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Allein unter Flüchtlingen (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1., Deutsche Erstausgabe
235 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75136-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Allein unter Flüchtlingen - Tuvia Tenenbom
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Seit Herbst 2015, als zahlreiche Flüchtlinge nach Deutschland kamen, hat sich das Land grundlegend verändert. Viele erleben die Migrationsbewegung als eine Zäsur, deren Folgen noch längst nicht abzusehen sind. Um zu verstehen, was da in den letzten Monaten eigentlich genau passiert ist, ist Tuvia Tenenbom einmal mehr kreuz und quer durch die Republik gereist. Er wollte wissen, was die wahren Gründe der »Willkommenskultur« waren, warum Deutschland ein großes Herz gezeigt, aber immer noch keinen Plan hat, und wie es hier eigentlich um die Meinungsfreiheit bestellt ist. Seinen Gesprächspartnern - seien es Gregor Gysi, Volker Beck oder Kardinal Reinhard Marx, seien es Frauke Petry von der AfD, Pegida-Gründer Lutz Bachmann oder der geistige Führer der neuen Rechten Götz Kubitschek, seien es Akif Pirinçci oder Jürgen Todenhöfer - hat er unbequeme Fragen gestellt. Die Erkenntnisse, die er dabei gewonnen hat, sind mindestens ebenso verstörend wie seine Besuche in den Flüchtlingslagern, wo er von beschämenden Zuständen berichtet, deren Auswirkungen nicht nur individuell verheerend sind, sondern in nicht allzu ferner Zukunft die gesamte deutsche Gesellschaft betreffen werden.
Tuvia Tenenboms provokante, streitbare Großreportage über die neue deutsche Wirklichkeit ist ebenso aufrüttelnd wie erschütternd - und ein Appell zum Umdenken und offenen Diskurs.



Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutschj&uuml;disch-polnischen Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte u. a. englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt f&uuml;r zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel, darunter f&uuml;r DIE ZEIT. 1994 gr&uuml;ndete er das Jewish Theater of New York. Zuletzt erschienen die Bestseller <em>Allein unter Deutschen</em> (2012), <em>Allein unter Juden</em> (2014), <em>Allein unter Amerikanern</em> (2016), <em>Allein unter Fl&uuml;chtlingen</em> (2017) sowie <em>Allein unter Briten</em> (2020).

Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutsch-jüdisch-polnischen Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte u. a. englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt für zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel, darunter für Die Zeit. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York. Zuletzt erschienen die Bestseller Allein unter Juden (2014) und Allein unter Deutschen (2012) sowie Allein unter Amerikanern (2016).

1. KAPITEL Flüchtlingsnation Deutschland


Syrien beziehungsweise das, was davon übriggeblieben ist, liegt nur einen Katzensprung von mir entfernt, aber ich kann nicht hin. Ich bin, siehe da, in Syriens größtem Feindesstaat: Israel. Ich meine, so war es jedenfalls bislang. Heute weiß niemand, wer Syriens größter Feind ist, am wenigsten die Syrer selbst oder die Israelis. Manchmal laufe ich in Israel durch die Straßen und erzähle den Leuten, ich sei Syrer. Die Juden fragen mich dann, ob ich Christ bin, während die Araber mich fragen, ob ich Muslim bin. Warum ich mich als Syrer ausgebe? Ich weiß es nicht. Ich war mehr als einmal in der arabischen Welt, in Saudi-Arabien, Jordanien, Katar und Ägypten, aber noch nie in Syrien. Ich habe hier und da einige Syrer kennengelernt und mochte sie, warum auch immer – Liebe ist schwer zu erklären. Ich mag die arabische Welt ganz allgemein, aber ein besonderes Faible habe ich für die Syrer.

Wie viele Syrer laufen derzeit durch Israels Straßen? Ich bin mir nicht sicher, schätze ihre Zahl aber auf irgendwas zwischen null und zwei, vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger.

Ja, es gibt eine Handvoll Syrer hierzulande, da Israel einige Verwundete aus dem syrischen Bürgerkrieg in seinen Krankenhäusern behandeln lässt, aber diese Syrer laufen nicht, sie liegen.

Wo sind die Syrer, die noch laufen können? Man hört, dass sie sich zu Hunderttausenden in Deutschland befinden – und noch weitere auf dem Weg nach Deutschland sind.

