Der Suizid
Anfang März 2021 schien sich die Lage erneut zuzuspitzen. Die Geschäftsführerin stellte ihrer Stellvertreterin offenbar ein weiteres Ultimatum, Maria berichtete mir davon in einem ihrer nächtlichen Telefonanrufe. Sie zog sich daraufhin zurück und konzentrierte sich in der Folge ausschliesslich auf den Rassismusbericht. Auch sonst schien sie sich immer mehr zu isolieren.
Wir standen weiter in Kontakt, aber ihr ging es gar nicht gut. Nicht nur aufgrund des Konflikts mit der Geschäftsführerin. Wie alle, hatte sie mit der Isolation (verursacht durch die Corona-Massnahmen) zu kämpfen. Zwar war bereits ein Impfstoff entwickelt worden, in der Schweiz war dieser jedoch für die breite Bevölkerung noch nicht erhältlich. Maria wollte unbedingt diese Impfung. Sie bat mich sogar darum, im Darkweb nach Impfstoff zu suchen. Ich hielt es für eine sehr unvernünftige Idee und versuchte, ihr das auszureden. Nicht das Impfen an sich, sondern das Beschaffen des Impfstoffes im Darkwerb. Als mir das nicht gelang, schob ich meine Recherche nach erhältlichen Impfdosen im Darkweb auf die lange Bank. In wenigen Wochen würde sowieso ein Impfstoff für die breite Bevölkerung freigegeben, sagte ich mir. Doch Maria liess nicht locker.
Zum Schluss gab es zwei omnipräsente Themen. Die Beschaffung von Impfstoff und die Frage, wie die Geschäftsführerin aus ihrem Amt gedrängt werden könnte. Ich war im Zwiespalt. Ich machte Maria klar, dass ich es für eine blöde Idee hielt, den Impfstoff auf diese Art und Weise zu beschaffen. Ich warnte sie vor den möglichen Folgen, die es haben könnte, wenn man sich einen potenziell gefälschten Impfstoff reinpfiff. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir auch klar, dass Jolanda Spiess-Hegglin am Konflikt mit Maria nicht unbeteiligt sein konnte, auch wenn ich nicht alle Details kannte. Zwar hatte auch ich ab und an hitzige Diskussionen mit Maria. Das alleine konnte aber nicht erklären, weshalb sich die beiden derart zerstritten hatten.
Obschon ich manche von Marias Kritikpunkten teilte, wollte ich nicht Partei ergreifen. Ich war der Neue, hatte zu wenige Informationen und ehrlich gesagt verstand ich zu diesem Zeitpunkt auch nicht wirklich, was zur Hölle genau los war. Hätte es sich um ein Ehepaar gehandelt, ich hätte längst eine Paartherapie empfohlen.
Als Marias Nerven an einem Wochenende wieder einmal blank lagen, entschloss ich mich trotzdem, mich auf die Suche nach im Darkweb erhältlichen Impfstoffen zu machen. Ich stellte eine Liste von 10 möglichen Marktplätzen zusammen, die medizinische Produkte anboten. Die Liste sollte Maria ablenken und sie beschäftigen. Denn meine Recherche ergab auch, dass es nicht so einfach ist, Impfstoff im Darkweb zu organisieren, wie ich es ja auch von Anfang an zu bedenken gegeben hatte. Ganz abgesehen davon, dass man kaum hätte überprüfen können, ob es sich nicht um eine Fälschung handelt. Mit der Liste sollte Maria sich selbst davon überzeugen können. Das sollte sie gleichzeitig von den ständigen Querelen mit Jolanda Spiess-Hegglin ablenken. Auf meine E-Mail mit der Liste erhielt ich von ihr folgende Antwort:
«Danke! Mega lieb, wohl zu spät....ich überweise dir meine Bits - haste PayPal (eher nicht, so vermute ich). Wohin dann - ach das find ich eh raus.»
Natürlich war ich auf diese Nachricht hin höchst alarmiert, sodass ich mich erkundigte:
«was genau hast du vor?»
Im darauffolgenden Telefonat erklärte mir Maria, sie hätte bereits einen Impfstoff organisieren können. Sie hätte sich jenen gespritzt und kämpfe gerade mit den Nebenwirkungen. So recht konnte ich das nicht glauben. Mir schien es unmöglich, den Impfstoff übers Wochenende zu bestellen, sodass er Montag morgen im Briefkasten landet. Meine Bedenken behielt ich aber für mich. War alles eine Ausrede?
Es sollte unser letztes Telefongespräch sein. Zwei Tage später erhielt ich früh morgens eine Antwort auf meine per Mail gestellte Frage, was sie denn vorhabe:
«Machs gut!!»
Als ich das las, war ich höchst alarmiert. Aber Jolanda teilte dem Team noch am selben Morgen mit, Maria habe sich eine Auszeit genommen. Ich dachte mir zwar, dass Maria wohl nicht daran denkt, nach der Auszeit zurückzukehren, da die Geschäftsführerin in derselben Mitteilung verkündete, dass sie die Teilnahme an der Ausschreibung in Berlin zurückgezogen habe. Wie erwähnt hatte #NetzCourage an einer Ausschreibung von «DAS NETTZ» teilgenommen. Der Pitch stand kurz bevor. Aber ich hatte nicht den Nerv, mich sofort bei Maria zu melden. Ich musste ja auch noch ein Seminar vorbereiten, welches bald stattfinden würde. Zudem hatte ich auch die Schnauze voll von den ständigen Querelen. Ich würde sie später anrufen, sagte ich mir, um mich zu erkundigen, was denn jetzt wieder passiert sei.
