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Amras (eBook)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
98 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73675-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Amras -  Thomas Bernhard
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»Das Wesen der Krankheit ist so dunkel als das Wesen des Lebens.« Dieses Zitat von Novalis steht als Motto über der 1964 geschriebenen Erzählung Thomas Bernhards. Beschrieben wird die letzte Phase im Auflösungsprozeß einer Familie, Ursache und Wirkung eines allmählichen Niedergangs, der auf ebenso geheimnisvolle wie bestimmte Weise mit der Landschaft im Zusammenhang steht. Die Tragödie erfüllt sich an zwei letzten Überlebenden, einem Brüderpaar. Das in Zuneigung und Abneigung ambivalente, durch Krankheit sich mehr und mehr verschärfende Verhältnis der Brüder zueinander bildet ein Spannungsfeld, in dem Leben und Tod, Geist und Natur, die Finsternis und die Hellhörigkeit des Schmerzes einander begegnen, sich verbinden, sich spiegeln.



<p>Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Ober&ouml;sterreich). Er z&auml;hlt zu den bedeutendsten &ouml;sterreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-B&uuml;chner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 B&auml;nden.</p>

Thomas Bernhard, 1931 in Heerlen (Niederlande) geboren, starb im Februar 1989 in Gmunden (Oberösterreich). Er zählt zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern und wurde unter anderem 1970 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1972 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Der Suhrkamp Verlag publiziert eine Werkausgabe in 22 Bänden.

Nach dem Selbstmord unserer Eltern waren wir zweieinhalb Monate in dem Turm eingesperrt, in dem Wahrzeichen unseres Vorortes Amras, das nur durch den großen, in südlicher Richtung hinauf an das Urgestein führenden Apfelgarten, vor Jahren noch ein Besitztum unseres Vaters, zugänglich ist.

Der unserem Onkel gehörende Turm ist uns in diesen zweieinhalb Monaten eine vor dem Zugriff der Menschen schützende, vor den Blicken der immer nur aus dem Bösen handelnden und begreifenden Welt bewahrende und verbergende Zuflucht gewesen.

Nur dem Einfluß unseres Onkels, des Bruders unserer Mutter, verdankten wir, daß wir, gegen die grobe Tiroler Gesundheitsvorschrift, die im Selbstmord Entdeckten, zu qualvollem Weiterleben Verurteilten und dadurch Entstellten betreffend, nicht in die Irrenanstalt hineindirigiert und nicht wie so viele das Schicksal der in ihr erst Zerrütteten und Zerschlagenen aus dem Oberinntal und vom Karwendel und aus den Brennerdörfern auf die mir bekannte entsetzliche Weise zu teilen hatten.

Unsere Familienverschwörung war von einem Imster Geschäftsmann und Gläubiger unseres Vaters zwei Stunden zu früh entdeckt und publik gemacht worden: wir waren, zum Unterschied von den Eltern, noch immer nicht tot gewesen …

… sofort und, wie unser Onkel uns nicht verschwiegen hat, völlig nackt, in zwei Roßdecken und in ein Hundsfell gewickelt, waren wir noch in der gleichen Nacht und in noch bewußtlosem Zustand, um den Gesundheitsbehörden zuvorzukommen, in einem von unserem Onkel geschickten schnellen Wagen aus dem Innsbrucker Vaterhause nach Amras und dadurch in Sicherheit, in den Hintergrund von Beschuldigung und Geschwätz und Verleumdung und Infamie gebracht worden … Wir hatten, wie unsere Eltern, unseren Selbstmord gewünscht und ihn untereinander abgesprochen … und am Dritten von einer Verschiebung, wie wir sie im Laufe des Winters öfter im letzten Augenblick und jedesmal wieder durch Einwände unserer Mutter zu akzeptieren gezwungen waren, überhaupt nichts mehr wissen wollen …

