Zum Hauptinhalt springen
Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Anna oder: Was von einem Leben bleibt (eBook)

Spiegel-Bestseller
Die Geschichte meiner Urgroßmutter
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
231 Seiten
Verlag C.H. Beck
978-3-406-83627-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anna oder: Was von einem Leben bleibt - Henning Sußebach
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
(CHF 19,50)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
1887, tief im Sauerland. Eine junge Frau kommt den Weg hinauf ins Dorf Cobbenrode. Dort soll Anna Kalthoff die neue Lehrerin werden. Doch sie wird es nicht bleiben. Denn Anna widersetzt sich bald den Erwartungen des Ortes und den Regeln ihrer Zeit. Sie entscheidet selbst, was sie zu tun und zu lassen hat, wie sie leben und wen sie lieben will. Zwei Jahrhunderte später rekonstruiert der Urenkel Annas inspirierendes Leben und rettet so die Geschichte einer selbstbewussten Frau vor dem Vergessen. Sein Buch ist eine zauberhafte Annäherung an die Vorfahren, ohne deren Entscheidungen und Mut es uns nicht gäbe.

Einige Fotos, Poesiealben, Postkarten, ein Kaffeeservice, ein Verlobungsring: Viel mehr stand Henning Sußebach nicht zur Verfügung, als er sich auf die Spuren seiner Urgroßmutter Anna begab. Nach einem Jahr der Suche fügte sich ein Bild: Da hat eine scheinbar gewöhnliche Frau ein außergewöhnliches Leben geführt, gegen allerlei Widerstände. Anna nahm sich, was sie vom Leben wollte. Männer, Arbeit, Freiheit! Diesem Willen hat der Autor seine Existenz zu verdanken. Sein Buch ermuntert uns alle, nach den Annas zu suchen, die es in jeder Familiengeschichte gibt.


Henning Sußebach, Jahrgang 1972, ist Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT. Für seine Reportagen wurde er mit einigen der wichtigsten deutschen Journalistenpreise ausgezeichnet, darunter: der Deutsche Reporterpreis, der Theodor-Wolff-Preis, der Henri-Nannen- Preis und der Egon Erwin Kisch-Preis.

Henning Sußebach, Jahrgang 1972, ist Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT. Für seine Reportagen wurde er mit einigen der wichtigsten deutschen Journalistenpreise ausgezeichnet, darunter: der Deutsche Reporterpreis, der Theodor-Wolff-Preis, der Henri-Nannen-Preis und der Egon-Erwin-Kisch-Preis.

1887, tief im Sauerland, Westfalen. Endlich weicht der Winter, schmilzt der Schnee, kehrt das Licht zurück in die Talgründe. Es muss ein Tag im März sein, vielleicht schon im April, da kommt eine junge Frau eine schottrige Straße hinauf ins Dorf Cobbenrode, durch einen Wald aus alten Eichen und neu gepflanzten Fichten, dem Gurgeln eines Baches entgegen. Um diese Jahreszeit ist der Boden schlammig und schwer, die Straße nicht leicht zu begehen. Hoffentlich hat Anna genug Geld, um einen Platz in der Postkutsche zu bezahlen. Denn es geht stetig bergauf, und nach allem, was bekannt ist, hat die junge Frau viel Gepäck dabei. Anna ist 20 Jahre alt und soll die neue Dorfschullehrerin werden.

Sehen wir sie uns an, auf einem Foto aus jener Zeit: Eine Studioaufnahme, Portrait im Halbprofil. Anna blickt aus dem Bild heraus wie auf ein unsichtbares Ziel. Große, klare Augen. Eher schmale Lippen. Sollte der Fotograf Anna darum gebeten haben, ein wenig zu lächeln, ist ihr das gelungen, mit einem Zug ins Spöttische statt ins Unterwürfige. Ihre dunklen Haare sind mittig gescheitelt, straff nach hinten gekämmt und zu einem Nackenknoten gebunden. Ihre Ohren liegen frei, ihre Stirn, ihr gesamtes Gesicht, was Anna schutzlos wirken lassen könnte, ihr aber eine eher angriffslustige Ausstrahlung verleiht. Kein Schmuck ist zu entdecken, vom aufwendig genähten Kleid einmal abgesehen. Von einem sittsam hochgeschlossenen Kragen aus fällt es über breit ausstaffierte Schultern wie ein Wasserfall in Kaskaden an Annas Oberkörper herab, grob gewebter Stoff, gewellt, gerafft, mit Zackenlitzen verziert, äußerst kleinteilig gestaltet. Vermutlich hat Anna für den Besuch beim Fotografen ihr bestes Kleidungsstück ausgewählt – in seiner Opulenz steht es in scharfem Kontrast zu ihrem aufgeräumten Gesicht. Etwa ab Brusthöhe, am unteren Bildrand, verblasst das Kleid im Weichzeichner, in der Unschärfe ist eine eng geschnürte Taille zu erahnen, deren Anblick noch mir den Atem nimmt.

