANSTELLE EINES VORWORTS:


Todesnachrichten kommen nie zur rechten Zeit


22. November 1999


Mein Vater ist tot. Gegen sieben Uhr morgens hat das Telefon geklingelt. Es war die Todesnachricht. Ich wusste schon vorher, dass sie es ist. Nicht, dass ich sie erwartet hätte. Nicht mehr jedenfalls als an irgendeinem anderen Morgen in den letzten – wie vielen eigentlich? – Jahren. Obwohl die Nachricht an sich zu erwarten war: Schlecht ging es ihm, seit er sich endgültig aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte. Seit einigen Jahren wunderte ich mich, wie schlecht es einem Menschen gehen konnte, ohne dass er daran tatsächlich starb; wie schlecht es einem gehen musste, bis man daran sterben konnte. Denn eigentlich war es wohl das, was er erreichen wollte, mit dem, was er tat – oder ebenso nicht tat: sterben. Ich fragte mich, wie viel man trinken, rauchen, leiden konnte, ohne dass es das endgültige Ende bedeutet hätte. Ein kleines Ende war seither jede unserer Begegnungen gewesen. Im freien Fall von der Lichtgestalt zum enttarnten Spitzel – ich war beiden gegenüber skeptisch. Doch nun ist er tot; und er ist mein Vater.

Er war mein Vater. Bis ich mich dieser Tatsache ohne Skrupel und mit der nötigen Selbstsicherheit immer und überall stellen kann, dauert es noch mehr als ein Jahrzehnt – zu emotional ist meine Umwelt noch, bezogen auf das Reizwort »Stasi«, bezogen auf die ganze, nie wirklich aufgearbeitete Wendegeschichte, letztlich bezogen auch auf ihn. So viel Verachtung für den Verräter – durchaus nachvollziehbar. Und andererseits ist immer noch eine seltsame Faszination zu spüren, der manch einer seiner alten Freunde nach wie vor anzuhängen scheint. Mit mir hat beides eigentlich nicht viel zu tun, und doch prägt es das, was ich hier erlebe. Angst haben mir beide Seiten gemacht, seit sie in mein Bewusstsein gedrungen sind.

Wirklich greifbar ist mein Vater nie gewesen, auch in den Momenten nicht, in denen ich ihn tatsächlich anfassen konnte. Da vielleicht überhaupt am wenigsten. Zu unsicher bin ich in dieser Zeit – bezogen darauf, was passieren würde, wenn ich die Flucht nach vorn ergriffe, wenn es um den Spitzel Böhme geht, der mein Vater war. Auf Nachfrage verschweige ich ihn nicht; das habe ich nie getan. Doch noch bin ich nicht mutig genug, per se zu sagen, wie das mit meiner Familie ist. Kein Wunder: Ich bin in der DDR groß geworden.

Vielleicht hätte ich viel früher auf mein Gegenüber zumarschieren sollen, offensiv, handschüttelnd: »Guten Tag, ich bin Tatjana Böhme(-Mehner), seit x Jahren schreibe ich vor allem über Musik. Nichtsdestotrotz bin ich die Tochter des berühmt-berüchtigten Stasi-Spitzels Ibrahim Böhme, der beinahe die letzte DDR-Regierung angeführt hätte. Mit mir hat das zwar nichts zu tun, wenn Sie aber dennoch ein Problem damit haben, ist das Ihre Gelegenheit, es kundzutun.«

Im Osten hätte das einige Jahre lang für mehr als nur Verblüffung gesorgt. Aber es ist nicht mein Wesen. Den großen Preis für Diplomatie mag ich nicht verdient haben, aber die Portion des ostdeutschen Konfliktvermeidertums, die ich mitbekommen habe, reicht immer noch aus, um dezent um den heißen Brei herumzureden. In meinem Studium der Journalistik schließlich nimmt das Wissen der anderen, vor allem der Dozenten, gepaart mit meinem Ausweichen manchmal absurde Formen an – vor allem, weil jeder irgendwann einmal das Wort »Informantenschutz« gehört hat. Das kann man übrigens leicht mit »Herrschaftswissen« verwechseln – das wird irgendwann meine Erkenntnis daraus sein.

Väter und Töchter – das ist angeblich etwas ganz Besonderes. Bei den meisten Menschen ist es ziemlich einfach: Entweder haben sie einen Vater oder nicht. So einfach war das bei mir nie. Das sage ich und weiß, dass es völliger Quatsch ist. Weil natürlich jeder Mensch einen Vater hat, genau wie ich auch. Und eigentlich weiß ich das durchaus. Habe es nie geleugnet. Warum auch?

Die Sache ist lediglich die, dass die anderen diesen Vater entweder kennen oder nicht. Und genau das kann ich von mir nicht behaupten. Zwar hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie irgendeinen Zweifel ob der Person meines Vaters. Doch wer genau dieser Mensch war? Manfred oder Ibrahim? Dissident oder gemeiner Stasi-Spitzel? Weltflüchter oder Realist? Arbeiter oder Intellektueller? Tragischer Held oder Clown? Ich bin mir nie so sicher. Auf jeden Fall kein Vater, wie andere ihn hatten oder sich gewünscht hätten. Jetzt jedenfalls ist er tot.

