Ferdinand Sauerbruch und die Charité (eBook)
256 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-269-5 (ISBN)
Dr. phil. Christian Hardinghaus, geb. 1978 in Osnabrück, promovierte nach seinem Magisterstudium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung und schloss danach ein Studium des gymnasialen Lehramtes mit dem Master of Education in der Fachkombination Geschichte/Deutsch ab. Seine historischen Schwerpunkte liegen in der Erforschung des NS-Systems und des Zweiten Weltkriegs. Er veröffentlicht sowohl Sachbücher als auch Romane.
Dr. phil. Christian Hardinghaus, geb. 1978 in Osnabrück, promovierte nach seinem Magisterstudium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung und schloss danach ein Studium des gymnasialen Lehramtes mit dem Master of Education in der Fachkombination Geschichte/Deutsch ab. Seine historischen Schwerpunkte liegen in der Erforschung des NS-Systems und des Zweiten Weltkriegs. Er veröffentlicht sowohl Sachbücher als auch Romane.
PROLOG
»Unter der Laterne vor der Reichskanzlei
hängen alle Bonzen, der Führer hängt dabei.
Und alle Leute bleiben steh’n,
sie wollen ihren Führer seh’n!«
Der Mann in abgewetzter grauer Uniformjacke mit herausgeschnittenem Wehrmachtsadler und Hakenkreuz singt laut, damit er die eigenen Worte versteht. Draußen vor den Gefängnismauern donnert die russische Artillerie seit Tagen. Kaum mehr zu hören ist ein deutsches Maschinengewehr. Das ist Albert Schwerdtfegers einzige Freude, der zusammen mit 26 weiteren sogenannten Defätisten, Deserteuren und Verrätern in Wehrmachtuntersuchungshaft im Zellengefängnis an der Lehrter Straße 3 in Berlin-Moabit einsitzt. Wenn es doch den Russen noch gelänge, dieses eine Gebäude einzunehmen, bevor man ihn hinrichten wird, denkt der Gefreite. Dummerweise hat er dieses Lied, das der Grund für seine Verhaftung war, immer schon recht laut gesungen. Daher hatten es auch zwei Feldpolizisten gehört und ihn in der halbzerstörten Likörfabrik erwischt, in der er bleiben und so lange Zitronenschnaps trinken wollte, bis der Krieg aus war. Dass es sich nur noch um Tage handeln konnte, war für ihn abzusehen. Heute ist der 29. April 1945, aber noch immer wird gekämpft.
»Warum tun die Kameraden sich das noch an?«, fragt Schwerdtfeger laut, aber die anderen Soldaten, die hier im Dunkeln auf ihren Matratzen liegen, antworten ihm nicht. »Verdammte Kettenhunde«, schreit Schwerdtfeger, bevor er wieder sein Lied anstimmen will. Doch gerade als er seine Lippen öffnet, katapultiert ihn die Druckwelle einer gewaltigen Explosion durch den Raum. Mit dem Kopf schlägt Schwertfeger gegen einen Gitterstab, hält sich benommen die Hand vor die Stirn. Als er sie runternimmt, kann er seinen Augen kaum trauen – sie werden von Feuer geblendet. Heller Rauch schießt durch ein breites Loch, das sich in der Mauer abzeichnet, mitten hinein in die Zelle. Schwerdtfeger hört seine Mithäftlinge husten und schreien.
»Das gibt es doch nicht«, ruft der Soldat laut und läuft, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, auf die unverhoffte Öffnung zu, schlüpft hindurch und ist: frei!
Draußen sucht er kurz Schutz im nächsten Hauseingang. Mit dem Ellenbogen klopft er gegen seine Hose, die leicht Feuer gefangen hat. Schwerdtfeger blickt sich um. Aus dem Loch kriechen weitere Soldaten, einem fehlt der Arm. Er dreht sich angewidert weg, ihn hält hier nichts mehr. Ohne zu wissen, wohin, rennt Schwerdtfeger los, ignoriert Schüsse und Kugeln, die aus allen Richtungen an ihm vorbeipfeifen. Nur weg, nur weg!
