Lebenslinien (eBook)
300 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-347-66824-9 (ISBN)
Marcel Grzanna wurde 1973 im Ruhrgebiet geboren. Seine frühen Jahre verbrachte er weitgehend auf dem Teppichboden seines Kinderzimmers, um Fußballspiele mit einer Murmel in Echtzeit nachzuspielen und dabei live zu kommentieren. Seine Großtante glaubte damals schon, dass der Junge sicher einmal Reporter werden würde. Nach Abitur und Wehrdienst erfüllte er die Prophezeiung und begann als freier Mitarbeiter bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Nach mehreren Jahren Lokalsport reiste Grzanna später als Redakteur einer Nachrichtenagentur um die Welt und berichtete über allerlei Weltmeisterschaften und Olympische Spiele. Der Wunsch nach einem Leben im Ausland begleitete all diese Jahre. Grzanna lernte Mandarin und zog 2007 nach China, wo er als Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung arbeitete. 2016 kehrte er nach Europa zurück. Im südspanischen Málaga entstand "Eine Gesellschaft in Unfreiheit" (Goldmann-Verlag), ein Erfahrungsbericht über den intensiven Alltag ausländischer Journalisten im größten Überwachungsstaat der Welt. Seit 2020 lebt Marcl Grzanna als freier Autor in Köln.
Marcel Grzanna wurde 1973 im Ruhrgebiet geboren. Seine frühen Jahre verbrachte er weitgehend auf dem Teppichboden seines Kinderzimmers, um Fußballspiele mit einer Murmel in Echtzeit nachzuspielen und dabei live zu kommentieren. Seine Großtante glaubte damals schon, dass der Junge sicher einmal Reporter werden würde. Nach Abitur und Wehrdienst erfüllte er die Prophezeiung und begann als freier Mitarbeiter bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Nach mehreren Jahren Lokalsport reiste Grzanna später als Redakteur einer Nachrichtenagentur um die Welt und berichtete über allerlei Weltmeisterschaften und Olympische Spiele. Der Wunsch nach einem Leben im Ausland begleitete all diese Jahre. Grzanna lernte Mandarin und zog 2007 nach China, wo er als Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung arbeitete. 2016 kehrte er nach Europa zurück. Im südspanischen Málaga entstand "Eine Gesellschaft in Unfreiheit" (Goldmann-Verlag), ein Erfahrungsbericht über den intensiven Alltag ausländischer Journalisten im größten Überwachungsstaat der Welt. Seit 2020 lebt Marcl Grzanna als freier Autor in Köln.
Über dieses Buch
Als wir aufbrachen, hielt ich ein Buch über unsere Reise für eine gute Idee. Die Route versprach jede Menge Stoff. Von Südchina ging es nach Laos, dann über Thailand weiter nach Sri Lanka und von dort nach Indonesien. Über Singapur und Australien wollten wir schließlich Neuseeland erreichen, die letzte Etappe des Trips. Die dreimonatige Reise war der Ausklang eines Lebensabschnitts. Neun Jahre hatten wir zuvor in China gelebt. Unsere Kinder waren dort geboren worden. Jetzt zog es uns zurück nach Europa.
Ich überlegte, von Leid und Leidenschaft des Reisens zu erzählen. Von diesem Gefühl, schwitzend in einem Bus ohne Klimaanlage zu kauern, eine kaputte Sitzlehne im Rücken, während der Motor röhrt, als würde er jeden Augenblick verrecken, mit einer Handbremse, die nur dann noch Wirkung zeigt, wenn der Fahrer sie senkrecht nach oben reißt. Die Rucksäcke liegen zusammengepfercht auf dem Dach zwischen Reissäcken und Hühnerkäfigen, während man selbst stundenlang gequetscht neben einer Einheimischen hockt, deren Haut aussieht wie eine Ziehharmonika, mit Händen, aus denen Fingernägel wie Baumrinden wachsen, und die den Kindern geschälten Apfel reicht. Man zählt die Stunden bis zur Ankunft an einem Ort, dessen Namen man vor wenigen Tagen oder Wochen zum ersten Mal gehört hat, voller Vorfreude auf das Unbekannte, das seine Entdeckung mit einem Gefühl des Glücks belohnt. In jeder solcher Sekunden saugt man die Realität einer anderen Welt ein. Faszinierend, erschütternd, amüsant. Immer wieder. Aber auch schon x-fach beschrieben.
