Kissingers langer Schatten (eBook)
297 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-68858-4 (ISBN)
Greg Grandin ist Professor für Geschichte an der New York University. Sein Buch Fordlandia war Finalist für den Pulitzer-Preis und den National Book Award. Für sein Buch Empire of Necessity erhielt er den Bancroft-Preis der Columbia University.
Greg Grandin ist Professor für Geschichte an der New York University. Sein Buch Fordlandia war Finalist für den Pulitzer-Preis und den National Book Award. Für sein Buch Empire of Necessity erhielt er den Bancroft-Preis der Columbia University.
Cover 1
Titel 3
Impressum 4
Widmung 5
Motto 7
Inhalt 9
Vorbemerkung: Wer das Monster nicht sieht 11
Einleitung: Ein angekündigter Nachruf 15
1. Ein kosmischer Takt 28
2. Zwecke und Mittel 48
3. Kissinger lächelte 65
4. Auf Nixons Art 91
5. Anti-Kissinger 107
6. Der Gegensatz der Einheit 125
7. Geheimhaltung und Spektakel 148
8. Unvorstellbar 174
9. Ursache und Wirkung 193
10. Vorwärts zum Golf 208
11. Aus der Finsternis ins Licht 227
Epilog: Kissingerismus ohne Kissinger 245
Anhang 261
Dank 257
Anmerkungen 263
Personenregister 293
Zum Buch 297
Über den Autor 297
1
Ein kosmischer Takt
Die Geschichte (ist) ein endloses Entfalten eines kosmischen Taktes, der sich in den einzigen Alternativen von Subjekt und Objekt äußert, eine gewaltige Folge katastrophaler Umwälzungen, deren Manifestation und deren ausschließliches Ziel Macht ist; ein Impuls des Blutes, der nicht
nur durch Venen pulsiert, sondern verbreitet werden muss und verbreitet werden wird.
Henry Kissinger
Man kann Wagners Walkürenritt fast im Hintergrund hören. Die obige Passage schrieb Henry Kissinger in seiner Bachelorarbeit 1950 in Harvard, die er fast genau im selben Moment abgab, als Harry Truman die Unterstützung der Franzosen in Vietnam und die Entsendung von Truppen nach Korea ankündigte und die USA damit auf Kriegskurs in Südostasien brachte. «Die Bedeutung der Geschichte» fokussierte sich fast ausschließlich auf europäische Philosophie, doch wenn man die Arbeit im Bewusstsein der Rolle durchliest, die ihr Autor später bei der Ausweitung des Konflikts auf Laos und Kambodscha spielen würde, drängen sich Gedanken an Napalm und Streubomben und die Frage auf, ob Amerikas Katastrophe in Südostasien nicht zu verhindern war, ob es etwas im tiefsten Wesen der Vereinigten Staaten gab, einen Willen zur Unendlichkeit etwa, der sie auf den Ruin im Dschungel zusteuern ließ. Gab es eine innere Logik der Geschichte, die sich in My Lai manifestieren sollte, eine Blutlinie, die sich bis auf die ersten Massaker der Puritaner an den amerikanischen Ureinwohnern zurückverfolgen ließ?
Kissinger glaubt nicht an historische Notwendigkeit. Würde man ihm die Frage stellen, würde er sie daher gewiss verneinen. Wichtiger noch, Kissinger legte die obige Definition von Geschichte – als reflexartige, pulsierende Projektion von Macht ohne irgendein verständliches Ziel außer der Projektion von Macht – nicht als Empfehlung vor, sondern als Warnung, als mahnende Beschreibung des Schicksals, das große Zivilisationen häufig ereilt, wenn sie ihre Zielorientierung verlieren, wenn sie vergessen, warum sie ihre Macht projizieren, und nur wissen, dass sie imstande sind, sie zu projizieren. Er drängte Staatsmänner, nicht dem kosmischen Takt der Geschichte zu erliegen, nicht in eine «Wiederholung» der Art von freiwilligen «kataklystischen Kriegen» zu verfallen, die große Zivilisationen in der Vergangenheit zu Fall brachten – ein Rat, der sich leichter erteilen als befolgen ließ.