Der Gefreite läuft zwischen brennenden Trümmern hindurch und an Leichen vorbei, die auf der Straße liegen. Er rennt so schnell er kann, über irgendeine Brücke, die auf die andere Seite der Spree führt. Er hastet weiter, lässt die Schweizer Botschaft und das Brandenburger Tor hinter sich. Als er auf Höhe des Tiergartens ankommt, passiert er einen russischen T-34 Panzer, aus dem schwarzer Rauch emporschießt. Sein Herz rast, die Knie zittern, allmählich verlässt ihn seine Kraft. Nur mal kurz durchschnaufen, nur für einen Moment. Schwerdtfeger bleibt stehen und erkennt einen großen Gebäudekomplex mit Hunderten Fenstern, wovon keines mehr eine Scheibe besitzt. Die Betonwände sind von Kugeln durchsiebt. Einige Mauern sind eingekracht. Wo bin ich hier? Schwerdtfeger läuft weiter, vielleicht kann er hier ein Versteck finden.
Als er einen kleinen Einmannbunker entdeckt, läuft er darauf zu. Ist da jemand drin? Nur keine Feldpolizei bitte, keine Gestapo oder SS. Er wagt es, schaut durch den kleinen Schlitz ins Innere.
»Weg!«, schreit eine weibliche Stimme.
»Hallo?«, ruft er zurück.
»Hier drin ist kein Platz mehr«, antwortet die Frau, die er jetzt schemenhaft erkennen kann. Sie trägt einen weißen Kittel.
»Krankenschwester?«, fragt Schwerdtfeger. »Wie heißen Sie?«
»Lily, und was soll ich denn sonst sein?«, entgegnet sie ruppig. »Ich war hier mal Sekretärin, doch jetzt sind wir alle Schwestern der Charité.«
»Ach, ich bin an der Charité?«
»Meine Güte.« Ihre Stimme klingt genervt.
Irgendwo in der Nähe hat eine Flak angefangen, Granaten abzufeuern. Schwerdtfeger kennt das Geräusch genau. Er muss lauter schreien: »Wer ist hier der Chef? Ich muss ihn dringend sprechen!«
»Das ist Professor Sauerbruch«, brüllt die Schwester zurück. »Der ist im Operationsbunker. Fünfhundert Meter nach rechts, hinter der II. Medizinischen lang und dann immer weiter bis zur Chirurgischen.« Lilys rosafarbene Hand ragt aus dem Schlitz, mit dem Zeigefinger deutet sie eine Richtung an. »Aber die ist eingestürzt, der Bunker ist unter der Erde. Die Treppe suchen. Beeilen Sie sich, wenn Sie dort lebend ankommen wollen.«
Die Frau verschwindet aus Schwerdtfegers Blickfeld, der daraufhin den beschriebenen Weg entlangläuft. Professor Sauerbruch, ja richtig, denkt er. Der kann mir helfen, der ist ein Antinazi wie ich. Er erinnert sich daran, dass Sauerbruch nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler im Juli letzten Jahres wochenlang verhört worden ist, sich hinter Juden gestellt hat und auf Hitler geschimpft hat – wie er selbst.
Im Bunker stinkt es bestialisch nach Eiter, Blut und dem Diesel, der aus einem Motor zieht, der hier die einzige Deckenleuchte mit Strom versorgt. Schwerdtfeger hat sich auf eine freie Bank gesetzt, beobachtet die unheimliche, fast schon surreale und ohne Zweifel abartige Szenerie, die sich vor ihm auftut. Er kommt sich vor wie in einem Gruselkabinett. An vier Tischen stehen acht Ärzte, beugen sich über Menschen mit geöffneten Bäuchen oder Brustkörben. Überall auf dem Boden liegen Verwundete. Soldaten, Frauen, Kinder. Sie schreien, bluten, sterben. Wie lange er hier sitzt, weiß Schwerdtfeger später nicht mehr. Er nutzt den Moment, als Sauerbruch an ihm vorbeigeht. Ihn hat er sofort ausgemacht, kennt ein Zeitungsfoto, das ihn mit Kriegsverdienstkreuz am Halsband zeigt. Er ist größer, als Schwerdtfeger gedacht hat, und sieht mitgenommen aus.