Ja, da könnte ich mich unter Syrer mischen. Unter alle mögliche Syrer, nebenbei bemerkt. Ein deutscher Freund hat gerade eine Einladung zu einer Veranstaltung in Deutschland an mich weitergeleitet, bei der es unter anderem, man höre und staune, eine »Podiumsdiskussion mit und zu queeren Flüchtlingen« geben wird. Organisiert wird diese Veranstaltung von niemand Geringerem als den Grünen, lese ich in der Einladung. Wow! So etwas darf ein Mann wie ich nicht verpassen. Vielleicht gehört das nicht in die Öffentlichkeit, aber es war schon immer ein heimlicher Traum von mir, ein paar syrische Lesben und Transgender-Afghanen kennenzulernen. Diese diskursive Sause der Grünen sollte dafür doch die ideale Gelegenheit bieten. Das wird bestimmt eine tolle Sache. Ich bin noch nie einem queeren Muslim begegnet, in Deutschland aber werde ich von ihnen umringt sein!

Ich buche umgehend einen Flug und bereite mich geistig darauf vor, vom Heiligen Land in das Land der Deutschen zu fliegen.

Zugegeben, dies ist nicht der einzige Grund, warum ich nach Deutschland reise. Suhrkamp, mein Verlag, hat mich beauftragt, ein Buch über die Flüchtlinge in Deutschland zu schreiben. Ich habe meinen Abflug bislang allerdings hinausgezögert, weil es da, wo ich bin, so außerordentlich köstliches Essen gibt.

Mir geht es hier also prächtig, danke der Nachfrage. Ich habe mir ein Apartment direkt auf dem riesigen Markt von Jerusalem gemietet, dem Mahane-Yehuda-Markt, und genieße das Leben. Der Markt ist 20 Stunden am Tag geöffnet, und das Essen hier wurde im Paradies zubereitet, kostet aber nur kleines Geld. Gelinde gesagt, bin ich im siebten Himmel. Soweit ich das sehe, ist hier niemand ein Transgender-Muslim. Der siebte Himmel dieser Leute, vermute ich, ist der über Berlin.

Ich gönne mir eine Pause vom guten Essen und nähre meine Wissbegierde.

Ich fliege nach Deutschland.

Im Flugzeug versuche ich, meine Gedanken über das Flüchtlingsthema zu ordnen. Was weiß ich eigentlich über die Flüchtlinge in Deutschland oder anderswo?

Nicht viel. Ich habe über dieses Thema vor allem in amerikanischen und britischen Medien gelesen, das war’s dann aber auch. Ich las beispielsweise, dass die Türkei die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, insgesamt über zweieinhalb Millionen; dass der Libanon und Jordanien zusammen rund zwei Millionen Schutz bieten, die meisten anderen arabischen Länder aber, wenn überhaupt, dann keiner nennenswerten Anzahl von Flüchtlingen Zuflucht gewähren; dass Deutschland 2015 1,1 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern aufgenommen hat, mehr als jedes andere europäische Land, und in den kommenden Jahren weitere Hunderttausende pro Jahr aufzunehmen bereit ist. In der New York Times, Amerikas ungekrönter Zeitungsqueen, stand neulich ein Kommentar mit dem Titel: »Flüchtlingsnation Deutschland.« Nicht schlecht, was?

Ich habe Durst, aber es gibt noch nichts zu trinken. Hoffentlich kommen sie bald mit ihren Rollwagen durch die Kabine. Ich hätte mir eine Flasche von meinem Lieblingsgetränk, Cola light, kaufen sollen, bevor ich in den Flieger stieg, war aber zu spät dran. Ich stand nämlich draußen, um meine geliebten indonesischen Zigaretten zu rauchen, die besten Zigaretten der Welt, und erreichte gerade noch rechtzeitig das Gate.

Was weiß ich noch über das Flüchtlingsproblem?

Mitte Juli gab es einen im Fernsehen übertragenen »Bürgerdialog«, bei dem man Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gespräch mit einem 14-jährigen palästinensischen Mädchen aus dem Libanon sah. Das Mädchen sagte zu Angela, die die ganze Welt inzwischen als »Mutti« kennt, sie habe Angst davor, zurück in den Libanon abgeschoben zu werden, worauf Angela erwiderte, dass sie ihr nicht wirklich helfen könne. Ich habe den genauen Wortlaut tatsächlich auf meinem iPad. »Du weißt auch«, entgegnete Angela dem Mädchen, »in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch Tausende und Tausende, und wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen, und ihr könnt alle kommen, das, das können wir auch nicht schaffen.« Daraufhin brach das Mädchen in Tränen aus, und Angela ging zu ihr, um sie zu trösten, tat das aber auf eine etwas merkwürdige Weise, sodass ihr »Mutti«-Image ein klein wenig Schaden nahm.

