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Die Ukraine in Europa -

Die Ukraine in Europa (eBook)

Traum und Trauma einer Nation

Franziska Davies (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
362 Seiten
Theiss in der Verlag Herder GmbH
978-3-8062-4589-9 (ISBN)
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Die Ukraine - ein Teil unserer europäischen Geschichte Eingeklemmt zwischen Habsburg und Russland blieb der Ukraine im Lauf der Geschichte meist das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt. In Deutschland spielten dabei spätestens seit Russlands Krym-Annexion von 2014 historische Mythen und abenteuerliche Geschichtsauslegungen eine zentrale Rolle. Welch komplexes Geflecht zwischen den Territorien besteht, erkennen Deutschland, der Westen und die NATO erst seit der Katastrophe des Ukraine-Krieges im Zuge der russischen Totalinvasion von 2022. Warum galt die Ukraine vielen so selbstverständlich als Teil der russischen Geschichte, während ihre Verflechtungen mit Polen, Belarus, der Habsburger Monarchie, aber auch Deutschland kaum gesehen wurden? - Das neue Buch von Franziska Davies, der Trägerin des Bayerischen Buchpreises 2022 - Mit Beiträgen internationaler Historiker:innen und Publizist:innen - Historisches Hintergrundwissen zur aktuellen politischen Lage - Der fundierte Blick auf die Ukraine jenseits von imperialen MythenWarum war das Land so lange ein blinder Fleck für Deutschland? Erst jetzt scheinen viele Deutsche die Ukraine neu zu entdecken und stellen erschrocken fest, wie wenig sie über das Land wissen. Franziska Davies liefert einen wichtigen Essayband, der Geschichte und Gegenwart dieser Beziehungen aufzeigt: Die Ukraine als Teil der Habsburger-Monarchie, imperialistische Denkmuster oder schlichte Ignoranz der Ukraine gegenüber, Nationalismus in Russland und in der Ukraine, die Geschichte der Krym, Putins imperiale Visionen, das Verhältnis der Ukraine zu Belarus, zu Polen oder auch die Situation der Frauen in und aus der Ukraine. Versammelt werden mit dem Thema engstens verbundene, hoch engagierte Historiker:innen und Publizist:innen.

Dr. Franziska Davies ist in Düsseldorf geboren. Sie wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert, wo sie Osteuropäische Geschichte lehrt. Zu ihren Forschungs- und Publikationsschwerpunkten zählt die moderne Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine.

Einleitung
Von Kolonialismus und Arroganz. Zur deutschen Debatte über die Ukraine und Russland


Franziska Davies

„Egal, was wir tun, sie halten uns immer noch für Wilde aus dem Osten!“, schimpft meine Freundin Katja. Katja und ich sind beide in den 1980er-Jahren geboren, sie in der Stadt Nosivka, in der Zentralukraine, damals noch Teil der Sowjetunion, ich in Düsseldorf, in Westdeutschland. Kennengelernt haben wir uns in München, zu Beginn des Jahres 2014 kurz nach dem russischen Angriff auf die Krym. An unser erstes Gespräch erinnere ich mich gut, wir sprachen über die deutsche Wahrnehmung der Ukraine, und dieses Thema begleitet unsere Freundschaft bis zum heutigen Tag. Es ist der 12. Juni 2023, wir haben uns in München zum Mittagessen getroffen. Eine knappe Woche zuvor, in den Morgenstunden des 6. Juni, ist der Kachowka-Staudamm in der Region Cherson gesprengt worden. Die Region ist schon seit Monaten von Russland besetzt, es ist offenkundig, dass Russland für die Zerstörung verantwortlich ist. Und doch melden viele deutsche Medien, etwa Spiegel online oder die Tagesschau, in diesen Tagen, dass „Moskau und Kiew sich gegenseitig für die Zerstörung des Damms verantwortlich machen“.1 Katja fragt: „Was müssen wir eigentlich noch machen, damit die Deutschen sehen, dass Menschenleben bei uns etwas zählen, dass wir anders sind als Russland?“ Ich habe keine Antwort. Der Totalangriff auf ihr Heimatland liegt nun über ein Jahr zurück und noch immer, so scheint es, gibt es Schieflagen im Blick Deutschlands auf die Ukraine.