Hinter unseren Eltern zurückgeblieben, von ihnen allein gelassen, lagen wir, Walter und ich, in den uns von allen Seiten nur in Bruchstücken schamvoll beschriebenen, dadurch so dunkel gebliebenen Tagen kurz auf die Selbstmordnacht, schon von den ersten Augenblicken im Turm an, die ganze Zeit auf den wohl für uns in aller Eile frisch überzogenen Strohsäcken auf dem mittleren Boden des Turms, zuerst besinnungslos, späterhin schweigend und horchend und danach, oft den Atem anhaltend, vom Ende der ersten Woche an, immer nur auf und ab gehend, mit nichts als mit unserer völlig verfinsterten, hintergangenen noch nicht zwanzigjährigen jungen Natur beschäftigt … Der Turm war uns aus der Kindheit wie kein andres Tiroler Gebäude vertraut, kein Kerker … auf der oberen wie auf der unteren Treppe gehorchten wir ständig, tappend und frierend, in unseren aus den Himmelsrichtungen bodenlos impulsiv zerstörten Gedanken, unserem heillosen, wenn auch höhern Geschwisterstumpfsinn … Unsere Wachsamkeit drückte auf unser Gemüt und beschränkte unseren Verstand … Wir schauten nicht aus den Fenstern hinaus, wir hörten aber genug Geräusche, um Angst zu haben … Unsere Köpfe waren, streckten wir sie ins Freie, der Bösartigkeit der Föhnstürme ausgesetzt; in den Luftmassen konnten wir kaum mehr atmen … Es war Anfang März … Wir hörten viele Vögel und wußten nicht, was für Vögel … Das Sillwasser stürzte vor uns in die Tiefe und trennte uns lärmend von Innsbruck, der Vaterstadt, und dadurch von der uns so unerträglich gewordenen Welt … In den von unserem Onkel, noch während wir ohnmächtig, wahrscheinlich vollkommen weg und besinnungslos – tödlich gewesen waren, mit großem Bedacht ausgewählten, aus der Herrengasse nach Amras heraufgeschafften, uns beiden gehörenden Büchern und Schriften, meinen, Walter unverständlichen naturwissenschaftlichen, Walters mir unverständlichen musikalischen, blätternd, über die eigene und über die fremde, die allgemeine, uns wahnsinnig machende große Geschichte, sinnierend, über die Millionen von Schneestürmen von Entwicklungen – schon immer liebten wir, was uns schwer-, verabscheuten wir, was uns leichtfiel – immer tiefer in unsere tobenden Köpfe zurückgezogen, stopften wir unseren Turm mit Trauer aus.

Einen Brief des Meraner Psychiaters Hollhof, eines Freundes unseres Vaters, den wir schon drei Tage, nachdem wir im Turm gewesen waren, erhalten hatten, beantworteten wir wie folgt:

Geehrter Herr,

der Zeitpunkt, in welchem wir Ihnen etwas über die Umstände, die zum Tode unserer Eltern geführt haben, mitteilen können, wie Sie uns auffordern, Ihnen eine Beschreibung vor allem der Zeit zwischen dem Entschluß unserer Eltern (und uns) zum Selbstmord und der Ausführung ihres Selbstmords, was uns betrifft, über unsere ›Einübung in den Selbstmord‹, zu geben, ist noch nicht gekommen; wir wünschen im Augenblick nichts, als in Ruhe gelassen zu sein.

Für Ihre Anteilnahme unseren Dank.

K. M. W. M.

Einen zweiten Antwortbrief schickten wir am gleichen Tag noch nach Kufstein:

Sehr geehrte gnädige Frau, sämtliche Ansprüche Ihrerseits, die Geschäfte unseres Vaters betreffend, sind an unseren Onkel, den Bruder unserer Mutter, der Ihnen bekannt ist, zu stellen.

Hochachtungsvoll

K. M. W. M.

Ermuntert nur durch die Aufmerksamkeit unseres Onkels, der uns wöchentlich zweimal, jeden Dienstag und Samstag – öfter, an anderen Tagen, erlaubte es seine Wirtschaft nicht – aufsuchte, immer in guter Laune, schien uns, immer mit Zeitungen, Nachrichten, Neuigkeiten, die uns aber doch nur erschütterten, existierten wir plötzlich, allein auf unsere fürchterlichen, von jeher verletzten, wachsamen, ausdauerarmen Charaktere angewiesen, in einer sich immer mehr gegen uns verschwörenden, selbst unsere Geh- und Sitz- und Liege- und Stehfähigkeit, naturgemäß unsere Denk- wie auch Sprechfähigkeit, unsere allgemeine Vernunftfähigkeit irritierenden Finsternis des für uns nicht jahrhunderte-, sondern jahrtausendealten Turms.

