Wenn du meine Geschichte hörst (eBook)
160 Seiten
Zytglogge (Verlag)
978-3-7296-2220-3 (ISBN)
Geb. 1973 in einer Mennonitenkolonie in Paraguay, Kindheits- und Jugendjahre in der Kolonie, Kunststudium in Asunción, Flucht in die Schweiz, Kunsttherapiestudium in der Schweiz. Heute lebt die Autorin im Kanton Aargau. Bei Zytglogge erschien ihr autobiographisches Buch 'Mit den Wolken fliegen'.
Geb. 1973 in einer Mennonitenkolonie in Paraguay, Kindheits- und Jugendjahre in der Kolonie, Kunststudium in Asunción, Flucht in die Schweiz, Kunsttherapiestudium in der Schweiz. Heute lebt die Autorin im Kanton Aargau. Bei Zytglogge erschien ihr autobiographisches Buch "Mit den Wolken fliegen".
«Es ist ein Wunder, dass wir noch leben.»
Mehmet, Zahra, Amit, Milad und Nesrin, Afghanistan
«Vor achtunddreissig Jahren begann meine Flucht. Meine Fluchtgeschichte ist lang und ich habe sehr viel zu erzählen. Du wirst weinen, wenn du meine Geschichte hörst.»
Er sitzt vor mir, reibt seine Hände und knackt mit den Fingern. Mehmet ist der Vater einer afghanischen Familie. Seine Frau heisst Zahra und sie haben drei gesunde Kinder. Während der älteste Sohn eine Lehre als Krankenpfleger macht, geht der zweitälteste in die Primarschule und die kleine Nesrin besucht den Kindergarten. Sie sehen wie eine normale Familie aus. Sie bewegen sich ganz entspannt in ihrer Wohnung. Sie haben mich freundlich begrüsst. Der Fernseher läuft leise im Hintergrund und vor mir steht eine heisse Tasse Schwarztee. Dass diese Menschen eine Flucht hinter sich haben, in der sie immer wieder knapp mit dem Leben davongekommen sind, sieht man hier niemandem an. Doch es wird ein langer Nachmittag, denn sie haben mir viel zu erzählen. Ich befinde mich im Wohnzimmer der Familie, einem hellen, sauberen Raum. Mit einfachen Mitteln haben sie die kleine Sozialwohnung liebevoll eingerichtet. Ich fühle mich wohl bei ihnen.
Wo soll ich nur anfangen? Ich tue mich schwer. Ich weiss bereits, dass der Vater eine lange Fluchtgeschichte zu erzählen hat. Doch die Mutter war bis jetzt sehr verschwiegen gewesen. «Leben ist sehr schwer, Roni», hatte sie ab und zu gesagt, aber ich hatte sie nie dazu bewegen können, mehr zu erzählen. Ihre Gesichter sind ernst, denn ich verlange von ihnen, ihre Flucht zu erzählen. Nur nicht zu viel denken, denn dann fällt alles noch schwerer: die Deutschkurse, der Neuanfang und die Arbeitssuche. Vor siebzehn Jahren hatte auch ich funktioniert. Bis zu vierzehnstündige Arbeitstage hier in der Schweiz, nichtlegale Arbeit, kein geschütztes Umfeld, in einer Welt, in der alles neu war. Ein Herz schwer von Trauer schleppte ich jeden Tag mit mir herum und ich hatte Angst vor jedem neuen Schritt. Es war mir in der Situation unmöglich, meine Situation jemandem anzuvertrauen. Ich schwieg und funktionierte. Jetzt sitze ich hier und verlange von ihnen, zu reden. Wie brutal von mir, denke ich.
Nur eine lacht und spielt. Es ist die kleine fünfjährige Nesrin. Sie hat keine Bilder von der Flucht, sie war noch ein Baby. Ich habe das Gefühl, dass sie die einzige Unbeschwerte in dieser Wohnung ist, und empfinde ihre Anwesenheit wie einen Sonnenschein, der alle zum Lachen bringt.
«Mehmet, wie war deine Kindheit?»
