Ein altes Segelboot und ein erster langer Sommer darauf – so fing alles an. Seither lebt und arbeitet Marc Bielefeld auf dem Wasser – jenseits von Lärm, Hast und Überfluss der Stadt – und segelt, wohin er will: Mal ist er in Schottland unterwegs, steuert die dänischen Inseln und schwedischen Schären an, mal entdeckt er die Elbe und die deutschen Küsten. In kleinen Häfen und verrauchten Kneipen, überall begegnet er Menschen, die seine Leidenschaft für Wind und Meer, seine Suche nach Freiheit und einem Dasein fernab von Konsum und Geschwindigkeit teilen. Er erzählt von einem der letzten Bootsbauwanderer Deutschlands, von einem Franzosen, der auf einem winzigen Sportkatamaran die Erde umsegelt, oder einem Ehepaar, das mit fünfzig alles aufgibt, um fortan für das Segeln zu leben. Ein Buch, das zeigt, dass der Traum vom selbstbestimmten Leben Wirklichkeit werden kann – inspirierend, spannend und unterhaltsam.
Marc Bielefeld, geb. 1966, lebt in Hamburg und schreibt u. a. für DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung, mare, Merian. Bisher sind von ihm erschienen »Wilde Dichter« (2005), »Die Herausforderer« (2006) und zuletzt »We spe@k Deutsch« bei Heyne (2008).
Wir fuhren auf einem alten besegelten Fischerkahn durch das Korallenmeer vor der Küste von Belize, immer tiefer nach Süden und entlang des zweitgrößten Barriereriffs der Erde. Über zweihundert Kilometer dehnte sich das Riff, streckte sich unter beinahe obszönen Farben in die See, bis es sich irgendwo im Golf von Honduras in der Tiefe verlor.
In der weiten Lagune, die sich fast einen Kilometer bis zum Beginn der Korallenbänke zog, schwammen gelegentlich Zitronenhaie und Karettschildkröten, die ihren Kopf aus den Fluten hielten und sich eine Weile umschauten, bevor sie wieder abtauchten. Das Meer war komplett grün und blau. Mittendrin schwebten resedafarbene Flächen, zum Ufer hin flackerten türkisfarbene Abschnitte auf, und je steiler man von oben ins Wasser blickte, desto intensiver, blauer und transparenter geriet der Ton dieser geradezu wahnwitzigen Anmischung von Farben.
Wir segelten von der kleinen Insel Caye Caulker zu der noch kleineren Insel Tobacco Caye. Unser alter Holzkahn war blau, weiß und türkis gestrichen, er war vollkommen offen und besaß keine Kajüte. Der Mast zeigte schräg in den Himmel, gemasert von langen Trockenrissen, und an seiner krummen Gaffel hing ein scheckiges, von Spak und Rostflecken überzogenes Baumwollsegel.
Ein Kreole namens Russel hatte sich das Boot von den Fischern geliehen und nicht einmal eine Handvoll Dollar dafür verlangt, uns zur Insel zu bringen. Er trug geflochtene Zöpfe, die wie große Büschel Seetang von seinem dunklen Kopf hingen und sein Gesicht beinahe zur Gänze verbargen.
Das Boot schaufelte sich gutmütig durch die kleinen Wellen des Nordostpassats. Nur der warme Wind trieb uns voran. Sechs, sieben Seemeilen von Caye Caulker entfernt loderten die ersten größeren Korallenblöcke auf dem Meeresgrund auf.
Nach einigen Stunden wurde das Meer noch weitaus vielfältiger in seinen Färbungen, und ich starrte in einen völlig außer Rand und Band geratenen Farbtopf. Vor den Augen flammten die perversen Schattierungen der Korallensee auf. Anmaßungen, wunderschöne Übertreibungen. Die Pinselstriche eines geisteskranken Träumers.
Wir fuhren durch ein Aquarium. Wir fuhren durch ein vor Licht zuckendes Meer aus transparentem Blau, in das sich die Sonne ergoss und über dem die weißen Passatwolken flogen. Unter uns flirrten Himbeerkorallen und Steinkorallen, umschwirrt von Lippfischen und Doktorfischen, und immer wieder standen Barrakudas dicht unter der Oberfläche, die ihre silbrigen Körper wie Pfeile in die Strömung stellten.
