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Veni Vidi Wadenkrampf -  Reik Ludewig

Veni Vidi Wadenkrampf (eBook)

Mit dem Rad durch Italien - und zu mir selbst

(Autor)

eBook Download: EPUB
2025 | 5. Auflage
196 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-8709-4 (ISBN)
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7,49 inkl. MwSt
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Zwei Freunde, zwei Fahrräder. 700 Kilometer von Bologna nach Rom. Im Gepäck ein Magen-Darm-Virus und jede Menge Erinnerungen, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen. Unter der Frühlingssonne der Toskana treffen die beiden auf einsame Dorfbewohner und gierige Touristen, stürzen sich in kulinarische Abenteuer und versuchen, sich in ihren inneren Zeitzonen zurechtzufinden. Dies ist die Geschichte einer Reise, die das Leben sanft in eine andere Richtung schiebt - auf der Suche nach Antworten, die es braucht, um sich seiner selbst bewusst zu werden.

Reik Ludewig wurde in Weimar geboren. Nach dem Abitur zog er nach Göttingen und war dort unter anderem als Lehrer, klassischer Werbetexter und Ghostwriter tätig, bevor er sich entschloss, eigene Bücher zu schreiben.

2. Etappe


Castel del Rio - San Marcello Pistoiese


„Geradeaus kann man nicht sehr weit kommen.”

Antoine de Saint-Exupéry

Noch bevor der Wecker klingelt, wachen wir zeitgleich auf.

„Buongiorno al forno“ murmelt Stefan mit belegter Stimme.

Anerkennend nicke ich zur anderen Bettseite. Einen überbackenen guten Morgen – nicht schlecht. Ich schaue ungläubig aufs Handy: 9:15 Uhr. Fast zehn Stunden Schlaf. So viel habe ich seit Jahren nicht am Stück geschlafen.

Die Stille ist noch da. Kein Wind, kein Vogel, kein Motor. Ich schaue aus dem kleinen Fenster. Ernesto hängt große, weiße Laken auf. Dabei hält er immer wieder inne. Er macht einfach nichts. So wie die Frau im Zug nach Bologna. Knapp zehn Minuten braucht er am Ende für drei Wäscheteile. Dann schleicht er zurück ins Haus.

Ich wackle mühsam die enge Holztreppe hinunter. Meine Beine fühlen sich an, als wären sie mit Sand gefüllt. Ernesto hat uns ein fabelhaftes Frühstück bereitet. Als hätte er versucht, alle Klischees zu erfüllen, ist die Bialetti Herdkanne gerade am Blubbern, und ein paar undefinierbare, duftende Teigteilchen haben soeben den Ofen verlassen. Die Marmeladen, das Brot, sogar die Säfte – so ziemlich alles an diesem Frühstück ist selbstgemacht. Womöglich hat er auch das Geschirr selbst getöpfert.

Ich nippe an meinen ersten Kaffee seit fünf Tagen und blinzele der Sonne entgegen. Die dunkelbraune Nuss-Nougat-Creme wurde tatsächlich mit Haselnüssen von den hiesigen Hängen zubereitet und macht die ohnehin schon schmackhaften Teigteilchen zu einer Offenbarung. Ich möchte hier nicht weg. Ich möchte noch ein paar Tage an diesem unglaublichen Ort bleiben. Wunden lecken, zu Kräften kommen, und dann neu anfangen. Mit einem Körper, der bereit ist. Doch das ist nicht möglich. In acht Tagen muss ich spätestens zurück sein. Kinder wegbringen, im Laden stehen, telefonieren, Kinder abholen, für sie kochen, einkaufen, Wäsche machen, und dabei Pläne für Zeiten schmieden, die womöglich sowieso nie kommen werden.

Ich würde zu gern wissen, wie Ernestos Plan aussieht. Ob er Angehörige oder Freunde hat, die ihn hier oben gelegentlich besuchen, oder ob sich sein soziales Leben ausschließlich auf das Internet und die wenigen Gäste, die es bis hier oben schaffen, begrenzt.

