Abenteuer Freiheit (eBook)
100 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518745229 (ISBN)
Nachdem Carlo Strenger in »Zivilisierte Verachtung« gezeigt hat, weshalb es westlichen Gesellschaften heute oft schwerfällt, ihre Werte selbstbewusst zu verteidigen, wendet er sich in seinem neuen Buch der individuellen Seite dieser Verunsicherung zu: Warum leiden so viele Menschen unter Depressionen und einer erdrückenden Angst vor dem Scheitern? Warum boomen Heilslehren, die uns den Weg zum wahren Selbst weisen wollen?
All das hat laut Strenger, damit zu tun, dass es sich bei der Idee, es gäbe so etwas wie ein Grundrecht auf müheloses Glück, um einen Mythos handelt. Ausgehend von Denkern wie Spinoza, Nietzsche und Freud legt er dar, dass lange die Überzeugung vorherrschte, Konflikte und Scheitern gehörten zur menschlichen Natur. Daher, so schließt er aus den Biografien von Künstlern wie James Joyce, Pablo Picasso und Francis Ford Coppola, müssen wir wieder lernen, dass Freiheit ein lebenslanges Abenteuer ist: riskant, aber zugleich viel interessanter, als und die Massenkultur heute weismachen will.
<p>Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, war Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schrieb regelmäßig für den britischen <em>Guardian</em> und Israels führende liberale Zeitung <em>Haaretz</em>. Carlo Strenger ist am 25. Oktober 2019 im Alter von 61 Jahren in Tel Aviv verstorben.</p>
Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für den britischen Guardian und Israels führende liberale Zeitung Haaretz.
Freiheit und Dschihad
Es gibt Momente, in denen die Bürger der westlichen Welt realisieren, dass sie in einem politischen und gesellschaftlichen System leben, für dessen Erhalt man kämpfen muss. Momente, in denen die leidigen Fragen, wer wie viel zur Finanzierung der Europäischen Union beitragen soll, wie die Staatsschuldenkrise Griechenlands bewältigt werden kann oder wie wir unsere Rentenkassen stabilisieren sollen, für kurze Zeit ausgeblendet werden. Einer der wohl prägendsten Momente der jüngeren Geschichte war der 11. September 2001. Sogar die Franzosen, die für ihre kritische Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten bekannt sind, fühlten sich an jenem Tag als New Yorker. Ein weiterer war der 7. Januar 2015. Nachdem die Brüder Chérif und Saïd Kouachi in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo ein Blutbad angerichtet hatten, bekundeten Menschen unter dem Slogan »Je suis Charlie« überall auf der Welt ihre Solidarität mit den Opfern. Und als am 13. November 2015 neun islamistische Terroristen in Paris 130 Menschen ermordet hatten, erstrahlten noch am Abend desselben Tages die wichtigsten Symbole der westlichen Welt – vom One World Trade Center in New York bis zur Oper in Sydney – in den Farben der Trikolore.
Bei diesen Momenten handelte es sich jedoch um Ausnahmesituationen, auch wenn zu befürchten steht, dass sie sich in absehbarer Zukunft wiederholen werden. Im Alltag spielt die Frage, was den Westen ausmacht und warum es wichtig ist, ihn zu schützen, meist keine Rolle: Die Kinder müssen in der Kita abgeliefert, ein Termin mit dem Elektriker muss vereinbart, das Auto in die Werkstatt gebracht werden. Oder es gilt, konkrete Entscheidungen zu treffen: Gehe ich zum Sport oder besuche ich lieber meine Freunde? Soll ich meinen sicheren, aber langweiligen Job für eine spannende, aber womöglich prekäre Stelle bei einem Start-up-Unternehmen aufgeben? Für viele fühlt sich das tägliche Leben weniger wie ein von der Marianne angeführter Marsch zur Freiheit und mehr wie ein Optimierungsprojekt an. Da bleibt verständlicherweise nicht sehr viel Energie für Sendungsbewusstsein.
