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Zeitströme. Über Flüsse und Menschen (eBook)

Mitreißend und sprachgewaltig: Eine Philosophie des Fließenden ǀ Nature Writing ǀ Für Leserinnen und Leser von Robert Macfarlane und Esther Kinsky

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
416 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
9783749908189 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeitströme. Über Flüsse und Menschen - Carsten Kluth
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»Im Fluss ist etwas Unfassbares.« - Wie Flüsse uns Menschen bewegen
Es begann mit einem Plan. Sich auf den Weg zu machen, berühmte Flüsse abzuwandern: die Geschichten aufzuschreiben, die Flüsse uns Menschen seit Urzeiten erzählen. Doch bei seinen Recherchen und Wanderungen stellt Carsten Kluth fest, dass diese Flüsse ihm Fragen eröffnen, die viel tiefer reichen als gedacht: Wie haben Flüsse uns Menschen geformt? Was ist ein Fluss, was treibt ihn an? Und wenn er doch flüssig ist, wie können wir ihn dann überhaupt begreifen?

Kluth betritt jene Schwellen und Zwischenräume, in denen sich Beobachter und Beobachtetes nicht mehr so leicht trennen lassen, in denen die Grenzen der Identität, zwischen Realität und Fiktion langsam verschwimmen. Im mitreißenden Strom zwischen Autofiktion, Geschichte und Naturbeobachtung erzählt er davon, was es heißt, als Mensch wahrhaft im Fluss zu sein - und warum unser Leben dem Fluss gerade im Tod so nahe ist.



<p>CARSTEN KLUTH pendelt zwischen Kreuzberg 61 und dem ostholsteinischen Land. Dort erkundet er neben seiner Bibliothek auch das umliegende Gelände, den wild wuchernden Garten, die Wälder und die Flüsse. Mit seinem Buch »12 Farben Grün« wurde er zum ersten Nature-Writing-Seminar des Literhauses München eingeladen. Zudem war er Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB). Er ist Mitglied des Kunstkollektivs »Wilde Kehlen« zur literarisch-musikalischen Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen mit regelmäßigen Life-Performances auf dem holsteinischen Land, in Hamburg, Lübeck und Berlin.</p>

Theia


Zwischen den spiegelnden Sommern der Jahre 1997 und 1998 übernachtete ich an den Wochenenden, die ich in New York City verbrachte, oft in einem Hostel in Harlem in der 123. Straße, Ecke Malcolm X Avenue. Dort lernte ich Mischa kennen, der nach kurzem Kennenlernen und den ersten Geschichten, die er erzählte, auf mich den Eindruck von Schwemmgut machte. Er war wie eines jener glattgeschliffenen, von der Sonne gebleichten Hölzer, die nach Hochwasser an den Ufern der Gewässer zurückbleiben. Heute kann ich mich an sein Aussehen nicht mehr erinnern, dabei habe ich in dieser Hinsicht ein gutes Gedächtnis. Namen entfallen mir, der Klang einer Stimme, Ort und Zeit einer Gelegenheit, der bestimmte Geruch eines Körpers, all das mischt sich mit den anderen Erinnerungen, aber ein Gesicht, der Schwung einer Augenbraue, die Form eines Nasenflügels, die Farbe der Augen – das vergesse ich normalerweise nicht. Bei ihm schon. Mischa stammte aus Leipzig und war mit seiner Freundin als Teil des gewaltig anschwellenden Stromes der Menschen, die man damals Ausreisewillige nannte, über Prag und die DDR nach Westdeutschland gekommen, wo die Ankömmlinge schnell eingesickert waren, sich lokal verteilt und etabliert hatten, bis auf jene wie eben Mischa, der nicht aufhören konnte, sich weitertreiben ließ und damals, Mitte der 1990er-Jahre, zwischen Malcolm X Boulevard und Midtown hin- und herschwappte. Durch Mischa hörte ich zum ersten Mal von Theia, aber vielleicht auch nicht, denn als ich viel später nachforschte, fand ich heraus, dass seine Outer-Space-Theorien von der Herkunft des Wassers durch den Einschlag eines riesigen Chondrits erst lange nach unserem Kennenlernen aufkamen. Mischa ist mir seit unseren gemeinsamen New Yorker Wochenenden wie ein einleuchtendes Prinzip, das Prinzip des Fließens, das nach der Vorstellung des Thales der Quell allen Lebens ist. Dass alles, was ist, ein und denselben Ursprung hat, das Feuchte, das Wasser, das Fließen, das Göttergewimmel.

