Stuttgart (eBook)
170 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783695140213 (ISBN)
Herbert Vore erkundet Städte nicht als Kulisse, sondern als lebende Archive von Stimmen, Widersprüchen und Hoffnungen. Seine Städtebücher verbinden präzise Recherche mit erzählerischer Nähe und zeigen, wie Geschichte, Alltag und Machtfragen im Pflaster der Straßen weiterwirken. Vore sucht das Gespräch mit den Übersehenen, beschreibt Randzonen ebenso aufmerksam wie repräsentative Plätze und legt die verborgenen Linien von Verantwortung und Veränderung frei. So entstehen dichte Porträts urbaner Wirklichkeit, die berühren, aufklären und zum Handeln einladen. Worte für die Stimmlosen, Analysen gegen das Vergessen.
Kapitel 2: Das Gestüt im Tal
Bevor eine Stadt entsteht, entsteht ein Zweck. Im Nesenbachtal war dieser Zweck ein Stall. Keine Kapelle, kein Markt, kein Rathaus – ein Gestüt. Die Überlieferung weist auf Liudolf von Schwaben, Sohn des Königs Otto, der im 10. Jahrhundert die fruchtbare Senke am Hang des Schurwalds auswählt. Der Ort ist nicht prunkvoll, sondern praktisch. Wasser in Reichweite, Grasland für Heu, sanfte Hänge für Weiden, windgeschützt und doch nah an den Wegen zum Neckar. Ein eingefriedetes Gelände, ein „Garten“ im Sinn der Zeit, darin die „Stuot“ – die Herde. Aus Stuotgarten wird Schritt für Schritt Stuttgart.
Am Anfang ist das Gelände karg eingerichtet: Pfostenlöcher, die einen Zaun tragen, eine hölzerne Palisade, Gräben, die bei Regen das Wasser wegführen. Zwei große Langhäuser, querliegend zu den Weiden, mit Schilfdach und Holzbinderwerk. In einem die Stuten mit ihren Fohlen, im anderen die Reit- und Arbeitspferde, die Sättel, Zaumzeug, Heukraxen. Der Boden ist mit Spreu bestreut, damit die Feuchtigkeit verschwindet, bevor sie Krankheit wird. Ein Nebengebäude für Hafer und Salz – beides kostbar, beides nötig. Daneben die Schmiede: Amboss, Blasebalg, Feuer. Ein Hufschmied, der mehr Arzt als Handwerker ist, prüft Sehnen, tastet Fesselgelenke, schaut in Augen, die Geschichten von Lasten erzählen.
Der Tageslauf richtet sich nach dem Licht. Noch bevor die Hügel heller werden, sind Stalljungen bei der Arbeit. Sie karren Dung aus, tragen frisches Wasser in Trog und Kübel, massieren die Flanken der Tiere, damit die Winterhaut weich fällt. Der Schmied erhitzt Eisen, formt Hufeisen, ritzt kleine Zeichen ein, die Bestand und Besitzer kenntlich machen. Ein Sattler flickt Riemen, ein Schreiner richtet aus krumm gewachsenen Stämmen Stangen für einen provisorischen Reitplatz. Wenn die Sonne zwischen die Pfosten fällt, ist das Gestüt bereits eine Welt in Bewegung.
Pferde bedeuten im 10. Jahrhundert mehr als Transport. Sie sind Machtübersetzer. Ein Herzog ohne schlagkräftige Reiterei bleibt Bittsteller, einer mit verlässlicher Zucht kann Züge planen, Boten schicken, Grenzen verdichten. Die Auswahl ist streng: Stuten, die auf kargem Gras Kondition halten; Hengste, deren Schritt nicht nur schnell, sondern ausdauernd ist. Fohlen, die in den ersten Wochen lernen, dem Menschen zu folgen, nicht aus Angst, sondern aus Gewohnheit. Man notiert nicht mit Feder, sondern mit Gedächtnis. Namen werden laut, wenn ein Tier aus dem Paddock geführt wird, und sie bleiben, als wären sie eingekerbt.
