Strom (eBook)
288 Seiten
BoD - Books on Demand (Verlag)
978-3-8192-9003-9 (ISBN)
Seit über 25 Jahren analysiert und entwickelt Tim Meyer neue Geschäftsmodelle, Produkte und Technologien rund um das, was wir heute Energiewende nennen. Der promovierte Elektroingenieur ist seit seinem Studium Anfang der 90er-Jahre überzeugt von den Vorteilen erneuerbarer und dezentraler Energiesysteme. Die mit ihnen verbundenen Herausforderungen, aber auch die gewaltige Entwicklungsdynamik und die Potentiale dieser "Clean Tech" hat er als Manager, Geschäftsführer und Vorstand in ungewöhnlicher Breite und Tiefe kennengelernt: technologisch als Abteilungsleiter für Systemtechnik am Fraunhofer ISE sowie später als Technikvorstand eines integrierten Solarkonzerns. Kaufmännisch als Geschäftsführer in der internationalen Entwicklung und Finanzierung von Wind- und Solarparks sowie einer Servicegesellschaft für erneuerbare Energien. Energiewirtschaftlich als Gründer eines Start-ups für innovative Stromversorgungslösungen und später als Vorstand der Naturstrom AG. Strategisch und kommunikativ als Marketing-Leiter, langjährige Führungskraft und gefragter Kopf der neuen Energiewelt. Seit 2022 ist Tim Meyer mit 3EPunkt als Berater für Unternehmen der Energiewirtschaft, Hersteller, Banken und Projektentwickler tätig. In Vorträgen und Postings (über 32.000 Follower bei LinkedIn) erläutert er Hintergründe, globale Markttrends und wirtschaftliche Chancen der Energiewende.
KAPITEL 1
UNSERE WIRTSCHAFTLICHE ZUKUNFT BEGINNT JETZT
Der Startpunkt unserer Reise ist besonders, nicht die Richtung
Spätestens seit der Energiekrise der Jahre 2021 bis 2023 ist die Energiewende eine der Generalverdächtigen bei der Frage, wie die auffällige Schwäche der Deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich zu erklären ist. Gern ist die Rede von »Deindustrialisierung«, vom »Deutschen Sonderweg«, von einer »Geisterfahrt« gar. Tatsächlich steht Deutschland – im Angesicht des Wegfalls russischer Gaslieferungen, gestiegener Energiepreise und des Klimawandels – stärker als viele europäische Nachbarn wirtschaftlich unter Druck. Also ja: Wir spielen eine Sonderrolle. Doch eine andere, als gern behauptet wird. Das Blöde: Mit der falschen Analyse zieht man falsche Schüsse und ergreift die falschen Maßnahmen. Daher brauchen wir zunächst eine ehrliche Bestandsaufnahme des »spezifisch Deutschen« der Energiekrise. Diese fördert drei Hauptgründe für eine tatsächliche Sonderrolle Deutschlands zutage:
Besonderheit #1: hoher Industrieanteil
Erstens lebt die deutsche Wirtschaft im europäischen Vergleich noch relativ stark von industrieller Produktion. Und industrielle Produktion lebt unter anderem von international wettbewerbsfähigen Energiepreisen. Andersherum leidet sie, wenn Energiepreise steigen. Tun sie das dauerhaft und kompensieren andere Standortfaktoren dies nicht ausreichend – also zum Beispiel die Verfügbarkeit von Fachkräften, rechtliche Rahmenbedingungen, Zugang zu Kapital etc. –, werden Produktionsstandorte in andere Regionen und Länder verlegt. So weit die simple betriebswirtschaftliche Logik.
In Deutschland erwirtschaftet die Industrie noch rund 19 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts (ohne den Bausektor). In Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Spanien oder Großbritannien liegt der Anteil nur noch zwischen 8 und 11 Prozent, in Italien und Dänemark bei bis zu 16 Prozent.8 »Nur noch« bedeutet: Früher hatte die Industrie natürlich auch in diesen Ländern eine größere Bedeutung. Doch als Teil der Globalisierung und der weltweiten Verlagerung industrieller Produktion in Länder mit niedrigen Energie- und Lohnkosten, Umweltauflagen etc. sind unsere europäischen Nachbarn schon stärker »deindustrialisiert« als Deutschland. Und damit auch nicht mehr ganz so stark betroffen, wenn industrielle Fertigung unter gestiegenen Energiepreisen leidet.
Aber wie haben wir es nur geschafft, so viel mehr Industrie in Deutschland zu halten? Sind unsere Unternehmen, das technologische Umfeld, unsere Fachkräfte, Ingenieurinnen und Ingenieure einfach besser? In einigen Branchen gilt das sicherlich: Deutschland ist stark in Technologie und Fertigung. Unzählige »Hidden Champions« gibt es über das Land verstreut, also Marktführer in ihren spezifischen technologischen Nischen. »Made in Germany« hat nicht ohne Grund einen besonderen Klang in der Welt. Doch mit Blick auf die Großindustrie gab es einen weiteren, wichtigen Standortfaktor – der mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zu Staub zerfallen ist: der Zugang zu billigem Gas.