Das Foto ist zu einem Zeitpunkt entstanden, der näher an der Französischen Revolution liegt als am Jetzt. Nur vier Generationen rückwärts durch die Geschichte, und man findet sich inmitten von Schulstoffvergangenheit wieder. Als Anna zum Fotografen geht, ist der Revolutionsrausch allerdings wieder verflogen, auch in der Mode ist eine kurze Phase der Freiheit vorbei, des Klassizismus, der fließenden Kleider nach antikem Vorbild. Alles strafft sich wieder, Hierarchien, Normen, Kleidung. Frauen zurren sich in Form.

Die Aufmachung lässt Anna aus heutiger Sicht älter erscheinen, als sie damals ist. Wieviel jünger sie wirken würde, wenn sie einen hellen Kapuzenpullover trüge! Schaut da nicht ein Teenager aus dem Bild?

Schwarzweiß versteift, scheint Anna gängigen Attributen wie «jung» oder «alt», «sympathisch» oder «unsympathisch» und «schön» oder «unattraktiv» weitgehend enthoben. Auch das Rätsel, ob das Portrait eher Annas Wesen widerspiegelt oder die Bildsprache des Fotografen, ist nicht mehr zu lösen. Die Kameralinse muss etwas unterhalb ihrer Augen platziert gewesen sein, was uns zu ihr aufblicken lässt und ihr etwas Energisches verleiht. Ich will glauben, dass diese Inszenierung etwas Vorhandenes verstärkt.

Sicher steigt Anna in Cobbenrode nicht in diesem Kleid und auch nicht mit ihrem spöttischen Lächeln aus der Kutsche, falls sie sich die Kutschfahrt überhaupt leisten konnte. Aber meiner Phantasie steht nur diese eine, aus dem einzigen verbliebenen Jugendbild zum Leben erweckte Figur zur Verfügung. Die Vorstellung, die wir von vergangenen Generationen haben, ist immer abhängig von den Speichermedien, die ihnen zur Verfügung standen. Anna gehört zu den ersten Menschen, deren Dasein auf Fotografien konserviert wurde. Aber ich habe keine Augenfarbe für sie, keine Bewegung, keinen Ton.

Im Dorf angekommen, werden die schwitzenden, keuchenden Kutschpferde vor dem Gasthof zur Post abgespannt. Schon auf den ersten Blick hebt sich das Haus von der Umgebung ab. Aus dunklem Backstein gemauert, überragt es wie ein dunkler Klotz die Fachwerkhöfe ringsum. Im Giebel, hoch über einer doppelflügeligen Pforte, prangt in fast mannshohen Ziffern die Zahl 1885. Ein neuer, stolzer Bau.

Das Dorf, die Kulisse, die Anna betritt: In einer Festschrift ist von 83 Häusern und 507 Einwohnern die Rede. Ein Straßenplan stiftet eher Verwirrung, da ist kein Kern, kein Ring, kein Wall, keine leicht zu lesende Struktur. Nicht menschliche Logik hat den Ort geformt, die Topografie hat Cobbenrode in ein Tal gezwängt. Im dunklen Grund liegt das Unterdorf, die ältesten und kleinsten Häuser, am Bach die Mühle, daneben das Backhaus der Gemeinde. Dachfirste in verschachtelten Winkeln und ohne erkennbaren Bezug zueinander. Jedes Haus dort gebaut, wo das Gelände es zuließ, dazwischen Treppen, Stiegen und Hohlwege, deren Gefälle der zweidimensionale Ortsplan verschweigt.