Auch in ihm empfing Walter, wie schon sein ganzes Leben lang, regelmäßig die für ihn wichtigen, teuren Besuche des Internisten, eines in ganz Tirol berühmten und berüchtigten Epileptikerarztes, eines brutalen, übergesunden vierzigjährigen Mannes, der, wohl medizinisch durch frühen Eifer und spätere Schläue wie niemand gebildet, uns immer verhaßt gewesen, auch schon unsere Mutter behandelt hatte … Nachdem wir im Turm soviel wie ganz aus der Welt und von unseren Eltern und ihrer behutsamen Wirksamkeit plötzlich verlassen waren, hatte sich, wie in Schüben und Stufen durchschaubar, Walters Krankheit, eine ihn von Geburt an immer nur noch verdrießende, anfänglich nur sein Gemüt, aber später auch seinen Verstand immer gründlicher untergrabende, gegen ihn, wie es schien, mit logischer Grausamkeit heimtückisch wie auch offen vorgehende, noch heute vollkommen unerforschte, mit großer Geschwindigkeit periodisch gewaltsam verschlimmert und in der Folge auch unser gegenseitiges, auf geschwisterliches Zutrauen wie auf geschwisterliche Übervorsicht gegründetes Verhältnis zueinander bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten verschärft … Wir mußten aber zusammenhalten, und so ertrugen wir uns …

Wir hatten beide sofort nach dem Ende unserer von den Tabletten hervorgerufenen und von zwei Innsbrucker praktischen Ärzten mit, wie sich denken läßt, großer Feierlichkeit entgifteten Ohnmacht, in der Gewißheit, wieder und gegen unseren Willen, also um so entsetzlicher existieren zu müssen, befürchtet, daß die Anfälle Walters, ihm angeborene, von der Mutterseite ererbte, von seiner Exostose begünstigte, ihn von Zeit zu Zeit blitzartig mißbrauchende, in den letzten Monaten ganz zum Stillstand gekommene, jetzt im Turm, unter dem Überdruck des uns Zugestoßenen, wieder auftreten könnten … und tatsächlich traten sie (die infolge seiner wissenschaftlichen Daueranstrengung von ihm hinausgeschobenen) schon nach den ersten Schritten im Turm wieder auf … Mein Bruder war, ein Jahr jünger, viel feiner als ich konstruiert, einem eher phantastischen Nervensystem unterworfen, seine Konstitution immer eine automatisch geschwächtere gewesen … sein ganzes Leben lang hatte er vor den Anfällen seiner Mutter Angst gehabt, diese Angst hatte er sich im Turm vergrößert … nachdem er tagelang neben mir, immer schweigend und wie ich nahrungslos, auf sich selbst geschaut hatte, war, als er plötzlich, aufstehend, mich zu Hilfe nehmend, zum Fenster wollte, wenn auch anfangs nur kurz, als eine sogenannte Momentaphasie ohne geringste Bewußtlosigkeit, die Epilepsie wieder über ihn hergefallen … In der Finsternis hatte ich, der Vehemenz der Erkrankung gehorchend, nicht gesehen, wie sein Gesicht, wie seine Augen vor allem sich durch die Erkrankung verändert hatten, doch an dem Handgelenk, an dem ich ihn festhielt, ihn führend, hatte ich, während er stürzte, seinen Zustand gefühlt … Wir befürchteten eine katastrophale Verschlimmerung seiner Epilepsie … Wir hatten unser ganzes an unsere Eltern wie an zwei Pfähle gebundenes Leben in ständiger Angst vor der uns immer unheimlichen, auch an unserer Mutter unheimlichen ›Tiroler Epilepsie‹ verbringen müssen … diese Krankheit hatte uns alle, von einem gar nicht mehr eruierbaren Zeitpunkt an, zerstört, diese nur in Tirol bekannte Epilepsie … Unsere Mutter war merkwürdig spät, in ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr, kurz vor Walters Geburt, plötzlich von ihr befallen worden, von einem Augenblick auf den andern,...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Schlagworte Adolf-Grimme-Preis 1972 • Belletristische Darstellung • Bruder • Familienkonflikt • Franz Theodor Csokor-Preis 1972 • Georg-Büchner-Preis 1970 • Grillparzer-Preis 1972 • Mitteleuropa • Österreich • Prix Medicis 1988
ISBN-10 3-518-73675-2 / 3518736752
ISBN-13 978-3-518-73675-3 / 9783518736753
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