Der Fall Gurlitt (eBook)
600 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
9783958901902 (ISBN)
Maurice Philip Remy, geb. 1962 in München, ist Dokumentarfilmer und Sachbuchautor. Er studierte Kommunikationswissenschaften und war als freier Journalist unter anderem für den Stern und Die Zeit tätig. Viele Jahre arbeitete er eng mit Guido Knopp von der Redaktion Zeitgeschichte des ZDF zusammen. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählt die sechsteilige Serie über den Holocaust, die er im Jahr 2000 realisierte und die weltweit ausgestrahlt wurde. Bekannt machten ihn aber auch Dokumentarserien und Bücher, beispielsweise über das Bernsteinzimmer, den 'Mythos Rommel', die 'Offiziere gegen Hitler', sowie das vielfach ausgezeichnete Drehbuch für den ARD-Spielfilm 'Mogadischu'. In seinen Arbeiten vertritt Remy auf der Basis aufwendiger Recherchen immer wieder auch unbequeme Thesen. So behauptete er bereits im März 2014 in einem Dokumentarfilm über die Gurlitt-Affäre für ARTE, dass sich in der Sammlung nicht mehr als ein Dutzend Raubkunstbilder befänden. Die Ergebnisse der Task Force vom Januar 2016 haben ihn vollauf bestätigt. Jetzt legt Remy, der Cornelius Gurlitt noch persönlich kennengelernt hat, das Ergebnis seiner dreijährigen Recherche zum Fall Gurlitt in einem beeindruckenden Buch vor.
Maurice Philip Remy, geb. 1962 in München, ist Dokumentarfilmer und Sachbuchautor. Er studierte Kommunikationswissenschaften und war als freier Journalist unter anderem für den Stern und Die Zeit tätig. Viele Jahre arbeitete er eng mit Guido Knopp von der Redaktion Zeitgeschichte des ZDF zusammen. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählt die sechsteilige Serie über den Holocaust, die er im Jahr 2000 realisierte und die weltweit ausgestrahlt wurde. Bekannt machten ihn aber auch Dokumentarserien und Bücher, beispielsweise über das Bernsteinzimmer, den "Mythos Rommel", die "Offiziere gegen Hitler", sowie das vielfach ausgezeichnete Drehbuch für den ARD-Spielfilm "Mogadischu". In seinen Arbeiten vertritt Remy auf der Basis aufwendiger Recherchen immer wieder auch unbequeme Thesen. So behauptete er bereits im März 2014 in einem Dokumentarfilm über die Gurlitt-Affäre für ARTE, dass sich in der Sammlung nicht mehr als ein Dutzend Raubkunstbilder befänden. Die Ergebnisse der Task Force vom Januar 2016 haben ihn vollauf bestätigt. Jetzt legt Remy, der Cornelius Gurlitt noch persönlich kennengelernt hat, das Ergebnis seiner dreijährigen Recherche zum Fall Gurlitt in einem beeindruckenden Buch vor.
Kapitel 2: Sammlung
Wie ein Schneemann in der Sonne ist die Zahl der verdächtigen Bilder in der Sammlung Gurlitt zusammengeschmolzen. Am Anfang waren es 1.500 Bilder, die in der Ausgabe des Focus vom 4. November 2013 pauschal unter Raubkunstverdacht gestellt wurden.1 Wenige Tage später präzisierte dann ein Sprecher des Beauftragten für Kultur und Medien die Zahl und sprach von insgesamt 970 verdächtigen Werken. Die Zahl wurde im gleichen Atemzug weiter eingedampft. 380 Bilder davon seien der »Entarteten Kunst« zuzurechnen, aber die übrigen 590 seien Raubkunst.2 Das war wenig präzise; gemeint war, dass die Herkunft von 590 Bildern unbekannt war und sie damit möglicherweise auch Raubkunst sein konnten. Bei der Zahl von 590 verdächtigen Werken sollte es bis Ende 2015 bleiben.3 Im Abschlussbericht der Taskforce vom 14. Januar 2016 waren es dann nur noch 117 raubkunstverdächtige Bilder.4 Sechs Monate später korrigierte das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste, das mittlerweile die Untersuchung der Bilder aus der Sammlung Gurlitt übernommen hatte, die Zahl erneut nach unten. Nun waren es 91 Bilder, bei denen sich der Raubkunstverdacht »erhärtet« habe.5 Und es ist abzusehen, dass auch diese Zahl viel zu hoch gegriffen ist.