Damals: Die Flüsse waren vor den Meeren, sagt Mischa (im New York von 1998). Wir trinken in einem Russencafé in Little Odessa, vor uns der Atlantik, umgeben von Männern in ballonseidenen Trainingsanzügen. Über uns ein weiter Himmel, der von hier bis nach Europa reicht, sich vor allem aber über Wasser erstreckt. Die Erde hat einen falschen Namen, sie müsste eigentlich »Wasser« heißen. Alles hängt vom Wasser ab, und seine Daseinsform ist das Fließen. Und doch war die Erde einmal wirklich nur Erde, besaß kaum Wasser. Vor den Flüssen war Theia, ein marsgroßer Asteroid aus Eis, der aus dem äußeren Asteroidengürtel das Wasser der Flüsse brachte, sagt Mischa, als wir über die Brooklyn Bridge schlendern. Mischa weiß solche Sachen aus der Galerie in Central Park West, in der er als Mädchen für alles arbeitet, die Klospülung betätigt, nachdem sein Chef scheißen war, ihm dafür das gerade in den amerikanischen Markt eingeführte Viagra stiehlt, hier eine Tablette, da eine Tablette.

Die Astronomen streiten sich darüber noch, einige meinen, bei einem solch gewaltigen Zusammenprall müsse alles Wasser verdampft sein, andere glauben das nicht, und überhaupt müsse »Wasser« ja nicht nur in flüssiger Form oder als Eis oder Dampf vorliegen. Anhand der in Erde und Mond vorhandenen Isotope ist die Herkunft des Materials von weit her wohl wahrscheinlich. Transneptunisch, 4,4 Milliarden Jahre alt, marsgroß, das sind die Hausnummern, die aufgerufen werden. Die Gesamtheit der Erde besteht also aus trockener Materie aus dem Innern des sich bildenden Sonnensystems und aus wasserhaltigen Körpern – was man so alles unter Wasser eben verstehen kann –, die sich vom Rand der sich immer weiter verdichtenden Materiewolke zum Zentrum bewegten. Dass ich in diesem Moment, da ich diese Zeilen schreibe, einen Kaffee trinke, dass dessen Flüssigkeit sich mit der Flüssigkeit meines Körpers vermengt, dass mein Körper andauernd Flüssigkeit absondert, jeden Tag literweise, all das ist das Ergebnis des Fluges eines riesigen Eisklotzes – was immer man auch unter Eis verstehen mag. Der Wasserkreislauf – Ergebnis eines unwahrscheinlichen Zufalls. Der Kreislauf allen Fließens – Ergebnis eines zufälligen Impulses, sagt Mischa und deutet auf den träge auflandenden Atlantik. Wie wahrscheinlich ist es, dass gerade diese zwei Himmelskörper in diesem Moment die identischen Koordinaten durchlaufen? Zwei Objekte, die ineinanderkrachen, und dass aus dieser Kollision etwas entsteht, auf dem alles beruht: die Tatsache des Fließens.

Mischa zwinkert mir zu. Die Luft ist gesättigt mit Zuversicht. Der Himmel spannt sich über den Westen, festgemacht an seinen höchsten beiden Punkten, an den hundertzehnten Stockwerken des World Trade Centers. Unter diesem Himmel beten wir das Fließen an, nicht wahr, sagt er, es ist überall. Wasser, Energie, Reisen, Handel, Metaphern. Nicht wahr?

Viel später erst konnte ich die Vibration wahrnehmen, die Aussetzer. Die Fremdheit. Dass die Erde ein Planet der Flüsse ist, heißt nicht, dass es immer so war. Dass es so bleiben muss. Die Erde selbst ist fest. Fließt nicht.

Nur wenige Querstraßen landeinwärts sind sämtliche Läden, Restaurants, die Plakate, Flugblätter, die Namen der Friseursalons in kyrillischer Schrift geschrieben. Über den East River und nach Brooklyn, durch Viertel, in denen Spanisch, Viertel, in denen Jiddisch, Arabisch, Polnisch gesprochen wird. Von einem Zapiekanka-Büdchen aus sehe ich den Mond über dem World Trade Center aufgehen. Wahrscheinlich würde man, suchte man nur sorgfältig genug, in jedem Haus Brooklyns kleine Puppenhäuser finden, in denen wiederum Zimmer sind, die ihrerseits ein kleines Häuschen enthalten, mit vielen Zimmern, von denen jedes einzelne wieder ein Häuschen enthält. So unterschiedlich die Zimmer auch sind, so unterschiedlich die Sprachen, Gesten, der Habitus der Menschen, so eindeutig zusammengehörig und gleichzeitig nicht greifbar. So fremdvertraut wie der unscheinbare Schuppen in Little Odessa, zu dem Mischa uns führt, in dem es nach Schweiß, Fett und frischen Birkenblättern riecht, mit denen massige Männer sich gegenseitig auf die Rücken schlagen. Der Eindruck ist so fremd, die Atmosphäre so angereichert und im Übergang zu etwas Neuem, dass ich förmlich spüre, wie sich Zuschreibungen lösen. Und etwas Neues ins Blickfeld gerät.