Ja, und schon bald vollzog Angela einen Sinneswandel, und Deutschland nahm immer mehr Flüchtlinge auf. »Wir schaffen das«, verkündete Mutti am 31. August auf einer Pressekonferenz. Wahrscheinlich hat sie sich diesen Spruch vom amerikanischen Präsidenten Barack Obama und dessen erstem Wahlkampfslogan »Yes We Can« abgeschaut.

Anfang September, als Ungarn Flüchtlinge mit Tränengas daran hinderte, sein Staatsgebiet zu passieren, beschloss Angela, die europäische Dublin-Verordnung außer Kraft zu setzen und den Flüchtlingen in Ungarn die Einreise nach Deutschland zu gestatten. Das Dublin-Verfahren legt fest, dass Asylsuchende ihren Asylantrag in dem Land stellen müssen, in dem sie die EU erstmals betreten, Angela aber nimmt es mit solchen Regeln offenbar nicht so genau. Für sie und viele andere Deutsche – vor allem die kulturelle Elite – ist die Norm, an die sie sich gebunden fühlen, Artikel 16a, Paragraph 1 des Grundgesetzes, in dem steht:

»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.«

Punkt.

In Wirklichkeit aber heißt es in Paragraph 2 dieses Artikels: »Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften […] einreist.« Aber was soll’s? Wie jedes Gesetz auf der Welt kann auch dieses in vielfältiger Weise interpretiert werden, und Mutti weiß es am besten.

Ich entnehme diese Informationen übrigens meinem iPad. Ein Teil meines Gehirns, falls es Sie interessiert, befindet sich in diesem Gerät. Ja, wirklich. Wenn ich mein iPad verliere, bin ich die Hälfte meines IQ los, kein Witz.

Wann kommen die endlich mit den Getränken? Ich brauche eine Cola light. Jetzt. Hoffentlich muss ich sie nicht extra bezahlen. Bei Fluggesellschaften weiß man nie; bald werden sie einem den Sitzplatz und die Toilettenbenutzung berechnen. Ja, ja, Sie werden schon sehen. In zehn oder 20 Jahren wird jedes Verkehrsflugzeug über einen Bereich mit Stehplätzen verfügen, es wird unterschiedliche Toilettengrößen geben, je nachdem, wie viel man zahlt. Das ist die Zukunft, Baby, der westliche Kapitalismus kennt keine Grenzen.

Was finde ich noch auf meinem iPad? Bitte schön: Am 11. September zitierte die Deutsche Welle Angela Merkel wie folgt: »Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen.« Als die Syrer das hörten, strömten sie in Scharen nach Deutschland. Hätten Sie das an ihrer Stelle nicht auch getan?

Bald schon vollzog Mutti einen weiteren Sinneswandel. Am 13. September schrieb der Guardian, dass »Deutschland am Sonntag Grenzkontrollen eingeführt und in einer drastischen Maßnahme jeglichen Zugverkehr mit Österreich unterbrochen hat, nachdem die Bundesländer gewarnt hatten, dass sie die erdrückende Zahl von Flüchtlingen, die ins Land kommen, nicht mehr bewältigen können«.

Rund einen Monat später, schrieb der britische Independent, wie ich auf meinem iPad sehe, dass Angela Merkel »Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem Ministerpräsidenten Ahmet Davutog˘lu geführt hat, um Ankaras Unterstützung für den Plan einer verstärkten Pufferzone in der Region zu gewinnen. Diese solle die Flut an Kriegsflüchtlingen aus Syrien und Afghanistan bremsen, die gegenwärtig nach Europa kommen.«

Die Tage, Wochen und Monate zogen ins Land, und bevor es irgendjemand bemerkte, ging das Jahr 2015 zu Ende und das Jahr 2016 stand vor der Tür, und mit ihm die Silvesterfeiern.

Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass ein Steward und eine Stewardess Anstalten machen, den Passagieren Getränke anzubieten. Wäre aber...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Allein unter Amerikanern • Allein unter Deutschen • Allein unter Juden • Antisemitismus • Deutschland • Deutschlandreise • Flüchtlingskrise • Flüchtlingslager • Frauke Petry • Götz Kubitschek • Lutz Bachmann • Pegida • Politik • Preis für ehrlichen Journalismus 2016 • Reportage • ST 4758 • ST4758 • suhrkamp taschenbuch 4758 • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-518-75136-0 / 3518751360
ISBN-13 978-3-518-75136-7 / 9783518751367
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