Zwei Phasen gab es in meinem Leben, in denen es nicht unbedingt ratsam erschien, diesen Vater zu haben und beim Namen zu nennen: vor der Wende und dann wieder unmittelbar nach der Wende. Kryptische Antworten täuschen über manches hinweg und sichern Normalität, die für ein Kind so wichtig ist. Man muss nur lernen, diese Antworten früh genug zu geben … Lügen musste ich dafür nie – vielleicht hat mein Vater mich auch deshalb gern ein wenig im Dunkeln tappen lassen, wenn es darum ging, wer er wirklich war. Und nicht nur mich …

Und dann gab es jene Phasen, in denen andere dem Kind die Existenz des Vaters ausreden wollten. Einen Vater, der nie da ist, gibt es wahrscheinlich überhaupt nicht. Gut möglich, dass er meiner blühenden Fantasie entsprungen ist. Kinder können grausam sein. Gerade in der Kleinstadt, wo jeder um die kleinen und großen Fehler aller Übrigen weiß. Das sind Momente, in denen der Vater riesig und konkret wird, während man auf seiner Existenz beharrt – und damit auf der eigenen Normalität. Und es gab die sehr lange Phase, in der er selbst die Familie verleugnete – im Glauben, sie zu schützen. Möglicherweise. Diese Momente waren wohl die schmerzhaftesten. Gewiss nicht für mich allein. Und schließlich gab es jene Phase, in der ich selbst nicht noch mehr auf seine Existenz aufmerksam machen wollte, in der ich ein normaler Teenager sein, er aber Ministerpräsident werden wollte. Schon merkwürdig, wie Realitäten und Illusionen ineinandergreifen …

Als Ministerpräsidentschaftskandidat ist er genauso real wie als der Lokführer oder Cowboy, der er nie war, doch für das Kind vorgab zu sein, oder der Übersetzer und Theatermann, der er wohl irgendwann einmal auch gewesen sein muss und den ich ins Feld führe, wenn es an offizieller Stelle gilt, einen Vater zu haben: im Sprachunterricht, bei Behörden …

Jetzt im Tod jedenfalls ist er verdammt real, schon weil sein Sterben mich unter einen bemerkenswert realen Zugzwang setzt, der vorläufig gar keinen Platz für emotionale Regungen lässt. So irreal seine Existenz gewesen sein mag, ihr Ende holt sie in erstaunlicher Konkretheit ein und bringt sie wieder hinein in mein Leben. Ich bin schwanger zu jener Zeit. Erklärungen, Notare … Das ist lebensweltlicher als das meiste, was mir dieser Vater bisher präsentiert hat. Dennoch hatten unsere Begegnungen durchaus Eindrucksvolleres zu bieten: Schöneres, Dramatischeres, ja, vor allem Witzigeres … Auch wenn viele es nicht glauben: Die Eigenschaft meines Vaters, die ich am meisten geschätzt habe, war sein Witz. Ob ich davon ein wenig geerbt habe? Das hoffe ich, ehrlich gesagt.

Und zu guter Letzt war da noch das entscheidende Problem, dass er selbst niemals der sein wollte, der er war. Warum? Das habe ich mich oft gefragt; und eigentlich weiß ich, dass ich diese Frage wohl nie beantworten werde. Niemand kann das. Ich hätte sie deutlich früher stellen sollen. Und trotzdem sitze ich hier und schreibe. Gerade deshalb. Wahrscheinlich. Ich habe die Frage schlicht nie gestellt. Ob ich andernfalls eine Antwort bekommen hätte? Wer weiß …

Die Situation ist absurd. Doch genau das ist gut so für den Moment. Denn das, was kommt, betäubt jede emotionale Regung. Nicht im pathetischen Sinne. Noch posthum führt er die Hinterbliebenen an der Nase herum: zahllose Testamente von einem, der nichts besaß, nichts besitzen wollte. Im Sinne des Erbschaftsgesetzes. Und wer da was erbte … Dutzende von Seiten quellen aus dem Faxgerät. Die Absurdität ist offensichtlich und wird noch gesteigert durch die Tatsache, dass wir ein Rollenfax besitzen. Zahllose verschiedene Fassungen eines fiktiven Testaments ziehen sich als riesige Papierschlange über den Boden in der gemütlichen kleinen Dachgeschosswohnung, die ich damals in Leipzig bewohne. Das Märchen vom süßen Brei habe ich mir als Kind besonders gern von meiner Omi erzählen lassen. Irgendwie ruft mir der Testamenten-Fax-Bandwurm gerade diese Geschichte in Erinnerung. Die dort verschiedentlich erwähnten Ländereien meiner Ahnen habe ich bis heute nicht gefunden … Die Ahnen auch nicht. Allerdings habe ich sie auch nicht wirklich gesucht. Hätte ich es gern? Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Eine Idee, um sich wegzuträumen, wären sie allemal. Aber das habe ich nie wirklich gebraucht. Träume hatte ich mit Sicherheit immer – jenseits dessen.

Doch die Absurdität macht es mit ebensolcher Sicherheit...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte DDR • Ibrahim Böhme • Manfred Böhme • Staatssicherheit • Stasi • Stasi-Spitzel • Wendegeneration
ISBN-13 9783958902756 / 9783958902756
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