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Birnbäume blühen weiß (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2010 | 1. Auflage
141 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73100-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Birnbäume blühen weiß - Gerbrand Bakker
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
(CHF 8,75)
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»Birnbäume blühen weiß, nicht rosa«, behauptet Gerson. Sein Vater widerspricht, die älteren Brüder, die Zwillinge Klaas und Kees, flachsen, die Stimmung im Auto ist gut. Bis an der nächsten Kreuzung der Unfall passiert. Als Gerson aus dem Koma aufwacht, spielen Farben für ihn keine Rolle mehr. Er hat sein Augenlicht verloren, und nichts ist mehr, wie es war. Gerbrand Bakker, dessen grandioser Roman Oben ist es still (2008) mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, erzählt in Birnbäume blühen weiß die ungewöhnliche und berührende Familiengeschichte dreier Brüder - »eine literarische Entdeckung« (Süddeutsche Zeitung).

Gerbrand Bakker, 1962 in Wieringerwaard geboren, ist Autor und Gärtner, hin und wieder auch Eisschnelllauftrainer. Für seine Romane, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, hat er zahlreiche Preise erhalten. Bakker lebt in Amsterdam und in der Eifel.

Ferien


Unser Vater hatte ein sehr altes, sehr kleines Auto. Früher hatten wir mal zwei Autos, das sehr alte, sehr kleine und ein großes glänzendes. Unsere Mutter war eines Tages in dem großen glänzenden weggefahren, und wir hatten beide nie wiedergesehen.

»Sie ist im Ausland«, sagte unser Vater, der Gerard heißt. »Bei einem anderen Mann. Einem ausländischen Mann.« Wir waren alt genug, unseren Mund zu halten, aber Gerson, der dafür noch nicht alt genug war, fragte: »Warum?«

Wir bekamen fünf Karten pro Jahr von ihr. Zu unseren Geburtstagen und zu Neujahr. Viel stand nicht darauf. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! oder Alles Gute im neuen Jahr! Wir schickten ihr nie eine Karte zurück, weil wir nicht wussten, wohin wir sie schicken sollten. »Warum wissen wir das nicht?«, wollte Gerson wissen. Gerard antwortete, dass sie uns ihre neue Adresse nie geschrieben hatte. Auf der ersten Karte und auf allen folgenden klebte eine italienische Briefmarke. Ausland war Italien, und ausländischer Mann war Italiener. Gerard hatte abendelang durch eine Lupe auf den Poststempel gestarrt, aber er konnte nicht lesen, was dort stand. Später hatte er es noch ein paarmal versucht, und letztendlich hatte er es aufgegeben. »Sie macht es absichtlich«, sagte er, »es ist wirklich jedes Mal unlesbar.«

Während Gerard so lange starrte, bis ihm die Tränen kamen, saßen wir zu dritt über die Italienkarte im Atlas gebeugt. Kees zeigte auf Städte und Dörfer, und wenn sie nicht zu schwierig waren, las Gerson ihre Namen laut vor. »Ist sie da?«, fragte er bei Mailand. »Wohnt sie vielleicht in Rom?«, fragte er bei Rom. »Ist sie denn hier?«, fragte er bei Neapel. Kees’ Zeigefinger bewegte sich immer weiter gen Süden, und Klaas sagte immer wieder: »Das wissen wir nicht, Gerson.«

»Aber sie muss doch irgendwo sein. Wo ist sie denn? Warum schreibt sie uns das nicht? Ist Italien ein schönes Land? Was sprechen die Leute da? Ist Mama zu Besuch bei jemandem? Wann kommt sie wieder?« Die Fragen hörten nur auf, wenn der Atlas zugeklappt wurde.