Das Tal zwingt zur Ordnung. Heu muss im Sommer in Mengen eingefahren werden, die für den Winter reichen. Dazu braucht es Hände. Bauern aus der Umgebung arbeiten tageweise, bringen Wagen, Leitern, Sensen. Im Gegenzug erhalten sie Salz, Eisenarbeit, Schutz. So entsteht eine Gleichung aus Nutzen und Bindung. Ein Fischer vom Neckar liefert Fässer mit Trockenfisch; ein Müller, der am Bach sein Rad setzt, lässt für das Gestüt Hafer schroten; ein Töpfer brennt Tröge, die nicht reißen, wenn der Frost kommt. Handwerk wird enger, weil der Ort ein Zentrum hat, das Bedürfnisse bündelt.
Neben die Funktion tritt bald der Rhythmus eines sich bildenden Ortes. Ein kleiner Herdplatz für das Personal, ein Lehmofen für Brot, ein Tisch aus Eiche, der abends Geschichten sammelt. Ein Pfostenkreuz am Wegrand, bei dem man innehält, wenn ein Fohlen krank ist oder ein Knecht sich verletzt hat. Im Herbst ein erstes Markttreiben: Häute, Wolle, Werkzeug gegen Hafer und Salz. Eine Frau aus einem Nachbardorf richtet eine kleine Schankstelle ein – dünnes Bier, ein Topf Eintopf, in dem Knochen länger auskochen, als die Zeit erlaubt. Dort werden Nachrichten ausgetauscht: Wer heiratet, wen der Winter hart getroffen hat, wo Wölfe gesehen wurden. Der Gestütszaun markiert nicht nur Fläche, er zieht auch Stimmen an.
Der Boden lernt in diesen Jahren neue Lasten. Wege, die Pferdehufe festtreten, werden zu Pfaden, die auch im Regen halten. Ein Karrenweg entsteht, halb von der Natur diktiert, halb von der Gewohnheit gezeichnet, und verbindet das Gestüt mit einer Furt am Neckar. An besonders steilen Stücken legen die Knechte Holz als Riegel quer, damit der Boden nicht wegrutscht. Früher brach Wasser ungehindert aus, nun leiten Gräben es in milde Bahnen. Ein Bach ist keine Laune mehr, sondern ein Werkzeug, das man konserviert.
Manches wirkt größer als der Ort. Von Osten kommen Boten über die Alb, bringen Schreiben, die Recht und Pflicht sortieren – Abgaben in Naturalien, Diensttage im Jahr, Sicherungspflichten gegen Räuberbanden. Der Name Liudolf fällt selten, wirkt dennoch wie ein Schatten, unter dem Entscheidungen leichter gefällt werden. Es ist das Herrschaftsferne eines frühen Mittelalters, in dem Macht oft nur als Richtung spürbar ist. Und doch: Die Präsenz eines herzoglichen Zweckes verändert den Ort gründlich. Wer hier arbeitet, gehört zu etwas, das über das Tal hinausweist.
Ein Jahr ist schnell erzählt und unendlich lang gelebt. Im Frühjahr Geburten, Übermut auf den Weiden. Im Sommer Arbeit an der Grenze zur Erschöpfung: Heu, Reparaturen, Hufe neu beschlagen, Vorräte aufstocken. Im Herbst Auswahl: Welche Fohlen bleiben, welche gehen als Geschenk an Verbündete, welche werden verkauft, um das Salzlager zu füllen. Im Winter Ruhe und Krankheit, dampfende Nüstern im kalten Morgen, die Sorge, ob die Vorräte reichen. In besonders harten Wintern lockert man die Rinde von Eichen, um sie den Pferden zuzumischen. Man lernt das Maß zwischen Geduld und Eingriff.