Viele haben auf den Einfluss hingewiesen, den das überaus erfolgreiche Werk Der Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler auf den zukünftigen Staatsmann hatte. Kissinger, so Stanley Hoffmann von der Harvard-Universität, «lief in gewisser Weise mit dem Geist von Spengler an seiner Seite herum».[1] «Kissinger war ein Spenglerianer», urteilte ein weiterer Harvard-Kollege, Zbigniew Brzezinski.[2] Wie Kissinger wird Spengler häufig mit politischem Realismus assoziiert, und seine zutiefst pessimistische Sicht der menschlichen Natur spiegelte sich in der Realpolitik einer Reihe prominenter Nachkriegsintellektueller und politischer Entscheidungsträger wie George Kennan, Hans Morgenthau und Samuel Huntington.
Spengler attackierte jedoch unerbittlich die bloße Vorstellung von Realität. Es gebe eine höhere Ebene der Erfahrung, so insistierte er, die dem rationalen Denken nicht zugänglich sei, eine Ebene, auf der Instinkt und Kreativität herrschten. «Und dabei ahnen wir heute kaum, … was alles von den vermeintlich objektiven Werten und Erfahrungen nur Verkleidung, nur Bild und Ausdruck ist.»[3] Um hinter Bild und Ausdruck zu gelangen, um die wahrgenommene materielle Macht und die Interessen zu durchdringen und zu verstehen, was Spengler mit Schicksal meinte, benötigte man keine Informationen, sondern Intuition, keine Fakten, sondern Ahnungen, keinen Verstand, sondern einen Seelensinn, ein Weltgefühl. «Ein Staatsmann ‹weiß› oft nicht, was er tut, aber das hindert ihn nicht, mit Sicherheit gerade das Erfolgreiche zu tun», schrieb Spengler.[4]
Kissinger war von diesem metaphysischen und quasi-mythologischen Spengler fasziniert, und dies mehr als andere Verteidigungsrealisten wie Kennan, Morgenthau und Huntington. «Das gesamte Leben ist von einer inneren Bestimmung durchdrungen, die niemals definiert werden kann», schrieb der zukünftige US-Diplomat. «Die Geschichte offenbart ein majestätisches Entfalten, das man nur intuitiv wahrnehmen und nie kausal einordnen kann.»[5] Spengler, so Kissinger, «bekräftigte, dass es gewisse ultimative Ziele gibt, die keine These beweisen und keine Spitzfindigkeit jemals in Abrede stellen kann und die in Worten wie Hoffnung, Liebe, Schönheit, Glück, Angst zum Ausdruck kommt.»[6]
Kissingers Bachelorarbeit bewegte sich überwiegend auf dem Niveau romantischer Abstraktion. Doch an verschiedenen Stellen in «Die Bedeutung der Geschichte» und in seiner gesamten späteren wissenschaftlichen und öffentlichen Laufbahn richtete er den Blick auf ein konkretes Ziel: den wachsenden Einfluss des Positivismus auf die Sozialwissenschaften der Nachkriegszeit. In Harvard (wie auch an anderen Universitäten und Think Tanks wie der RAND Corporation) wandten Politikwissenschaftler, Ökonomen, Soziologen und Wissenschaftler im Bereich der internationalen Beziehungen zunehmend Mathematik, formale Logik und naturwissenschaftliche Methoden an, um menschliches Verhalten zu bewerten. Ökonomistische Formeln wie die Rational-Choice- und die Spieltheorie dienten dazu, alles von individuellem Verhalten bis hin zur Nuklearstrategie zu beschreiben und vorherzusagen.