Unser Hund heißt Daan. Er ist ein rauhaariger Jack-Russel-Terrier. Gerard hatte ihn gekauft. »Der passt gut hierher, so ein kluger kleiner Hund auf dem Hof«, sagte er, »vielleicht kann er Maulwürfe fangen.« Daan mochte keine Maulwürfe, und Ratten und Mäuse schon gar nicht. Er hatte Angst vor ihnen. Er hatte auch Angst vor Gräben und der Straße, aber das war praktisch, er würde nicht ertrinken und nicht unters Auto kommen. Daan liebte Mutter und Gerson. Obwohl Gerard ihn ausgewählt und gekauft hatte, mochte Daan ihn nicht besonders, und uns benutzte er auch nur dazu, sich Stöcke und Tennisbälle durch den Garten werfen zu lassen. Es ist seltsam, warum so ein Hund aus unerklärlichen Gründen an bestimmten Menschen hängt. Meistens an einem einzigen Menschen, aber Daan hing an Mutter und an Gerson.

Er hat monatelang, vor allem gegen Abend, leise jaulend vor der Hintertür gesessen. Gerard und wir konnten nichts daran ändern, nur von Gerson ließ er sich trösten. Der setzte sich dann auf den Fußboden, den Rücken gegen die Waschmaschine gelehnt, und fing an, mit Daan zu reden. Ellenlange Geschichten erzählte er ihm, über alles Mögliche. Es war egal, was er sagte, es ging um den Ton seiner Stimme. Er streichelte Daan nicht und flüsterte ihm keine Koseworte ins Ohr, sondern redete so lange auf ihn ein, bis Daan ihm gegen die Brust sprang und ihm das Gesicht ableckte und wild mit seinem kurzen Schwanz wackelte, was lächerlich aussah, weil Jack-Russel-Terrier fast keinen Schwanz haben. Eines Tages ging Gerson nicht in die Waschküche, als wir Daan vom Wohnzimmer aus leise winseln hörten. »Gerson, tu endlich was an dem Hund«, sagte Gerard, den das Gewinsel so nervös machte, dass er sich nicht mehr auf das Fernsehprogramm konzentrieren konnte.

»Nein«, sagte Gerson. »Er muss etwas tun.«

Eine Weile später rannte Daan ins Zimmer. Er rutschte auf dem Parkett aus und schlitterte ein Stückchen weiter. Schließlich bekam er seine Pfoten auf dem Teppich wieder in den Griff, machte einen Riesensprung und landete auf Gersons Schoß. Dort drehte er sich ein paarmal um sich selbst, bellte einmal kräftig und legte sich danach ruhig hin. »So«, sagte Gerson, »jetzt ist er fertig mit dem Trauern. Er hat es vergessen. Jetzt weiß er, dass Mama nie mehr wiederkommt.«

Gerard schaute sehr seltsam drein, als Gerson das sagte.



»Vier Männer in einer alten Klapperkiste.« Das sagte Gerard immer, wenn wir zu viert im Auto irgendwohin fuhren. Wir mussten dann an spannende, altmodische Abenteuerbücher für Jungen denken. In Gerards Zimmer lagen stapelweise Abenteuerbücher. Er hatte sie von seinem Vater bekommen, unserem Opa. Wir durften sie zwar lesen, aber wenn wir ein Buch aushatten, mussten wir es sofort wieder in sein Zimmer legen. An Freunde ausleihen, danach durften wir nicht mal fragen. »Es sind Erbstücke«, sagte Gerard, »damit muss man sorgfältig umgehen.« Wir hatten ihn im Verdacht, dass er die Bücher selbst auch noch las, vor allem, nachdem Mutter verschwunden war.

Das Auto war alt und klein, aber gut in Schuss. Es war hellblau oder hellgrün, darüber gingen die Meinungen auseinander. Vielleicht sind alle Männer farbenblind. Gerard und Kees sagten, dass das Auto blau sei, Klaas und Gerson hielten es für grün. Weil wir nicht derselben Meinung waren, hatten wir uns auf einen Kompromiss geeinigt. Einen Kompromiss, den Gerson vor Jahren benannt hatte. In der Zeit, als er schon ziemlich gut sprechen konnte, kurz nachdem wir ihn zum ersten Mal bei unserem Spiel hatten mitmachen lassen, ging Gerard mit ihm über den Hof und durch den Garten.

»Welche Farbe haben die Blätter?«, fragte Gerard.

»Grün«, sagte Gerson, ohne zu zögern.