Dschihadisten sehen darin einen Grund für die Schwäche des Westens. Die Menschen in Europa und Nordamerika seien nur noch mit sich selbst und ihren privaten Sorgen beschäftigt. Den Glauben an eine große Sache hätten sie längst verloren. Sie seien nicht länger bereit, Opfer zu bringen. Ja, nicht einmal ihre lasziven Frauen könnten sie in die Schranken weisen, was zeige, dass der Westen keine richtigen Männer mehr habe. Und tatsächlich haben sie mit diesen Annahmen nicht ganz unrecht. Im Namen einer Religion zu morden oder unsere Kinder zu Gotteskriegern zu erziehen betrachten die meisten von uns nicht als göttliche Pflicht, sondern schlicht als barbarisch. Frauen auf ihre Rolle als Mutter zu reduzieren und sie aus dem öffentlichen Leben auszusperren gilt der überwiegenden Mehrzahl der Menschen im Westen nicht als Akt der Reinheit, sondern als archaisch und inhuman. Dies ist das Resultat einer langwierigen und teils schmerzhaften Umwälzung, die zur Entstehung der liberalen Ordnung geführt hat: In der freien Welt ist das Individuum nicht länger dem Kollektiv untergeordnet. Die einzige legitime Funktion von Kollektiven – ob Stadt oder Nation – besteht darin, dem Wohlergehen der Einzelnen zu dienen. Daher wäre es logisch absurd und moralisch verwerflich, wenn ein Kollektiv (einmal abgesehen von Extremsituationen wie Naturkatastrophen) von den Individuen fordern würde, sich in seinem Namen zu opfern. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen, des Lebens, der Welt – nach dem Großen Sinn, wie ich ihn in diesem Essay nenne –, ist im Westen zu einer Privatangelegenheit geworden. Öffentliche Akteure, insbesondere der Staat und die Kirchen, sollen sich raushalten, wo es um diese Dinge geht.
Um zu verstehen, wie es zu dieser Umwälzung kam, müssen wir einige Jahrhunderte in der Geschichte zurückgehen. Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges fasste in Europa nach und nach die Einsicht Fuß, dass die Religion in der Politik keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen dürfe. Philosophen wie Hobbes, Spinoza oder Locke lieferten das theoretische Fundament für diese Neuordnung der Gesellschaft: das Prinzip der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Kein Mensch dürfe mit Gewalt dazu gezwungen werden, bestimmte Überzeugungen (seien diese nun politischer oder religiöser Natur) anzunehmen. Die Entwicklung der liberalen Grundordnung wäre nicht möglich gewesen, wäre das Monopol der Religionen über das Weltbild der Menschen ab dem 17. Jahrhundert nicht ins Wanken geraten und schließlich gebrochen worden. In verschiedenen Gegenden Europas kam zu jener Zeit ein Prozess in Gang, der später als wissenschaftliche Revolution bezeichnet werden sollte. Schritt für Schritt entstand ein Erklärungsansatz, der ein neues Bild der Natur ermöglichte: Mit seinen drei Gesetzen für die Bewegung der Himmelskörper stellte Kepler die Astronomie auf ein neues mathematisches Fundament; Galilei entwickelte die Grundlagen der modernen Mechanik; Newton integrierte Astronomie und terrestrische Mechanik zum Gedankengebäude der klassischen Physik; die Erfindung des Mikroskops ermöglichte die Entdeckung der biologischen Zelle; und William Harvey formulierte die Theorie des Blutkreislaufs. Im Lauf des 18. Jahrhunderts wurden die Grundlagen der neuzeitlichen Chemie gelegt. Zudem markiert es den Beginn der modernen Geologie, ein Meilenstein, da die Menschen nun verstanden, dass der Planet Erde sehr viel älter war, als die Bibel behauptete. Ohne diese Einsicht hätte Darwin seine Evolutionstheorie wohl kaum formulieren können.
Parallel zu den grundstürzenden Neuerungen in den Naturwissenschaften entwickelte sich die moderne Erkenntnistheorie. Beginnend mit Francis Bacon, Thomas Hobbes und Descartes im 17. Jahrhundert, versuchten die Philosophen, das Wissen systematisch vom Glauben zu unterscheiden. Gekrönt wurden diese Anstrengungen im 18. Jahrhundert von dem überragenden Gedankengebäude Immanuel Kants. Zeitgleich entstand auch die moderne politische Philosophie. Vorstellungen wie das gottgegebene Recht der Könige auf ihr Reich verwarf man als Fiktion. An ihre Stelle trat die Idee des Gesellschaftsvertrages, aus der die Überzeugung hervorging, die Menschen sollten selbst entscheiden können, wer sie regiert. In der Verfassung der USA wurde sie zum ersten Mal in der Geschichte zur gelebten Realität. Allmählich setzte sich die Idee durch, dass politische Freiheit ein Grundrecht ist.