Die Fakten sprechen eine eindeutige Sprache. Insgesamt fünf Kunstwerke aus der Sammlung Gurlitt waren bis zur Drucklegung dieses Buches als Raubkunst identifiziert: zwei kleine Zeichnungen, »Inneres einer gotischen Kirche« von Adolph von Menzel und »Das Klavierspiel« von Carl Spitzweg, ferner das wohl bekannteste Bild aus der Sammlung, die »Zwei Reiter am Strand« von Max Liebermann, sowie das impressionistischen Gemälde »La Seine vue du Pont-Neuf« von Camille Pissarro und die »Femme assise« von Henri Matisse.6
Selbst wenn noch weitere eindeutige Fälle ermittelt werden sollten, wird der Anteil von Raubkunst in der Sammlung Gurlitt ein Prozent kaum überschreiten. Das dürfte im Vergleich zu manchen Museen und zahlreichen Händlern und Privatsammlern, die in dieser Zeit Kunst erwarben, deutlich unter dem Durchschnitt liegen.
Der entstandene Eindruck, es handele sich bei der Sammlung Gurlitt um einen »Nazi-Schatz«, quasi eine Anhäufung von Raubkunst, wird von den Fakten nicht gestützt. Diese falsche Darstellung wurde zum ersten Mal vom Focus in die Welt gesetzt. Sie beruhte auf den vorausgegangenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die sich im Zusammenspiel mit den in die Untersuchungen eingebundenen Experten total verrannt hatte. Die Falschmeldung vom »Nazi-Schatz« war eine von zwei Voraussetzungen, die aus dem Fall Gurlitt eine Weltsensation machten. Der zweite entscheidende Faktor war die völlig überhöhte Schätzung der Sammlung auf eine Milliarde Euro; dabei hatten sich die Redakteure des Magazins um das Zehnfache verschätzt. Der tatsächliche Wert all jener Kunstwerke, die Cornelius Gurlitt zu Lebzeiten besessen hat, liegt irgendwo zwischen 100 und 120 Millionen Euro.7 Erst die überhöhte Wertangabe in Verbindung mit dem Nazi-Hintergrund brachte der Meldung eine internationale Aufmerksamkeit, die in ihrer Dimension durchaus mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern des Stern zu vergleichen ist.
Dabei war das, was anfänglich aus der Sammlung Gurlitt gezeigt wurde, über weite Strecken wenig spektakulär. Das im Internet hundertausendmal angeklickte, geradezu rührend biedere Aquarell einer Straßenbahn des ansonsten sehr verdienstvollen Dresdner Künstlers Bernhard Kretzschmar ist dabei wie ein Sinnbild des Umgangs mit der Kunst in der Sammlung Gurlitt.8 Als im April 2016 – längst überfällig – die Kunstwerke aus dem Salzburger Bestand publiziert wurden und damit auch das zweifellos bedeutendste Bild der Sammlung, die »Montagne Sainte-Victoire« des Impressionisten Paul Cézanne, ans Tageslicht kam, interessierte sich niemand mehr dafür.9
Wertvollstes Bild der Sammlung. Paul Cézanne, »Montagne Sainte-Victoire«, 1897
Das Gemälde von Cézanne ist zugleich auch das wertvollste Bild der ganzen Sammlung. Öffentlich wurde die letzte »Montagne Sainte-Victoire« 2001 beim Auktionshaus Phillips in New York für 38,5 Millionen Dollar versteigert;10 2014 verkaufte das Edsel & Eleanor Ford House, eine Institution, die das ehemalige Anwesen des Sohns von Ford-Gründer Henry als Museum in Michigan bewahrt, eine »Montagne Sainte-Victoire« dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit für atemberaubende 100 Millionen Dollar.11 Die »Montagne Sainte-Victoire« aus der Sammlung Gurlitt würde daher bei einer Auktion aktuell wohl mindestens mit 50 Millionen Euro angesetzt werden.
Gegenwärtig wäre das Bild allerdings unverkäuflich. Solange die Provenienz nicht restlos aufgeklärt ist, würde es keines der großen Auktionshäuser zur Versteigerung annehmen; selbst wenn es nicht einmal im Ansatz einen Hinweis auf einen Raubkunstverdacht gäbe, ist das Bild wie alle Kunstwerke aus der Sammlung, deren Vorbesitzer unbekannt sind, wertlos. Der Name »Gurlitt« im Pedigree macht die Bilder unverkäuflich.12
Der Name »Gurlitt« kann allerdings auch das Gegenteil bewirken. So im Fall der »Zwei Reiter am Strand« von Max Liebermann.13 Dabei ist dieses Bild wenig spektakulär: Ein dekoratives Gemälde, in zahlreichen Variationen vom Künstler für seine Kundschaft hergestellt. Herrenreiter oder Damen hoch zu Ross, die durch die Brandung reiten – ein schlichtes Motiv, ganz dem Zeitgeschmack der ausgehenden wilhelminischen Ära geschuldet. Die Komposition zudem verunglückt, der Kopf des linken Pferdes so nahe am Bildrand, dass es beim nächsten Schritt an den schweren goldenen Rahmen zu stoßen droht. Dennoch natürlich gekonnt gemalt von Liebermann, dessen Bedeutung unbestritten, aber eben durch andere Bilder überliefert ist.