Oberhalb des Tales, an einem Hang zur Sonne hin, das Oberdorf. Neuere, größere Höfe entlang einer Hauptstraße. Der Kutschhalt, die Kirche, das Pfarrhaus, die Schule. Das muss Annas Weg sein, vorbei an Scheunen, Zäunen und Gärten, in denen kein Zentimeter Boden ungenutzt bleibt. Die Grundstücke sind von Obstbäumen bestanden, so früh im Jahr noch schwarze Skelette. Die Erde liegt offen, nichts ist Zierde, alles ist Beet. Ins Gebälk der Häuser sind Inschriften gemeißelt, sie preisen Gott und sind Ausdruck uralten Schutzverlangens. Behüte! Bewahre! Begleite! Immer wieder verzehren Feuer Existenzen. Wer kann, deckt sein Dach mit Schiefer statt Stroh. Wer nicht kann, läuft Gefahr, durch eine vergessene Kerze oder einen einzigen Funken zum Habenichts zu werden.

Der Schmied Liese schürt die Glut.

Der Stellmacher Struwe biegt Holz zu Wagenrädern.

Der Müller Willmes mahlt das Korn zu Mehl.

In meiner Vorstellung läuft Anna an lauter gebeugten Männern vorbei, ist die Vergangenheit von graubärtigen Greisen bevölkert, dabei können der Schmied Liese, der Stellmacher Struwe und der Müller Willmes so alt nicht sein. Zu ihrer Zeit beträgt die Lebenserwartung etwa 45 Jahre. Das junge Deutsche Reich hat knapp 48 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung sind älter als sechzig.

Anna wird aus Türen und Fenstern energische Stimmen hören. Aus den Schornsteinen steigen Rauchfahnen auf. Wahrscheinlich riecht es aus vielen Häusern nach Kohlsuppe. Schwalben schießen aus Dachluken. Hunde springen an den Zäunen hoch. Aus den Ställen dringt das Grunzen von Schweinen. Vielleicht ist es um die Jahreszeit schon warm genug, dass sich bekittelte Frauen durch die Beete buckeln, um altes Laub wegzurechen und Zwiebeln zu setzen. Dann zögen auch die Männer los auf die Äcker, einen schnaufenden Ochsen unter ein hölzernes Joch geschirrt.

Überall im Ort müssen Kinder sein und die unbekannte Frau beäugen, die selbst noch so jung ist. Nach geltendem Recht ist Anna nicht einmal volljährig.

Deutsches Reichsgesetzblatt, Band 1875, Nummer 8, Seite 71:

«Gesetz, betreffend das Alter der Großjährigkeit

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen im Namen des Deutschen Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Reichstags, was folgt:

§ 1 Das Alter der Großjährigkeit beginnt im ganzen Umfange des Deutschen Reichs mit dem vollendeten einundzwanzigsten Lebensjahre.»

Damit ist Anna eine rechtlose Autorität – Lehrerin, aber als juristische Person nicht erwachsen. Mir scheint, dass ihre Situation sogar der eines Schulkindes ähnelt, das nach einem Umzug in eine fremde Klasse versetzt wird und nicht viel mehr weiß, als dass es sich fortan in diesem Gefüge zurechtfinden muss. Anna ahnt, dass das Dorf ihr seine Geschichte einschreiben wird und sie dem Dorf vielleicht ihre. Sie kann davon ausgehen, dass sich Freundschaften und Feindschaften bilden, Allianzen und Abneigungen wachsen werden. Doch wer dabei welche Rolle spielen könnte, kann sie aus den neuen Gesichtern um sie herum noch nicht ablesen.

Hat Anna bei ihrer Ankunft den schönen Sohn der Postfamilie bemerkt, vor deren Haus die Kutsche hält?

Ist ihr oben am Hang der entlegene Hof aufgefallen, den sich eine Familie dort bauen musste aus dem wenigen, das übrigblieb, nachdem ein Brand ihr Haus im Ortskern verwüstet hatte?

Schätzt sie die Kinder in...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2025
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Beruf / Finanzen / Recht / Wirtschaft Geld / Bank / Börse
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte 19. Jahrhundert • Ahnenforschung • Alltagsgeschichte • Anna • Arbeitswelt • Biografie • Erinnerung • Familiengeschichte • Frauen • Frauenschicksal • Genealogie • Generationenporträt • Geschichte von unten • Leben • Lebensmut • Lebensspuren • Oder • Selbstbehauptung • Urgroßmutter • Vergangenheitsforschung • Vergessene Lebensläufe
ISBN-10 3-406-83627-5 / 3406836275
ISBN-13 978-3-406-83627-5 / 9783406836275
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Revolution des Gemeinen Mannes

von Peter Blickle

eBook Download (2024)
C.H.Beck (Verlag)
CHF 9,75