Allerdings verlief dieser Prozess alles andere als reibungslos. Noch im 18. Jahrhundert mussten Aufklärer wie Diderot und Voltaire für ihre angeblich ketzerischen Äußerungen und aufrührerischen Umtriebe ins Gefängnis. Im 19. Jahrhundert sahen sich Denker wie John Stuart Mill immer wieder dazu genötigt, die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Und auch der vermeintliche Siegeszug der Demokratie war nicht ohne Rückschläge. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden gerade einmal acht Staaten wirklich demokratisch regiert. Wie der Historiker Niall Ferguson betont hat, irrt, wer glaubt, es habe im 20. Jahrhundert lediglich zwei Weltkriege gegeben. Im Grunde waren die Jahrzehnte zwischen 1914 und 1989 ein ständiger Kampf zwischen Liberalismus,5 Kommunismus und Faschismus.6
Zudem spürte eine ganze Reihe von Denkern, dass die Verdrängung der Frage nach dem Großen Sinn ins Private einen enormen Preis gefordert hatte. Friedrich Nietzsche meinte im Tod Gottes (seine Metapher für den Verlust des Großen Sinns) den Anbruch des westlichen Nihilismus erkennen zu können, und Jean-Paul Sartre behauptete, inmitten der westlichen Seele klaffe ein Loch in der Gestalt Gottes. Die Pariser Existenzialisten der fünfziger Jahre sahen in der vollkommenen Freiheit und totalen Verantwortung ein großes Abenteuer; dasselbe galt für die Studenten, die in den Revolten der sechziger Jahre alle gesellschaftlichen Autoritäten infrage stellten. Doch diese nicht immer sehr produktive, aber doch leidenschaftliche Begeisterung für das Abenteuer Freiheit ist in den letzten Jahrzehnten aus der Mode gekommen, als in den Achtziger aus den Hippies Yuppies wurden. Die Vorstellung, wir bräuchten existenzielle Anstrengungen jenseits von Sport und Diät, klingt Anfang des 21. Jahrhunderts anachronistisch. An ihre Stelle ist ein pragmatischer Umgang mit vormals zentralen Fragen getreten. Wenn ich protestantische Grundgedanken mit buddhistischen Elementen verknüpfen möchte, dann soll mich keine Kirche davon abhalten können. Existenzielle Entscheidungen sollten nicht dramatischer sein als die Frage, ob es besser ist, meine Ausdauer zu trainieren oder meine Gelenkigkeit zu verbessern. Letztendlich muss es auf alles eine praktische Antwort geben. Wenn ich mich zu viel mit Sinnfragen befasse, dann leide ich entweder unter Depressionen, die mit Medikamenten kuriert werden können, oder es handelt sich um ein Symptom für ein hormonelles Problem, das sich mit einem Bluttest und einigen Nahrungsmittelzusätzen lösen lässt. Im Grunde ist alles nur eine Sache der Konfiguration – wie bei einem Smartphone.
Ich denke, unsere Situation ist weit komplizierter, als uns diese Haltung weismachen will. Die Verlagerung der Frage nach dem Großen Sinn ins Private ist in der Tat eine der größten Errungenschaften in der Geschichte des Westens. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass die Inquisition der Vergangenheit angehört und dass bei uns niemand mehr wegen seiner Religion oder seiner politischen Überzeugungen gefoltert oder hingerichtet wird. Aber deswegen zu glauben, es gäbe jenseits von Karrierefragen, Fitness- und Diätprogrammen keine existenziellen Probleme, ist...
| Erscheint lt. Verlag | 17.1.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Schlagworte | Abendland • AfD • Charlie Hebdo • Donald Trump • Europa • Glück • Nordamerika (USA und Kanada) • Pegida • Populismus • spiegel bestseller • Spiegelbestseller • SPIEGEL-Bestseller • Zivilisierte Verachtung |
| ISBN-13 | 9783518745229 / 9783518745229 |
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