«Ja, normal. Ich hatte eine gute Kindheit. Wir lebten im Dorf Behsud. Meine Eltern waren Bauern und verkauften ihre Erzeugnisse auf dem Markt. Wir sind Hazara. Schon seit achtzig, neunzig Jahren bekämpfen sich die zwei Volksgruppen der Hazara und Paschtunen. Für die Paschtunen sind wir Ungläubige, auch wenn wir Muslime sind. Denn wir sind Schiiten, die Paschtunen sind Sunniten. Deshalb werden wir bedroht, bekämpft und getötet. In meiner Kindheit verbündeten sich die Paschtunen mit den Russen. Die Paschtunen verbündeten sich immer mit ausländischen Mächten. Nur so konnten sie stark bleiben. Ich war zehn Jahre alt, als mein Vater eines Tages von zu Hause wegging, um Früchte, Tomaten und Reis zum Markt zu bringen. Unterwegs wurde er gefangen genommen. Er ist nie mehr nach Hause gekommen. Wir blieben aber weiterhin in Behsud, meine Mutter und meine Schwestern, die eine ist älter als ich, die andere jünger. Ich war zwölf, als meine Mutter eines Tages zu uns sagte: ‹Ihr müsst flüchten.› Wir waren nicht die einzigen Kinder. Da waren viele Kinder, die sich auf die Flucht machten. Mutter buk uns Brötchen aus Öl, Zucker und Mehl, eine Spezialität der Hazara. Einer unter uns kannte den Weg und machte den Gruppenführer. Nachts liefen wir von Berg zu Berg und tags schliefen wir in Höhlen. Zum Essen hatten wir nur diese süssen Brötchen der Mutter, die wir einteilten. Zehn Tage und zehn Nächte brauchten wir, bis wir im Iran ankamen. Als wir den Iran erreichten, griffen sie uns auf und behandelten uns wie Kranke. Wir bekamen viele Medikamente. Sie wurden uns mit Gewalt verabreicht. Wer sich wehrte, dem wurden sie einfach in den Mund gestopft. Meine Schwestern und ich gingen weiter. Wir liefen bis zur Hauptstadt Teheran.»
Mehmet atmet tief durch. Seine Hände entspannen sich und liegen jetzt müde in seinem Schoss. Es ist bewundernswert, mit welcher Ruhe sein zwanzigjähriger Sohn die Geschichte des Vaters übersetzt. Die Mutter steht währenddessen immer wieder auf und verrichtet kleine Arbeiten. Es ist, als ob sie es nicht aushält, all diese Grausamkeiten zu hören, die wir wieder aufrollen.
«Was geschah dann?», frage ich. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, denn Mehmet ist heute siebenundvierzig.
Er erzählt in sich versunken, spricht die Sätze langsam: «Wenn ich zurückschaue, ist es interessant zu beobachten: In Afghanistan waren wir die verhassten Hazara und wir flüchteten davor, nicht getötet zu werden. Doch dann kamen wir in den Iran und dort waren wir plötzlich die verhassten Afghanen. Es lief der Krieg zwischen dem Irak und Iran. Schon vierzehn-, fünfzehnjährige Afghanen wurden aufgegriffen und in den Krieg geschickt. Ich war noch zu jung, nur zwölf Jahre alt. Ich suchte mir Arbeit, denn ich hatte eine Familie zu ernähren, ich musste für meine Schwestern sorgen. Tagsüber arbeitete ich, abends trainierte ich in einem Fitnesszentrum, bis zum Kriegsende. Als ich fünfzehn war, hörten wir, dass sie unsere Mutter getötet hatten. Ab da hatte ich nur noch meine zwei Schwestern.
Ganz schlimm wurde es im Iran für uns Afghanen, als der Krieg zu Ende war. Ohne Grund wurden wir beschuldigt und geschlagen. Afghanen mussten für die Schulbildung dreimal mehr zahlen als Iraner. Deshalb sind viele von uns Analphabeten geblieben. Wenn kleine Kinder Brot kaufen gingen, nahm man ihnen das Geld ab, aber gab ihnen dafür nur das alte Brot. Wir hatten nie Ruhe im Iran. Afghanen waren immer an allem schuld. Hatten wir gute Kleider an, sagte man uns, uns gehe es zu gut. Trugen wir schlechte Kleider, wurden wir verachtet. So ging unser Leben weiter. Ich habe gearbeitet und trainiert. Meine Schwestern lebten immer drinnen. Nur am Freitag ging ich mit ihnen zusammen raus, ein wenig spazieren oder in die Moschee.