Während wir frühstücken, schnappe ich einige Fetzen von Ernestos Telefonat im Büro auf. Mein italienisch, das ausschließlich auf einem akzeptablen Spanisch, Fußball und Eros Ramazzotti basiert, reicht immerhin aus, um immer wieder Halbsätze zu verstehen. Er scheint mit einem alten Bekannten zu telefonieren. Ernesto gibt ihm Ratschläge und fordert ihn auf, irgendetwas zu beenden. Es ist ein hitziges, politisches, aber nicht aggressives Gespräch. Immer wieder fällt der Name Meloni. Ernesto scheint, milde ausgedrückt, kein Fan von Italiens Ministerpräsidentin zu sein.

„Fascista!“, und „la fine della democrazia“ zischt es aus Ernestos Büro.

Meine sowieso schon enormen Sympathien erreichen einen neuen Höhepunkt. Übergangslos springt das Gespräch zum Calcio, dem Fußball, was hier in Italien sowieso untrennbar von Politik und Wirtschaft ist. Ernesto gratuliert seinem Bekannten spöttisch zur erneut verpassten Meisterschaft von Juventus Turin.

Bevor wir uns auf den Weg machen, möchte ich noch in den am Morgen noch etwas kälteren Pool steigen. Ich tunke vorsichtig den Fuß ein, registriere den leichten Schmerz, doch nehme ihn nicht wirklich als echten Schmerz wahr. Womöglich hat sich meine Schmerzakzeptanz durch den gestrigen Tag so dermaßen verschoben, dass kleine Alltagsüberwindungen wie diese keine echte Hürde mehr darstellen. Dennoch gehe ich nur langsam tiefer hinein, benetze die Arme mit Wasser und lasse mir für die bei mir kälteempfindlichste Stelle, den unteren Bauch, besonders viel Zeit.

Nach zwei Minuten habe ich genug. Ich trockne mich ab, wieder erstaunlich langsam. Habe ich mein Verhalten so schnell an die Umgebung angepasst? Oder ist es Ernestos Langsamkeit, die auf mich abfärbt, wie ein benutzter Pinsel, den man in frisches Wasser taucht? Meine Haut ist rot. Ich genieße das Gefühl, am ganzen Körper von 1000 winzigen Nadeln gepiepst zu werden. Ich nehme mir vor, diese Langsamkeit für den Rest der Reise beizubehalten, ohne tatsächlich an die Umsetzung dieses Vorhabens zu glauben. Die Rastlosigkeit und Schnelligkeit, mit der ich schon so lange durch mein Leben gehe, ist Stärke und Schwäche zugleich. Viel zu schaffen und belastbar zu sein, ist großartig. Doch der Wunsch, zumindest alle paar Wochen mal auf dem Sofa zu sitzen, das Nichtstun zu genießen und sich Zeit zum Zeit verschwenden zu nehmen, ist riesig. Noch fehlen mir dazu die Werkzeuge.

Wir packen unsere Fahrradtaschen. Ich bin nach zehn Minuten fertig. Da Stefan erneut einen großen Teil meiner Ausrüstung übernimmt, braucht er fast 45 Minuten, um mit Bändern und Schnallen das Equipment sicher zu befestigen. Ich nutze die Zeit, um Ernesto in seinem Büro aufzusuchen. Die Tür steht halboffen. Im Flur muss ich mich zwingen, weiterzugehen, ihn nicht heimlich zu beobachten. Fokussiert starrt er auf seinen Computerbildschirm, während er bedächtig an einer riesigen Tasse nippt. Über seinem Kopf hängen metallene Gegenstände und alte Landkarten. Er begrüßt mich überschwänglich, als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen. Mein in seinen Augen etwas zu üppiges Trinkgeld lehnt er vehement, aber freundlich ab. Im Augenwinkel sehe ich riesige Uniformen und mehrere Glasvitrinen in verschiedenen Größen. Ich spüre eine undefinierbare Nervosität in mir aufsteigen. Ernesto, der jede noch so kleine Schwingung wahrzunehmen scheint, weiß sofort was zu tun ist.