Es wäre übertrieben zu behaupten, Kissinger habe diese Methoden abgelehnt. Spieltheoretische Berechnungen, insbesondere die seines Harvard-Kollegen Thomas Schelling, beeinflussten sowohl Kissingers Analyse von Eisenhowers atomarer Verteidigungsstrategie als auch seine Kriegsführung in Vietnam. Zugleich kritisierte Kissinger jedoch scharf die Vorstellung von Objektivität, nach der die Gesellschaft «nach objektiven Gesetzen abläuft, deren Wurzeln in der menschlichen Natur liegen», und nach der diese Gesetze durch Beobachtung erfasst werden können.[7] Kissinger fühlte sich insbesondere von Spenglers Kritik am «Kausalitätsprinzip» angesprochen, wie es auf die Geschichtsbetrachtung angewandt wurde. Spengler zufolge waren Analysen von Ursache und Wirkung (wie Spenglers intellektueller Biograf Stuart Hughes schreibt) «eine lächerliche Vereinfachung der unentwirrbaren Gemengelage von konvergierenden Elementen, die noch den unwichtigsten Gegenstand der Geschichte ausmachten».[8]
Auch Kissinger tat das, was er als «bloße Kausalanalyse» bezeichnete, als eine Art Aberglauben ähnlich dem von Naturvölkern ab, die zu erklären versuchten, was einen Dampfmotor veranlasse, sich vorwärts zu bewegen. Eine solche «magische Einstellung» war Kissingers Ansicht nach der Versuch, Sinn in «Daten» zu finden und damit der Sinnlosigkeit des Seins zu entkommen.[9] Kausales Denken konzentriere sich auf das «Typische» und «Unaufhaltsame» und bekräftige die falsche Doktrin der «ewigen Wiederkehr» – sprich den Glauben an historische Notwendigkeit. Wenn etwas einmal geschehe, müsse es immer wieder geschehen. Diese Vorstellung lehnte Kissinger ab. Er trat vielmehr für die Existenz eines Bewusstseinsbereichs ein, der an die Stelle der materiellen Welt trat – eines Bereichs, den Spengler als «Schicksal», Kissinger jedoch lieber als «Freiheit» bezeichnete. «Eine Realität, die den Gesetzen der Kausalität unterliegt», sei, so Kissinger, nur die äußere Oberflächenerscheinung der Dinge. «Freiheit (hingegen) ist ein innerer Zustand»; «unsere Freiheitserfahrung zeugt von einem Fakt des Seins, den kein Denkprozess verleugnen kann.»
Spengler und Kissinger zufolge ist die Zivilisation dann in größter Gefahr, wenn die «Kausalitätsmenschen» (so Spenglers Begriff) und die «Faktenmenschen» (so Kissingers Bezeichnung) die Führung übernehmen. Während die Träume, Mythen und Risikobereitschaft einer früheren kreativen Ära schwinden, beschäftigen sich Intellektuelle, politische Führer und sogar Priester vor allem mit der Frage des Wie und nicht des Warum. «Ein Jahrhundert rein extensiver Wirksamkeit … ist eine Zeit des Niedergangs», schrieb Spengler in Bezug auf den Rationalismus der modernen Gesellschaft, der immer effizientere Vorgehensweisen anstrebe. Die intuitiven Dimensionen von Weisheit würden beiseite geworfen, technokratisches Vorgehen siege über den Zweck,...
| Erscheint lt. Verlag | 25.2.2016 |
|---|---|
| Übersetzer | Claudia Kotte, Thorsten Schmidt |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
| Schlagworte | 20. Jahrhundert • Amerika • Außenpolitik • Geschichte • Henry Kissinger • Kalter Krieg • Kriegsverbrecher • Metternich • Neokonservativismus • Politik • USA • Weltmacht |
| ISBN-10 | 3-406-68858-6 / 3406688586 |
| ISBN-13 | 978-3-406-68858-4 / 9783406688584 |
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