»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat«, ruft Schwerdtfeger. »Ich hätte Sie gerne gesprochen wegen einer ganz dringenden Sache.«
»Na, bitte«, sagt Sauerbruch mit ruhiger Stimme. »Sprich doch einfach!«
»Nicht hier. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
Der Chef der Chirurgischen Klinik schaut ihn mit weit geöffneten Augen durch seine runden Brillengläser an. Er zieht die linke Augenbraue hoch, dann lächelt er. »Na dann komm mal mit!«
Sauerbruch führt den unerwarteten Gast in den Keller der Röntgenabteilung, den er schon seit zwei Wochen mit seiner Frau Margot und einer Freundin, Fräulein Thomas, bewohnt. Sie setzen sich auf einen Stuhl. Schwerdtfeger beginnt, aufgeregt seine Geschichte zu erzählen. Der Arzt hört ihm erstaunlich geduldig und verständnisvoll zu. Als Schwerdtfeger fertig ist, sagt Sauerbruch: »So, jetzt bleibst du hier bei uns! Wir brauchen sowieso einige Leute. Du wirst jetzt bei mir als Pfleger eingestellt, bis die Sache vorbei ist.«
Schwerdtfeger erhält einen weißen Kittel und eine helle Hose und wird, bis die Sache am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endgültig beendet ist, und sogar noch vier Tage länger, an der Charité bleiben und dabei helfen, wo er kann. Er trägt Hunderte von Verwundeten in den OP, legt selbst Verbände an. Hier erfährt er vom Tod Hitlers, sieht die russischen Soldaten in den Operationsbunker einfallen und beobachtet hilflos und entsetzt, wie deutsche Krankenschwestern unter vorgehaltener Maschinenpistole vergewaltigt werden. Und er registriert, wie und mit welchen Mitteln sein neuer Chef es schließlich schafft, die schlimmsten Ausnahmezustände zu beenden. Was dieser Mann in jenen Tagen leistet, wie vielen Menschen er das Leben rettet, wie er jeden zu beschützen versucht und mit dem Feind verhandelt, das imponiert Schwerdtfeger zutiefst. Die Arbeit bei Sauerbruch macht ihm nach der Kapitulation sogar Spaß, als man allmählich anfängt, gut mit den Russen zusammenzuarbeiten. Schwerdtfeger hat, bevor er eingezogen worden ist, in der Anzeigenabteilung einer Zeitung gearbeitet.
Die Anstrengungen der ungewohnten Krankenpflege unter Extrembedingungen machen sich bemerkbar. Schwerdtfeger bekommt Fieber, wird krank. Sauerbruch befiehlt seinem Schützling am 12. Mai 1945, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. Er bedankt sich für die Hilfe und stellt ihm ein Schreiben aus, das er in Schwerdtfegers Beisein von einem hochdekorierten russischen General unterzeichnen lässt. Schwerdtfeger kennt den Namen noch nicht. Er nimmt es entgegen und nickt nach Sauerbruchs Worten, er solle es vorzeigen, wenn er in Konflikt mit russischen Soldaten gerate. Dann...
| Erscheint lt. Verlag | 8.2.2019 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
| Schlagworte | Charité • Chirurg • Ferdinand Sauerbruch • Fritz Kolbe • Nationsalsozialismus • NS-Regime • Widerstand |
| ISBN-10 | 3-95890-269-3 / 3958902693 |
| ISBN-13 | 978-3-95890-269-5 / 9783958902695 |
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