Dabei hat sich nach dem Beginn der russischen Totalinvasion am 24. Februar 2022 vieles in Deutschland verändert. Die Ukraine, wenige Flugstunden von Deutschland entfernt, ein Nachbarland der Europäischen Union, wird entdeckt. Ein echtes Interesse lässt sich nun bei sehr vielen beobachten. Die Solidarität mit der angegriffenen Nation ist groß. Menschen bieten ihre Wohnungen an, spenden, geben Sprachunterricht, wollen helfen. Und auch das Interesse an der Geschichte und Kultur der Ukraine ist immens gewachsen. Viele Deutsche entdecken die Ukraine – mit Neugier, mit Interesse, mit Mitgefühl, mit Bewunderung und mit Solidarität – und ja, einige auch mit Scham: Wie konnte ich dieses Land übersehen?

Was sagt es über Deutschland aus, dass dieses Land mit seinen über 40 Millionen Einwohner*innen, einer der größten Flächenstaaten Europas, mit seinen pulsierenden Städten, seinen vielfältigen Landschaften und Kulturen, jetzt erst entdeckt wird? In dem Moment, da die Menschen in der Ukraine für ihr Land kämpfen und sterben. Kämpfen und sterben in einem Krieg, den sie niemals gewollt haben, der ihnen von ihrem Nachbarn Russland aufgezwungen wurde und der inzwischen von Moskau genozidal geführt wird? Was sagt es über die deutsche Politik aus, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 eine „Zeitenwende“ im Angesicht des russischen Angriffs ausrief, aber nicht erwähnte, dass die Ukraine schon viel früher, nämlich im Jahr 2014, von Russland angegriffen wurde? Der russische Angriff figurierte im deutschen Diskurs aber bis zur Totalinvasion nicht als Krieg, die ukrainische Revolution der Würde des Winters 2013/14 nicht als Revolution im Namen Europas, sondern all das wurde subsumiert unter dem Begriff der „Ukraine-Krise“. Der ukrainische Intellektuelle und Schriftsteller Juri Andruchowytsch sprach über dieses Missverständnis in seiner Rede zur Eröffnung der Internationalen Buchmesse in Wien im November 2014:

„Wenn ich sage: ‚Bei uns herrscht Krieg‘, verbessern mich meine deutschen Freunde geduldig wie Erwachsene ein Kind: ‚Ihr durchlebt eine Krise.‘ Obwohl es in Wirklichkeit nicht unsere Krise ist, sondern die Krise Russlands, seiner halbirren imperialen Ambitionen, die sich zum Glück in unserer Welt nicht mehr vollständig verwirklichen lassen. Daher rührt ja auch seine Krise. Und wenn ich sage, dass der russische Präsident unser Feind ist, dann versichern sie noch geduldiger: ‚Sag das nicht, er ist Partner.‘“2

Mehr Verständnis für den Aggressor als für das Opfer, ja, noch nicht einmal die Bereitschaft, den Aggressor eindeutig zu identifizieren, das Nichtverstehen dessen, was auf dem Majdan 2013/14 passierte, was auf der Krym, was im Donbas passierte – diese Erfahrungen machten viele Ukrainer*innen in ihren Gesprächen mit Deutschen in den letzten Jahren.

Bis vor Kurzem war die Ukraine für die meisten Deutschen ein blinder Fleck. Die Nichtexistenz der Ukraine auf der mentalen Landkarte des Westens hat strukturelle Gründe, hat eine eigene Geschichte.3 Im 17. Jahrhundert, als auf dem Gebiet der heutigen Zentral- und Ostukraine das ukrainische Hetmanat existierte, war die Ukraine sehr wohl auf den realen Karten Europas und damit auch auf der mentalen Landkarte der Eliten verzeichnet. Das Hetmanat war zwar kein moderner ukrainischer Nationalstaat, aber es war ein selbstständiger Player des östlichen Europas, dessen Eliten sich sowohl vom moskowitischen Russland im Osten als auch von Polen-Litauen im Westen abgrenzten. Es ist kein Zufall, dass es oft die Nachkommen der kosakischen Eliten des Hetmanats waren, die im 19. Jahrhundert zu den Pionieren einer modernen ukrainischen Nationalbewegung wurden, und der Kosakenmythos bis heute in der Ukraine ein wichtiger Bezugspunkt für die nationale Identität geblieben ist. Ebenfalls im 17. Jahrhundert begann aber mit dem Vertrag von Perejaslav im Jahr 1654, die allmähliche Absorption der Ukraine in das Moskauer Zarentum, das sich unter der Herrschaft Peters I. (des sogenannten Großen, Herrscher von 1682–1725) zum Russländischen Imperium wandelte. Die zunächst versprochenen Autonomierechte wurden schrittweise eingeschränkt, bis Katharina II. (die sogenannte Große, Zarin von 1762 bis 1796) das Hetmanat schließlich ganz auflöste. In diesem Prozess wurden die ukrainisch-kosakischen Eliten allmählich russifiziert. In der heutigen Westukraine wiederum, ab dem 14. Jahrhundert unter Herrschaft des polnischen Königs, vollzog sich eine Polonisierung der Eliten, die auch nach den Teilungen Polen-Litauens im späten 18. Jahrhundert in der Habsburgemonarchie dominant blieben. Die ukrainische Sprache wurde zu einer Sprache des Bauerntums, die Ukraine verschwand als eigenständiger Akteur sowohl von den realen als auch den mentalen Landkarten Europas.