»Und die Regentonne?«

»Schwarz.«

»Nein.«

»Braun?«

»Das ist besser.«

»Schwarz ist, wenn wir bei der Buche sind«, sagte Gerson.

»Genau«, sagte Gerard. »Und der Himmel über dir?«

»Blau.« Gerson drehte den Kopf. »Und ein bisschen weiß«, fügte er hinzu.

Als sie vor dem Auto standen, erschien eine tiefe Falte über Gersons Nase.

»Ja, sag’s nur«, drängte Gerard.

Gerson dachte noch einen Moment nach und sagte dann: »Schnodder.«

»Schnodder?«

Das Auto war schnodderfarben und blieb schnodderfarben.



Oft waren wir übrigens zwei Männer in einer alten Klapperkiste. Oder drei Männer in einer alten Klapperkiste. Gerson und wir hatten unsere Räder. Wenn Gerard einkaufen ging oder Sträucher in der Gärtnerei besorgte, fuhren wir nie alle drei mit, weil die Einkäufe oder die Sträucher sonst nicht ins Auto gepasst hätten. So klein war es.

Gerard reparierte das Auto selbst und wusch und polierte es regelmäßig, wenn er freihatte jedenfalls. Gerard arbeitet bei so einem Betrieb mit drei schwierigen englischen Namen. Weil alles englisch ist, seine Arbeit und sein Chef, wissen wir nicht genau, was er macht. Wir wissen wohl, dass er viel arbeitet, manchmal auch abends oder am Wochenende. Vielleicht ist unsere Mutter darum mit einem anderen Mann weggegangen, weil Gerard so oft nicht zu Hause war.

Wir halfen ihm ab und zu, das Auto zu waschen, aber wir machten immer was falsch oder nicht gut genug. »Die Radkappen gehören auch dazu«, seufzte Gerard. »Und das Nummernschild.« Der Autowaschtag, meistens ein Samstag, war ein vertrauter Tag. Wir waren alle vier draußen, Daan rannte hin und her und drehte seine Runden, die ihn aber nie weiter wegführten als bis zur Straße oder zu den Gräben, die das Haus umgeben. Wir spielten Schwarz, was besonders schwierig war, weil das Auto und Gerard im Weg standen. Mittags aßen wir Pfannkuchen, die wir reihum backten.

Im Winter, wenn wir es draußen zu kalt fanden, saßen wir zu dritt im Wohnzimmer und lasen oder schauten durch das große Fenster nach draußen, wo man Gerard durch die Dampfwolken hindurch kaum erkennen konnte. Er sang immer, wenn er das Auto wusch. Sogar wenn er sich wärmte, indem er die Arme um sich schlug, hörte er nicht auf zu singen, was seltsam klang. Wir wissen nicht, ob es möglich ist, aber wenn es möglich ist, dann liebte Gerard sein schnodderfarbenes kleines Auto. Er wollte, dass auch wir das Auto liebten, darum hatte er immer was zu meckern, wenn wir mit dem Gartenschlauch und dem Staubsauger daran herumwerkelten. Aber wir, und auch Gerson, liebten lieber unsere Mutter. Unsere Mutter, die eines Tages in dem großen glänzenden Auto weggefahren und nie mehr zurückgekommen war.



Trotz seines hektischen Jobs nahm Gerard im Sommer immer zwei oder drei Wochen frei. Wenn wir in Urlaub fuhren, saßen wir zu viert im Auto. Taschen standen zwischen unseren Beinen, Schlafsäcke...

Erscheint lt. Verlag 16.11.2010
Übersetzer Andrea Kluitmann
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Schlagworte Alleinerziehender Vater • Blinde • Blindheit • Bruder • Independent Foreign Fiction Prize 2013 • Jugendbuch • Jugendliteratur • Kinder- • Niederlande • Orden von Oranien-Nassau 2023 • Premi Llibreter 2012 • Sohn • ST 4170 • ST4170 • suhrkamp taschenbuch 4170 • Verkehrsunfall • Westeuropa • Zwilling
ISBN-10 3-518-73100-9 / 3518731009
ISBN-13 978-3-518-73100-0 / 9783518731000
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