Mischa ist ein Trickster, ein auf den Hund gekommener Loki. Über Theia geht es nur kurz, mit einem prüfenden Blick, ob ich anbeiße. Da es mehr als zwanzig Jahre dauern soll, bis ich’s tue, lässt er den Haken los, füttert nicht, lockt nicht, erzählt nicht weiter. Wie so oft zeigt sich die Chance erst, wenn sie vorbei ist. Heute denke ich, dass ich neben einem der Götter saß, im Russencafé in Little Odessa, die mit dem Wasser zur Erde kamen. Eng zusammengedrängt ritten sie zur Erde, zwangen einem trockenen Klumpen Materie ihren Willen auf, und ihr Wille war: Transit, Veränderung, Fluss. Die Erde steckt uns in den Knochen, die Erde ist ein faschistischer Ekel, unkreativ bis zum Anschlag, zufrieden damit, bewusstlos, trocken und immer verschmäht, um die Sonne zu treiben. Die Schwierigkeiten und die Schönheit, Streit und Liebe und ewige Verwandlung kamen aus der tiefen, extraterrestrischen Nacht, dort, wo sich die Flussgötter zwar hatten sammeln können, wo es aber zu kalt war für ihr Fließen.

Das Drängen der Wassergottheiten im Dämmerlicht des mittleren, des äußeren Sonnensystems. Ein Fehler oder Voraussicht, wahrscheinlich aber einfach Zufall hat sie hierher verschlagen, ihrem Begehren so weit entfernt, der Götter Wasser über der Götter Land fließen zu lassen.

Von Theia aus gesehen war die Erde nicht zu erkennen, nicht mit bloßem menschlichen Auge. Ich stelle mir vor, sagt Mischa, dass es dort im Inneren des Planetoiden keine Vorstellung gab von der Erde. Dass es dort keine Idee der Erde gab. Theia und die Erde, eine unwahrscheinlichere Kombination kaum vorstellbar, sagt Mischa ein anderes Mal, als wir auf dem Broadway von ganz unten in Bowling Green in zwei Tagen bis nördlich von Sleepy Hollow wanderten, wo er sich in die Albany Post Road verwandelt. Um uns herum entrollt sich die Stadt in Rechtecken, durch die der eine Weg sich schräg stellt. Widerstreitende Prinzipien. Kurz vor der Columbia-Universität essen wir einen Hotdog.

Mischa traf ich häufig am Nachmittag. Sein Gebiss bröckelte, er war bei den Vernissagen nicht vorzeigbar und hatte deshalb um diese Zeit meistens frei. Selten besuchte er mich in meiner Unterkunft in Harlem, meistens trafen wir uns in einer von ihm ausgesuchten Kneipe oder in einem Restaurant, öfter im Alphabetvillage oder in Hell’s Kitchen. Wir aßen Caesar Salad und tranken Bier. Mischa zeigte mir Queens, ich kam mit ihm durch Yonkers, vor allem aber liefen wir die Straßen von Brooklyn ab. Einmal, mitten im polnischen Viertel, stoppte er, fasste mich an der Schulter und deutete in eine Straße, die nach Westen verlief, durch die der Blick frei glitt, über den East River, nach Manhattan. Und Mischa hob an zu sprechen: »Der Himmel fließt in steinernen Kanälen; / Denn zu Kanälen steilrecht ausgehauen / Sind alle Straßen, voll vom Himmelblauen.« Damals googelte man noch nicht einfach so, man musste an einen Festnetzrechner; so fand ich erst später heraus, dass die Worte von Oskar Loerke waren. Später, viel später erfuhr ich von Emanuele Coccias Theorie der Ozeanischen Atmosphäre. Und noch einmal später hörte ich bei François Jullien von der gewalttätigen Trennung von Theorie und Praxis. Damals, im polnischen Viertel in Brooklyn, war es nur Mischa, der...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Reisen Sport- / Aktivreisen
Geisteswissenschaften
Naturwissenschaften Biologie
Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
Schlagworte Autofiktion • Buch • Deutscher Nature Writing Preis • Dorf • Elbe • Fluss Biografie • Flüsse • Fluss Entdeckerbuch • Fluss Porträt • Geographie • Geschenk für Naturfreunde • Geschenk für Wanderer • Geschichte • Im Unterland • Kulturlandschaft Deutschland • Moldau • Natur • Naturbetrachtungen • Nature writing • Naturkunden • Naturströme • Ökologie • Ökosysteme • Philosophie Fluss • Quelle • Rhein • Tiere • Wanderlust
ISBN-13 9783749908189 / 9783749908189
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