So sass ich in einem Onlineseminar vor dem Bildschirm. Die Einführung in den zu besprechenden Text hatte einer der Professoren gerade abgeschlossen. Nach einer kleinen Pause sollten wir in Gruppen die Texte vertieft besprechen. In meiner Gruppe befanden sich auch die beiden Professoren, die gemeinsam das Seminar leiteten. Die Gruppenarbeit war im Begriff zu beginnen, als ich von Jolanda Spiess-Hegglin folgende Nachricht erhielt:
«dumeng.
die kripo xxx hat angerufen.
Maria ist von uns gegangen.
es ist alles surreal»
Surreal war das treffende Wort. Zwei Professoren mit erwartungsvollem Blick auf meine Antwort gespannt und ich gedanklich im freien Fall. Was war gerade passiert? Was sollte ich tun? Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es mir, mich mit einer gestammelten Entschuldigung aus der Sitzung zu verabschieden. Als ich alleine vor dem Bildschirm sass, überwältigen mich die Gefühle. Ich weinte hemmungslos. Ich hatte sie ja noch nicht lange gekannt, dennoch waren wir bereits Freunde geworden. Bald mischte sich in die Trauer auch Wut. Denn ich realisierte, was dieses tragische Ereignis für weitere Konsequenzen haben würde. Ich fühlte mich allein und im Stich gelassen.
Der Tod der stellvertretenden Geschäftsführerin von #NetzCourage, Projektleiterin und alleinigen Verfasserin des Rassismusberichts, stürzte das bereits gefährdete Projekt ins Chaos. Das Werk war unvollendet und es gab ja den Plan, es in absehbarer Zeit zu veröffentlichen, wie im Jahresbericht 2020 erwähnt. Ohne Zugriff auf die gesamten Forschungsdaten und Unterlagen drohte zudem ein immenser Datenverlust. Diese Befürchtung wurde dadurch verstärkt, dass Maria vor ihrem Selbstmord gedroht hatte, der Bericht würde ohne sie nicht fertig zu stellen sein. Zusätzlich waren auch Rohdaten verschwunden, die ich auf dem gemeinsamen Share abgelegt hatte. Ein heilloses Durcheinander, ganz zu schweigen davon, dass ihr Suizid fürs ganze Team ein emotionaler Schock war. Noch immer arbeiteten wir ja alle im Homeoffice, alle mussten also selber mit ihren Gefühlen zurechtkommen.
Einige Tage nach der Schreckensbotschaft erhielt ich ein Mail von Maria, zumindest von ihrer Mail-Adresse aus. Mir rutschte das Herz in die Hose – wer konnte das sein? In der Mail wurde ich gebeten, auf eine mir unbekannte Nummer anzurufen – es gab keinen Absender, nichts.
Ich tat wie geheissen, da meldete sich am anderen Ende der Lebenspartner der Verstorbenen. Wieder war ich schockiert, auf eine solche Begegnung war ich nicht vorbereitet. Es sollte ein langes und schwieriges Telefongespräch werden. Unter anderem wiederholte Marias hinterbliebener Lebenspartner die Mobbingvorwürfe. Er sprach davon, dass Jolanda Spiess-Hegglin aus seiner Sicht an Marias Selbstmord mitschuldig sei. Er bekniete mich in diesem Gespräch aber auch, das Projekt zu Ende zu bringen. Es sei eine Herzensangelegenheit der Verstorbenen gewesen und ich musste ihm versprechen, das Projekt für sie fertig zu stellen.
Als ich Jolanda Spiess-Hegglin vom Telefonat berichtete, liess ich die Vorwürfe zunächst unerwähnt. In diesem Gespräch erfuhr ich auch, dass die Daten aus dem unvollendeten Projekt sich nicht so einfach würden beschaffen lassen, wie wir gehofft hatten. Die Polizei fühlte sich nicht verantwortlich, sich um die Daten zu kümmern. Da wir alle ausschliesslich im Homeoffice arbeiteten, mussten die Gerätschaften der ehemaligen Stellvertreterin und Projektleiterin repatriiert, also zurückgeholt werden.
Anstatt selbst die Verantwortung zu übernehmen, betraute die Geschäftsführerin mich mit dieser heiklen Aufgabe. Ich sollte irgendwie organisieren, dass diese Daten wiederhergestellt und abgesichert werden konnten. Selber schien sie nicht willens, Kontakt zur Familie der Verstorbenen oder zu ihrem Lebenspartner aufzunehmen. Das wurde mir überlassen. Schliesslich hatte ich ja bereits mit dem Lebenspartner der Verstorbenen telefoniert.
Also willigte ich ein, den hinterbliebenen Partner zu besuchen, um die lokal vorhandenen Daten vom Arbeitslaptop zu sichern. Mir war nicht ganz wohl dabei, ihn allein zu treffen, da ich wusste, wie wütend er auf Jolanda war.
Es wurde ein schwieriges und belastendes Treffen. Er tat mir unendlich leid. Er hatte gerade seinen Lebensmittelpunkt verloren und ich sass ihm hilflos gegenüber, nicht wissend, was ich sagen sollte. Er wiederholte seine gravierenden Vorwürfe gegen #NetzCourage und Jolanda Spiess-Hegglin. Und ich sass da ganz allein und musste die Schläge einstecken, obschon ich erstens nicht am Konflikt beteiligt gewesen und zweitens nicht einmal genau darüber informiert war. Das alles traf mich enorm. Die Daten, die zu sichern ich eigentlich hergekommen war, waren indes gar nicht dort. Die Eltern der Verstorbenen hatten zwischenzeitlich alle ihre persönlichen Gegenstände mitgenommen. Meine Mission war diesbezüglich also vergebens...