„Schau dich ruhig um!“

Er folgt aufmerksam meinen Blicken und erklärt jede Ecke des Zimmers bis ins kleinste Detail. Hakenkreuze auf Uniformen, Notizbüchern, Tüchern. Überall. Dazu Tassen, Zeitungen, Metallkugeln.

„Alles hier ist echt. Ich habe schon als Kind angefangen, zu sammeln.“

Ich kann meine Irritation offensichtlich nicht verbergen. Ernesto lächelt.

„Ich weiß. Ihr Deutschen findet es seltsam, wenn jemand solche Sachen zu Hause hat. Es ist mir wichtig, nicht zu vergessen. Die Menschen sind verrückt. Sie werden es immer sein.“

Es klingt wie eine Warnung.

„People are crazy. They will always be.“

Ich fühle mich gezwungen, etwas zu antworten.

„Du hast recht. Ich würde nur nicht jeden Tag daran erinnert werden wollen“, sage ich nur.

Es tut gut, nicht das Gefühl zu haben, sich noch weiter rechtfertigen zu müssen. Ernesto scheint es genauso zu gehen.

Wir sind startklar. Mir graut es vor den nächsten Stunden. Knapp 110 Kilometer sind es bis zu unserem heutigen Zielort San Marcello Pistoiese. Fast doppelt so weit wie gestern, dazu dreimal so viele Höhenmeter. Drei endlos lange Anstiege. Im Zustand von gestern hätte ich definitiv keine Chance. Von daher bleibt die Hoffnung, dass die gestrige Lasagne, der tiefe Schlaf und das gute Frühstück ein paar Lebensgeister geweckt haben.

Den Abschied hält Ernesto für seinen Instagram Kanal fest. Er warnt uns noch vor den ersten Metern. 25 Grad Gefälle. Durchaus sinnvoll, da ich keine wirkliche Erinnerung mehr an die letzten Minuten der gestrigen Zielankunft habe. Wie am Balken einer Skisprungschanze stehen wir da mit unseren Rädern. Ohne zu wissen, ob unsere Bremsen wirklich gut genug sind, um unversehrt unten anzukommen. Sofort steigt Adrenalin in meinen geschundenen Körper.

Wir rollen den Hang hinunter, schnell schmerzen die Finger vom Druck auf die Bremshebel. Durch das geringere Gewicht und die anscheinend etwas neueren Bremsen tue ich mich ein wenig leichter an den steilen Abhängen. Vorsichtshalber steigen wir an den steilsten Abschnitten ab und schieben. Nach 20 Minuten haben wir den Weg zurück ins Tal absolviert und können losrollen. Die ersten Meter fühlen sich gut an. Kein Schüttelfrost. Die Energie der zwei Mahlzeiten seit gestern Abend scheint mein Körper angenommen zu haben.

Ein unscheinbares Schild am Straßenrand markiert den Grenzübergang zur Toskana. Durchaus ein feierlicher Moment für mich, schließlich übt die Toskana schon lange eine tiefe, fast mystische Anziehung auf mich aus. Wie alles, was man als Kind geliebt, und dann nie wieder gesehen hat.

An einer recht neu asphaltierten, sich gehorsam an einen Felsen schmiegenden Straße werden wir von einer überflüssig scheinenden Baustellenampel gestoppt. Überflüssig, weil es einfach keine Baustelle gibt. Selbst die einsame Ampel der Gegenseite ist knapp 200 Meter entfernt zu sehen. Kein Auto. Nirgends. Wir halten trotzdem, wie es gute Deutsche nun mal tun. Dann fällt er uns fast gleichzeitig ins Auge: Auf der Ampel begrüßt uns breit grinsend der junge Thomas Gottschalk in Form eines Aufklebers.

Ich versuche, die einigermaßen ebenen Asphaltstraßen ohne Gegenwind als aktive Erholung zu nutzen....

Erscheint lt. Verlag 25.3.2025
Sprache deutsch
ISBN-10 3-7693-8709-0 / 3769387090
ISBN-13 978-3-7693-8709-4 / 9783769387094
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