Die Präsenz von Imperien auf dem Gebiet der heutigen Ukraine setzte sich im 19. Jahrhundert fort, als in fast ganz Europa moderne Nationalbewegungen entstanden. In Deutschland fühlten sich manche Kommentator*innen bemüßigt, sogar noch nach der russischen Totalinvasion der Ukraine und der Offensichtlichkeit von Moskaus genozidalen Absichten, Urteile über den Grad der Nationswerdung der Ukraine abzugeben – ganz so, als würde dies die Vernichtungsabsicht Russlands relativieren können. Letztlich liefen solche Interventionen auf Genozid-Verharmlosung hinaus. So erklärte der deutsche Philosoph Jürgen Habermas im Februar 2023, die Ukraine sei „die späteste aller europäischen Nationen“.4 Abgesehen davon, dass dies für die Bewertung des russischen Angriffskriegs irrelevant ist, so ist diese Behauptung auch schlicht falsch. Die ukrainische Nationswerdung folgte in vielerlei Hinsicht einem klassischen europäischen Muster: Überschaubare intellektuelle Schichten „entdeckten“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Geschichte, Sprache und Kultur „ihrer“ jeweiligen Nationen und erst allmählich fassten diese Ideen Fuß unter breiteren Bevölkerungsschichten und entwickelten ein politisches Mobilisierungspotenzial. Gerade im russländischen Zarenreich aber stieß die Idee, dass es eine von Russland abgegrenzte ukrainische Geschichte, Sprache und Kultur geben könnte, auf scharfe Ablehnung – und zwar sowohl unter Nationalisten unterschiedlicher Couleur als auch unter den Bürokraten des imperialen Staates. Liberale, Konservative und Beamte waren geeint in der Ablehnung der Idee einer ukrainischen Nation. Die Existenz der Ukraine als Angriff auf die eigene, russische Nation – dieses Denkmuster des 19. Jahrhunderts finden wir heute noch bei Putin und seiner Entourage. Unter ganz anderen Umständen entwickelte sich in der liberaleren Habsburgermonarchie eine ukrainische Nationalbewegung, wo die sogenannten „Ruthenen“ eine der offiziell anerkannten Nationalitäten des Vielvölkerreichs bildeten und viel größere Freiheiten genossen.

*

In den frühen 1920er-Jahren schrieb der jüdisch-österreichische Schriftsteller Joseph Roth über seine Reisen in die Ukraine:

[W]ährend ich mich anschicke, Ihnen über das Volk der Ukraine zu schreiben, habe ich den Klang seiner Lieder im Ohr und vor meinem Auge das Angesicht seiner Dörfer.“

Roth, der selbst in Brody, in der Nähe von Lviv in der heutigen Westukraine, geboren wurde, war mit der ukrainischen Kultur vertraut und erklärte seiner Leserschaft, dass es sich um eine Nation handele,

„die niemals dazu kommt, ihre eigenen Statistiken selbst anzulegen, sondern das Unglück hat, von Völkern, von denen sie regiert wird, gezählt, eingeteilt und überhaupt ‚behandelt‘ zu werden. In diesem...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2023
Sprache deutsch
ISBN-10 3-8062-4589-4 / 3806245894
ISBN-13 978-3-8062-4589-9 / 9783806245899
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