Ich suchte nach etwas, das mich selbst überraschte. Etwas, das alltäglich schien und doch einzigartig war, das Menschen gleichermaßen faszinierte, ob sie meine Interessen teilten oder nicht.
Fündig wurde ich an jenem Tag, an dem ich Dean traf, einen arbeitslosen Handwerker aus der englischen Arbeiterstadt Luton, Schnauzbart, geschieden, um die fünfzig. Dean war weder eine besonders schillernde Persönlichkeit noch über alle Maßen mitteilsam, geschweige denn ein Freak, der durch markantes Auftreten die Blicke auf sich zog. Er war ein stinknormaler Typ, mit dem man an der Bar gesellig ein paar Bier trinken konnte, ohne ihn am Tag darauf beim gleichen Ritual zu vermissen, wenn er nicht da war.
Ich traf ihn im Nationalstadion der laotischen Hauptstadt Vientiane. Das Stadion sah aus wie ein Bolzplatz mit Tribüne, aber früher fanden hier mal Fußball-Länderspiele statt, deshalb sein Name.
An diesem Sonntag stand das Stadion offen für jedermann. Mein notorisches Interesse an Sportarenen trieb uns hinein. Meine Tochter Lily, mein Sohn Mats und ich gingen an der kleinen Haupttribüne vorbei und betraten ungehindert die verrottete Laufbahn. Ein paar Hobbyfußballer kickten auf der Wiese. Es hätte niemanden gestört, hätten wir ein Grillfest auf dem Rasen des Nationalstadions veranstaltet.
Dean stand auf der Tribüne. Sein T-Shirt war mit einem Pokal und den Jahreszahlen 56/57 bedruckt. Meine Leidenschaft für Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen zwang mich, nachzuhaken. »Was für ein Pokal ist das? Und wer hat ihn gewonnen?«, fragte ich ihn.
»Oh, das … keiner«, antwortete er. »Das ist nur ein T-Shirt.«
»Bist du Brite?«, fragte ich.
»Ja, aus Luton, England.«
»Ah«, sagte ich, »dann bist du Fan von Luton Town?«
Dean schaute mich an, offenbar verwundert, dass ich mich in den Niederungen des britischen Fußballs zumindest vordergründig auskannte. Luton Town spielte in den 1980er-Jahren in der ersten englischen Liga und war erst nach Jahrzehnten der Abstinenz drauf und dran dorthin zurückzukehren.
Als Teenager saugte ich damals alle Informationen auf, die mit Sport zu tun hatten. Ich legte so die Basis für meine journalistische Laufbahn als Sportreporter.
So kamen wir über schlechten Fußball ins Gespräch und landeten zwangsläufig bei den Gründen, weshalb wir uns überhaupt an diesem Ort begegnet waren. Dean erzählte, dass er kürzlich seinen Job verloren hatte und seine Ehe in die Brüche gegangen war. Doch statt sich fortan täglich in seinem Lieblingspub frustriert volllaufen zu lassen, stellte er sich weitgehend unalkoholisiert die Frage, wie es weitergehen könnte mit seinem fortgeschrittenen Leben. Die Antwort fand er im Internet.
Eine NGO suchte gegen eine geringe Aufwandsentschädigung Handwerker, die ihr dabei helfen sollten, eine Schule zu bauen. Der Haken daran: Die Schule sollte nicht in Luton gebaut werden, sondern in Laos. »Ich habe mir einfach gedacht, der Trip hierher wäre vielleicht eine gute Idee«, sagte Dean.
Ich konnte ihm nur zustimmen. Es ist nie zu spät für neue Horizonte. Sich in seinem nicht mehr ganz jugendlichen Alter erstmals in ein solches Abenteuer zu stürzen, alleine und ohne den Hauch einer Idee, was ihn überhaupt erwartete, fand ich bewundernswert.
Ausländer, die wir in Entwicklungsländern trafen, waren oft Leute mit höherer formeller Bildung und individuellen Vorstellungen darüber, wie sie ihr Leben gestalten wollten: Studenten, die sechs Monate, ein Jahr oder länger der alten Welt den Rücken kehrten, um Kraft und Erfahrungen zu sammeln für die Herausforderungen der Zukunft. Auch Abenteurer und Lebenskünstler, die daheim ihren Jobs nachgingen, nur um sich den nächsten Trip um den halben Erdball zu finanzieren, der ihnen kurzzeitig das Gefühl von Freiheit verschaffte, von dem sie für den Rest des Jahres zehrten.