Winzige Sandbänke und von Palmen bestandene Inseln lagen im Meer, Saumriffe und kleinste Atolle, Flächen fast weißen Korallensediments, umspült von den Wellen und vom heißen Wind. So zog sich die Korallensee nach Süden, und einmal, über einem flacheren Abschnitt gleißend hellen und sandigen Meeresgrunds, sprang unweit des Boots ein Adlerrochen aus dem Wasser.
Der alte Kahn machte um die vier, fünf Knoten. Er knarzte wie ein alter Schaukelstuhl, und jedes Mal, wenn sich der Rumpf in die See legte, quietschte der hölzerne Block, durch den die Schot des Großsegels lief. Das Boot kam mir vor wie ein alter Fregattvogel, der sich auf seinem Beutezug mit wehenden Schwingen über das Meer schleppte und hier und da seinen Schnabel in die Fluten stach.
Über hundert Meilen waren wir über das glasklare Meer gefahren, und als wir in Tobacco Caye an Land gingen, hingen mir die Bilder noch immer wie eine Halluzination im Kopf. Ich saß im Sand und blickte zurück. Schon bald wollte sich der Kreole namens Russel wieder auf den Weg machen und setzte das Segel. Wie ein beigefarbenes Dreieck schwebte es über dem blauen Meer. Bald wurde es immer kleiner und verlor sich zwischen den Schaumkronen, als das Boot durch das Korallenmeer zurück gen Norden segelte.
Ich blickte dem alten Kahn noch eine ganze Weile nach, und obwohl ich ihn längst nicht mehr sehen konnte, zog er doch eine bleibende Spur durch meinen Kopf.
Und ich dachte mir, wie sehr das Meer uns Menschen doch betören und betrügen kann.
Der Sturm auf dem Wasser zieht schnell auf. Der Wind echauffiert sich erst unmerklich, bald immer heftiger. Der Himmel verdüstert sich, vielleicht geistern Böenwalzen über das Meer, Schauerwolken mit Hagelbäuchen. Auch der Sturm kennt viele Farben. Immer hat er mit dem Wind zu tun. Der Wind selbst ist der Sturm. Wenn der Wind eine Geschwindigkeit von vierzig Knoten, von über siebzig Kilometer in der Stunde, erreicht, ist von Sturm die Rede. An Land bewegen sich die Bäume immer heftiger, der Wind öffnet Fensterläden, schmeißt Gartenstühle um und erschwert das Gehen. Auf See bilden sich Schaumstreifen, die Wellen laufen höher und höher, ihre Köpfe reißt der Wind davon.
Das alles kann schlimmer werden. Brechende Äste, abgedeckte Dächer. Auf dem Meer füllt sich die Luft mit Schaum und Gischt, das Wasser wird waagerecht davongeblasen. Die See sieht aus wie dunkler Marmor, zerfetzt von weißen Flecken, Streifen und unberechenbaren Mustern.
Der Sturm kennt viele Tücken. Er ist ein hinterlistiger Bursche. Pirscht sich an wie ein Dieb, will nicht erkannt werden. Bis er unweigerlich da ist und mit Macht über alles herfällt, was ihm im Weg steht. Die größte Gefahr liegt darin, ihn nicht rechtzeitig zu erkennen, ihn zu unterschätzen. Der Sturm ist schneller als der Mensch. Schneller als seine Gedanken, seine Taten, seine Reaktionen.
Er reißt die Segel von Stagen und Rahen. Er reißt an den Masten, bis diese brechen und von oben kommen. Wehe dem, der den Sturm nicht kommen sieht. Wehe dem, der nicht rechtzeitig die Segel verkleinert und sich wappnet.
Die Seehandbücher nennen verschiedene Möglichkeiten, sich auf einen Sturm vorzubereiten. Doch betonen sie auch, dass alle Ratschläge stets nur theoretische Überlegungen bleiben können. Zu widersprüchlich sind die Erfahrungen jener, die einen ausgewachsenen Sturm erlebt haben, zu vielschichtig die Faktoren, die zum Tragen kommen, wenn der Wind sich erhebt und mit fünfzig, sechzig oder weitaus mehr Knoten weht. Niemand kann verbindliche Empfehlungen aussprechen. Die Geschwindigkeit des Winds, die Dauer des Sturms, die Höhen und Längen der Wellen spielen eine ebenso große Rolle wie Taklung, Größe, Konstruktion und Verdrängung des Schiffs. Ein Langkieler wird sich anders verhalten als ein Kurzkieler, eine zehn Meter lange Yacht anders als ein neunzehn Meter langer Kutter.