Als ich achtzehn war, wurde ich auf offener Strasse angegriffen. Ich fragte, was los sei, doch sie sagten nur: ‹Du bist Afghane.› Erst schlug einer zu, ich schlug zurück, dann schlugen zwei. Doch ich wehrte mich. Plötzlich hielten sie mir eine Karte vor die Nase. Auf der stand, dass sie Zivilpolizisten sind. Sie nahmen mich fest und brachten mich in ein Polizeibüro. Dort schlugen sie mich, bis mein linker Arm gebrochen war. Der Knochen stand raus. Sie packten mich und steckten mich in eine Zelle. Am Morgen kam ein anderer Mann und meinte: ‹Lasst ihn frei. Der muss ja ins Spital.› Also liessen sie mich frei. Doch ich hatte kein Geld und Afghanen wurden im Iran nicht versichert. Wir mussten immer alles zahlen, wenn wir ärztliche Hilfe brauchten. So ging ich zu einem Mann, der mir den Arm, so gut er konnte, wieder gerade bog. Er wurde mir eingebunden und ich liess ihn so heilen. Schau her», sagt Mehmet und zieht den Ärmel seines Pullovers nach oben.
Der Arm ist ganz schief zusammengewachsen. Es sieht nicht gut aus.
«Hast du Schmerzen?», frage ich.
«Nur, wenn es kalt ist», erklärt er mir.
Ich wende mich seiner Frau zu, die inzwischen wieder Platz genommen hat und uns still zuhört.
«Was kannst du mir von deiner Kindheit erzählen? Erinnerst du dich noch an Afghanistan?», frage ich sie.
Sie spricht nur wenig, widerwillig, als ob sie sich fragt, was das bringen soll. Nur missmutig formt sie ihre Gedanken zu Wörtern und schaut dabei ihren Sohn an, der ihr versucht, Mut zu machen. Soviel ich verstehe, erklärt er ihr, dass mein Buch Sinn macht. Wie sollen die Menschen sonst erfahren, wer sie sind und dass sie sich hier integrieren wollen?
«Ich weiss nur wenig von Afghanistan. Ich war sehr klein, als meine Eltern in den Iran flüchteten. Ich bin im Iran gross geworden und durfte nicht in die Schule. Ich lebte immer zu Hause. Das war eine lange und schwere Zeit, von der ich nichts zu erzählen weiss. Was soll man von einem Leben erzählen, wenn man immer drinnen war?»
Ich bin betreten. Was soll ich darauf antworten? Doch Zahra spricht weiter: «Deshalb sind wir hier. Erst durfte ich nicht in die Schule gehen, dann auch meine Kinder nicht. Ich war schon eine Frau ohne Bildung, aber doch nicht auch meine Kinder! Ich wollte nur noch weg vom Iran. Zurück nach Afghanistan ging nicht. Dann blieb nur noch Europa.»
Zahra schweigt, und weil ich sie nicht dazu bewegen kann, mehr von sich zu erzählen, wende ich mich wieder ihrem Mann zu.
«Wann hast du daran gedacht, weiter zu fliehen?», frage ich.
«Ich wollte schon immer, aber ich konnte meine Schwestern nicht davon überzeugen. Sie hatten Angst, wieder ins Ungewisse zu gehen. Deshalb blieb ich. Alles änderte sich, als die älteste Schwester einen...
| Erscheint lt. Verlag | 18.5.2018 |
|---|---|
| Verlagsort | Basel |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Afghanistan • An • Aufnahmeland • Aufzeichnungen • das • der • DIE • Eritrea • Erwartungen • Erwartungen an das Aufnahmeland • Flucht • Fluchtgeschichte • Flüchtlinge • Fluchtursachen • Integration • Irak • Krieg • Leben • Leben nach der Flucht • Migration • nach • Porträts • Reden • Schweiz • Syrien • Tibet • über • Über die Flucht reden • Verfolgung |
| ISBN-10 | 3-7296-2220-X / 372962220X |
| ISBN-13 | 978-3-7296-2220-3 / 9783729622203 |
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