Dean war anders. Er war noch nie in seinem Leben über die Grenzen Europas hinausgekommen. Er hatte ein paar Reiseziele in einem Radius von etwa zwei Flugstunden um London kennengelernt, vor allem solche, wo die Sonne schien und Bier floss. Sonst verbrachte er seine Zeit vornehmlich in Luton.
Von seinen Freunden und Bekannten war zuvor nie jemand in Laos gewesen. Wer es einen Hauch exotischer gewagt hatte, den zog es pauschal nach Thailand. Da gab es Sonne, Strände und britische Pubs wie Sand am Meer. Die Reiseleitung brachte einen ins Hotel, man rannte zwei Wochen arglos durch die Tropenhitze, vergaß, sich einzucremen, bis die Haut pinkfarben leuchtete, kühlte den Brand mit eiskaltem Chang Bier und aß abwechselnd gebratenen Reis oder Burger, bis zu dem Tag, an dem die Reiseleitung zur Abfahrt Richtung Flughafen in den Mannschaftsbus bat, und der Thailand-Urlaub vor allem wegen des Elefantenreitens in Erinnerung blieb, aber ansonsten das Gleiche bot wie Mallorca, nur weiter weg.
Seine Leute würden ihn sicher schief anschauen, hatte Dean gedacht. Laos hat nicht einmal eine Küste. Ist das eigentlich ein Land oder eine Stadt? Und wenn ja, wo? Und welche Sprache sprechen die da? Der muss verrückt sein, der Typ.
Aber all das war Dean völlig egal. Es gab nichts mehr, was ihn in Luton hielt. Keine Frau, keine Arbeit, nicht einmal mehr eine Dauerkarte für seinen Lieblingsklub. Er war entschlossen, etwas zu tun, was er noch nie zuvor getan hatte. Er suchte eine günstige Flugverbindung nach Laos und klickte »Confirm booking«.
Als wir uns trafen, war er seit vier Monaten im Land, völlig überwältigt von den Eindrücken. Er schwärmte vom Durcheinander auf den Straßen und dem Chaos im Alltag, von freundlichen Einheimischen und der Leichtigkeit des Freundemachens. Dabei strahlte er wie durch eine Überdosis Glückshormone erleuchtet, und ich strahlte mit ihm.
Dean schoss noch ein paar Fotos von Lily, Mats und mir auf dem Rasen des Nationalstadions. Dann verabschiedeten wir uns. Er legte seine Handflächen aneinander, hielt sie vors Gesicht und neigte den Kopf nach vorne, so wie sich Menschen in Südost-asien traditionell begrüßen und verabschieden. In Luton würden sie ihn für übergeschnappt halten.
»Wer war der Mann?«, fragte Lily.
»Das war Dean«, antwortete ich.
Am Abend dachte ich über seine Geschichte nach. Sein Mut hatte ihn belohnt. Er verdiente in Laos zwar kaum Geld mit seiner Arbeit, aber er fühlte sich unendlich bereichert. Er hatte sich getraut, seine Komfortzone zu verlassen, und war aufgebrochen zu einem Abenteuer, von dem er bis vor wenigen Monaten nicht gewusst hatte, dass es für ihn infrage kam.
»Ein guter Typ«, sagte ich zu Pia. Ich spürte, wie mir Deans Erzählung Mut und Gewissheit gab, dass es immer einen Weg gibt, der das Leben lohnenswert macht, ganz gleich wie groß die Probleme sind, die sich nach dem Aufstehen türmen. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich irgendwo eine neue.
Wir bemerkten, wie viele unterhaltsame Stunden uns schon während der ersten Tage unserer Reise geboten worden waren. Und das nur, weil wir uns die Zeit genommen hatten, ausführlich mit Fremden zu sprechen. »Mal sehen, wen wir noch alles treffen und was für Geschichten wir noch hören werden«, sagte ich.
Es war der Augenblick, in dem mir klar wurde, was diese Reise...
| Erscheint lt. Verlag | 10.12.2022 |
|---|---|
| Mitarbeit |
Cover Design: Katrin Fremmer Sonstige Mitarbeit: Langenbuch Weiß Literaturagentur |
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte |
| Schlagworte | Asien • Australien • Biografien • Familie • Glück • Kinder • Laos • Neuseeland • Reise • Schicksale • Sri Lanka • Sumatra • Welt |
| ISBN-10 | 3-347-66824-3 / 3347668243 |
| ISBN-13 | 978-3-347-66824-9 / 9783347668249 |
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