Von den »Zwei Reitern am Strand« existieren zwei nahezu identische Fassungen; die eine kam 2009 bei Sotheby’s in London unter den Hammer und erzielte damals umgerechnet knapp 340.000 Euro;14 die Fassung aus der Sammlung Gurlitt stammt aus dem Besitz des Breslauer Zuckerfabrikanten David Friedmann, der von den Nazis enteignet worden war. Ein Großneffe von Friedmann, der ehemalige Anwalt David Toren, lebte hochbetagt in New York, als er den Liebermann im Zuge der Berichterstattung zum Fall Gurlitt in der Presse wiedererkannte. Der Kampf um die Herausgabe des Gemäldes sollte zwei Jahre dauern und nahm zeitweise skurrile Züge an. So schenkte ein Unterstützer dem altersbedingt an starker Sehschwäche leidenden Toren eine dreidimensionale Laubsägearbeit der »Zwei Reiter am Strand«. Das Bild vom 90 Jahre alten Toren, der ergriffen die Konturen des Werkes ertastete, erhöhte den moralischen Druck auf die Verantwortlichen; dabei ging es ihm vor allem ums Prinzip.
»Ich möchte ein Familienerbstück zurück, es gehört uns«, so Toren in einem Interview mit der Deutschen Welle. »Ich habe nichts aus dieser Zeit außer einer Fotografie, die ich damals mit nach Schweden nahm. Meine Eltern wurden nach Auschwitz deportiert und dort vergast. Dieses Gemälde ist ein Erbstück meiner Familie, niemand sonst sollte es besitzen. Es ist eines der wenigen Dinge, die mich an meine Herkunft und an meine Familie erinnern können.«15
Am 13. Mai 2015 konnten Beauftragte des Auktionshauses Sotheby’s das Erinnerungsstück dann endlich in München für Toren in Empfang nehmen.16 Sechs Wochen später wurde der Liebermann in London versteigert. Der Aufrufpreis für die Auktion bei Sotheby’s lag bei knapp 750.000 Euro; mehr als doppelt so viel wie bei dem gleichen Motiv sechs Jahre zuvor. Das Ergebnis der Auktion übertraf alle Erwartungen, über 2,6 Millionen Euro hatte ein anonymer Käufer für das Bild am Telefon geboten. In diesem Fall hatte der Name »Gurlitt« zu einer exorbitanten Wertsteigerung geführt.17
Neben der »Montagne Sainte-Victoire« von Cézanne gibt es drei weitere Werke, die sich im Wert deutlich vom breiten Mittelfeld der Sammlung Gurlitt abheben. Die »Femme assise«, eine sitzende Frau von Henri Matisse, erreicht nicht ganz die Größenordnung des Cézanne; das Bild befindet sich nicht länger in der Sammlung; es ist Raubkunst und wurde im Mai 2015 restituiert.18 Zwei weitere Gemälde stechen von ihrem Wert her aus der Sammlung hervor: »Waterloo Bridge, temps gris«, die Londoner Waterloo Bridge bei trübem Wetter, von Claude Monet und »Marine, temps d’orage«, also ein Seestück bei aufkommendem Sturm, von Édouard Manet.19
Raubkunst. Max Liebermann, »Zwei Reiter am Strand«, 1901, kurz vor der Auktion bei Sotheby’s, 19. Juni 2015, London
Eine aufgeklärte Provenienz vorausgesetzt, würde der Monet gegenwärtig wohl auf 10 Millionen Euro geschätzt werden; die »Marine« von Manet ist schwerer zu bewerten, weil der Künstler nur wenige Seestücke gemalt hat. Aufgrund der großen Bedeutung von Manet ist ein Schätzpreis zwischen drei und fünf Millionen Euro denkbar.20 Kein anderes Werk aus der Sammlung Gurlitt vermag auch nur annähernd in diese schwindelerregenden Regionen vorzudringen; die obere Grenze des Mittelfelds beginnt erst wieder bei Werten von ein bis maximal zwei Millionen. Auch solche Bilder sind allerdings eher selten in der Sammlung. Wesentlich größer und ungleich weniger wertvoll ist das Konvolut der etwa 680 Druckgrafiken – von Holzschnitten über Kupferstiche und Radierungen bis hin zu Lithografien, Licht- und Offsetdrucken.
Natürlich gibt es auch unter den Druckgrafiken besonders kostbare Arbeiten: Der Kupferstich »Ritter, Tod und Teufel« von Albrecht Dürer kann je nach...
| Erscheint lt. Verlag | 3.11.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
| Schlagworte | Hildebrand Gurlitt • Kunstskandal • Nachkriegsgeschichte • Nazis • NS- Raubkunst |
| ISBN-13 | 9783958901902 / 9783958901902 |
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