Zwischen all dem entstehen die ersten dauerhaften Zeichen einer Siedlung. Ein Brunnen, der tiefer gegraben wird, mit einer Verschalung aus Eichenbohlen. Ein zweiter, kleiner Stall für Schaf und Ziege – Milch für Kinder, Wolle für Kleidung. Ein Grubenhaus, halb unter die Erde gelegt, als Werkstatt für den Schmied, dessen Feuer so weniger vom Wind geplagt wird. Ein Speicher auf Stelzen, gegen Nässe und Nager. Die Dinge, die bleiben, stehen näher beieinander; die, die vergehen, lagern an den Rändern – Holzstoß, Kompost, Laub. Ordnung setzt sich fest, zunächst als Bequemlichkeit, dann als Gewohnheit, schließlich als Notwendigkeit.
Und doch bleibt das Gestüt ein merkwürdiges Zwischenwesen. Es ist weder Dorf noch Burg, weder Markt noch Kloster. Es ist eine Maschine, die ein anderes Ganzes am Laufen hält: das Heer, die Botenwege, die Herrschaftslogistik. Gerade deshalb wird es zum Magneten für das, was Dörfer ausmacht. An Markttagen stellen sich fahrende Händler an den Zaun, bieten Nadeln, Messer, Stoffe, Salz. Ein junger Mann, der als Stalljunge kam, baut ein kleines Haus nahe dem Bach. Eine Frau, deren Mann verunglückte, findet Arbeit in der Küche, kocht für zehn, später für zwanzig. Ein alter Krieger steigt ab, bleibt, weil ein Pferd ihn besser versteht als Menschen. Aus Aufgaben wird Anker.
Die Sprache nimmt den Ort in den Mund. Aus „bei dem Gestüt im Tal“ wird „im Stuotgarten“. Menschen benutzen das Wort, ohne darüber nachzudenken, dass es mehr ist als ein Laut. Mit jedem Gebrauch wird es härter. Ein Fluss, der sich durch Kies schlängelt, schneidet bald in Fels. So auch hier. Ein Name formt die Wahrnehmung. Wer von außen kommt, erkennt das Gelände am Klang, noch bevor er die Zäune sieht.
Man kann diesen Jahren eine stille Ambition unterstellen. Niemand plant eine Stadt. Aber viele handeln so, als dürfe aus dem Provisorium kein Zufall bleiben. Der Hufschmied lehrt seinen Sohn, der Sattler nimmt einen Lehrling auf, der Müller investiert in ein größeres Rad, weil die Nachfrage wachsen wird. Ein Priester kommt zeitweise, hält Messe auf offenem Feld, markiert die Stelle mit einem einfachen Kreuz. Ein Jahr später steht dort ein Dach über vier Pfosten. Aus Gewohnheit wird Anspruch.
Nichts an alledem ist spektakulär, und doch ist alles folgenreich. Der Zaun um die Herde schützt zuerst Pferde, bald auch Menschen. Die Wege, die für Karren fest geworden sind, tragen später andere Lasten. Das Brunnenwasser, das die Tiere tränkt, löscht Verhandlungen und Klatsch. Und der Gedanke, dass ein Ort ein Zentrum sein kann – nicht, weil er Mauern hat, sondern weil er Funktionen bündelt –, legt sich wie eine unsichtbare Grundplatte unter alles, was später gebaut wird.
Später werden Urkunden Namen und Besitz ordnen, Rechte festschreiben, Abgaben regeln. Aber die eigentliche Gründung geschieht hier: im Geräusch von Hufeisen auf hartem Boden, im Dampf eines warmen Pferdeleibs an einem kalten Morgen, im Schweiß eines Knechts, der ein Tor richtet, damit es nicht mehr klemmt. Aus solchen Handgriffen entsteht Zugehörigkeit. Und Zugehörigkeit ist die Währung, mit der Orte die Zeit bezahlen.
Wenn am Abend die Tiere ruhig sind, tritt der Gestütsmeister vor die Palisade. Er blickt über das Tal, zählt im Kopf, was morgen zu tun ist, und spürt doch, dass etwas arbeitet, das größer ist als Hafer, Heu und Eisen. Er weiß nicht, dass hier einmal ein Schloss stehen wird, dass...
| Erscheint lt. Verlag | 12.11.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Naturwissenschaften ► Geowissenschaften ► Geografie / Kartografie |
| ISBN-13 | 9783695140213 / 9783695140213 |
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