Zudem: Der Sturm ist ein zutiefst subjektives Erlebnis.
Die nautischen Werke raten zu verschiedenen Maßnahmen, um dem Sturm schließlich zu begegnen. Alle Wettermeldungen sollten geprüft, das Barometer im Auge behalten werden. Ein Schutzhafen muss in zwei bis drei Stunden zu erreichen sein. Ist dies nicht möglich, wird es von Vorteil sein, seinen Kurs auf freien Seeraum und tiefes Wasser zu richten. Vielleicht wird die einzige Möglichkeit, Schiff und Mannschaft zu retten, darin bestehen, den Sturm weit draußen auf dem offenen Meer abzureiten.
An und unter Deck gilt es diverse Vorbereitungen zu treffen. Schwere Lasten sind tief im Rumpf zu stauen, Beiboote und Rettungsinsel müssen zusätzlich gesichert werden. Alle Luken werden geschlossen.
Unter Deck müssen alle losen Gegenstände verzurrt und gelascht, Schränke verriegelt, die Seeventile geschlossen werden. Nicht benötigte papierne nautische Unterlagen und alle Dinge, die durch Wasser verderben können, sollten in wasserdichten Säcken oder Behältern gestaut werden. Rettungsmittel und Notsignale sind klarzumachen und in der Nähe des Niedergangs oder der Hundekoje bereitzulegen.
Die Segler legen warme und regenabweisende Kleidung an. Ölzeug, Rettungswesten, Lifebelts. Die Funktionen des Funkgeräts sind zu prüfen. Die meisten Seehandbücher empfehlen zudem, wenn dies alles geschehen ist, eine Suppe heiß zu machen und in eine Thermoskanne zu füllen. Zu einer letzten stärkenden Mahlzeit wird geraten.
Die Segel sollten längst gerefft sein. Lieber ein Reff zu viel stecken als eines zu wenig, heißt es. Auch wird empfohlen, das Reffen so schnell wie möglich zu erledigen. Ab einer gewissen Windstärke sind alle Segel zu bergen. Mast und Rumpf allein bieten dem Wind nun genug Fläche, um anzugreifen. Es gab schon Boote, die machten weit über zehn Knoten an Fahrt, obschon nicht ein einziges Segel mehr stand.
Erst danach folgen in den Handbüchern die Ratschläge zum Abwettern des Sturms selbst. Die Möglichkeiten des Beiliegens und Ablaufens im Wind. Die Methoden, Treibanker auszubringen. Das Schiff fällt die Wellen hinunter, gräbt sich ein, wird wieder angehoben. In orchestraler Wut dreschen Wind und Wasser auf das Boot ein; in den schlimmsten Sekunden zittert es, als verspüre es die Todesangst selbst. Die Mannschaft kauert unter Deck, tut nichts. Vielleicht sitzt der Steuermann noch am Ruder, versucht, das Boot vor den schlimmsten, den brechenden Wasserwänden zu bewahren.
Als Letztes gilt es, die Möglichkeit des Durchkenterns durchzuspielen, eine mittlere oder bereits schwere Katastrophe. Wassereinbruch, Verletzungen, Zertrümmerungen.
Manchmal gerät das Wort Sturm zur Metapher, zur Allegorie. Der Sturm gewinnt dann an übergreifender Bedeutung. Und manchmal bringt es der Sturm sogar fertig, absolut lautlos nach dem Leben zu greifen. In seiner reinsten Form und in seinem fürchterlichsten Ausmaß jedoch tritt der Sturm auf See in Erscheinung. Und was ist das Letzte, was nun geschehen...
| Erscheint lt. Verlag | 31.10.2016 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
| Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
| Technik | |
| Schlagworte | Aussteiger • eBooks • Entschleunigung • Faszination Meer • Freiheit • Leben auf dem Meer • meeressüchtig • Nordsee • Ostsee • Reduktion • Reisen • Segeln • Selbstbestimmtes Leben • Sport |
| ISBN-13 | 9783641189792 / 9783641189792 |
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