Besonderheit #2: billiges russisches Gas
Anders als beispielsweise die USA oder viele asiatische Länder verfügt Deutschland nicht über eigenes, billiges Erdgas in großen Mengen. Und wir waren nicht bereit, Umweltschäden der Förderung hierzulande zu akzeptieren. Daher hat Deutschland eine immer stärkere Abhängigkeit seiner Wirtschaft von Pipelinegas aus Russland nicht nur in Kauf genommen, sondern als Teil einer wirtschafts- und industriepolitischen Strategie aktiv vorangetrieben – sogar gegen massiven Widerstand seiner internationalen Partner aus Europa und den USA. So konnte Deutschland sozusagen die Zeit anhalten und entgegen dem Trend anderswo in Europa eine hohe Industriequote im Land halten. Das Projekt North Stream 2 ist zugleich Symbol und Menetekel dieser letztendlich gescheiterten Strategie. Jahrelang haben europäische und US-amerikanische Regierungen gegen das Projekt protestiert und Widerstand geleistet. In den Jahren 2019 und 2020 hat der US-Kongress sogar Sanktionen gegen Personen und Unternehmen verhängt, die North Stream 2 unterstützen, sei es durch die Bereitstellung von Schiffen, vorbereitende Arbeiten oder die Versicherung von Risiken. »Juristischen Personen, deren Geschäftsführern und Arbeitnehmern drohen Einreiseverbote, Einfrierungen ihres Vermögens und der Ausschluss von der öffentlichen Auftragsvergabe in den USA«, so das Fazit einer Stellungnahme des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags.9 Nicht nur die Projektgesellschaft North Stream 2 AG und ihr Geschäftsführer, sondern viele Zulieferer und Baufirmen und deren Vertreter waren betroffen. Wohlgemerkt: Wir reden nicht über Sanktionen gegen irgendeinen Despotenstaat, sondern gegen ein von der deutschen Regierung und deutschen Firmen aktiv unterstütztes und betriebenes Projekt. Verhängt von seinem damals noch engen Verbündeten, den USA.
Spätestens nach der Annexion der Krim durch Russland scheint eine solche Haltung der Partner nachvollziehbar. Dennoch wollte im Sommer 2021 der neue US-amerikanische Präsident Joe Biden ein Zeichen der Versöhnung senden und hat seine Zustimmung zu dem Projekt erteilt – unter Auflagen. Sollte Russland erkennbar »Energie als Waffe« einsetzen – so damals schon die Formulierung des deutschen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel –, hat sich die Bundesregierung verpflichtet, unverzüglich zu handeln.10 Realität wurde jedoch das Gegenteil. Im Herbst 2021 stockten die russischen Gaslieferungen nach Deutschland, die deutschen Gasspeicher, die zuvor an russische Firmen verkauft worden waren, waren leer und russische Truppen wurden an der polnischen Grenze zusammengezogen. »Kriegsvorbereitungen« wäre die richtige Diagnose gewesen: Von langer Hand geplant wurde Energie als Waffe gegen Deutschland und Europa eingesetzt, um harte Reaktionen nach dem Einmarsch in die Ukraine zu verhindern. Doch trotz dieser klaren Symptome lautete die offizielle Diagnose der Bundesregierung am 26. Oktober 2021, dem letzten formalen Tag ihrer Amtszeit, dass die deutsche Gasversorgung gesichert sei. Damit war die letzte rechtliche Hürde für die Inbetriebnahmegenehmigung für North Stream 2 genommen. Energiepolitischer Wunsch und geopolitische Wirklichkeit konnten kaum weiter auseinanderliegen.
Der folgende Lieferstopp russischen Gases und die anschließende Zerstörung der Pipelines von North Stream 1 und 2 in den Tiefen der Nordsee brachten einen der zentralen Stützpfeiler deutscher Energieund Industriepolitik zum Einsturz. Vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine stammten 55 Prozent der Gaslieferungen für Deutschland aus russischen Gasfeldern.11 Das war weit mehr als der europäische Durchschnitt von 40 Prozent.12 Mit Versiegen der russischen Lieferungen schossen die Gaspreise in Deutschland daher besonders in die Höhe – um mehr als das 18-Fache.13 Diese Entwicklung schlug in den Strommarkt durch, denn über das Marktdesign setzen Gaskraftwerke die Preise im Strommarkt (siehe Kapitel 3.6). Ergebnis: Auch Strompreise sind in der Spitze um das 13-Fache gestiegen.14 Einen solchen Schock musste die deutsche Wirtschaft der Nachkriegszeit noch nie verdauen. Gas und Strom machen zusammen rund zwei Drittel der deutschen Endenergieversorgung aus. Zwei Drittel der Energieversorgung der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, des Exportweltmeisters Deutschland, aller unserer Unternehmen, Häuser und Fahrzeuge standen plötzlich im Feuer. Preise: vervielfacht. Infrastruktur für Ersatzlieferungen aus anderen Ländern? Fehlanzeige. Es fällt schwer, das Ausmaß dieser Krise angemessen in Worte zu fassen.
Im Rückblick ist die deutsche Wirtschaft deutlich besser durch die Krise gekommen, als viele zuvor befürchtet haben – dank zahlreicher Gegenmaßnahmen, gegenseitiger Hilfe europäischer Partner und einem letztendlich gelungenen Kraftakt von Unternehmen, Menschen und Politik. Keine der düsteren Prognosen ist eingetreten – es gab weder Gasrationierungen noch eine Rezession mit bis zu zehn Prozent Verlust an Wirtschaftsleistung. Doch die deutsche Wirtschaft hat stärker gelitten als die in anderen Ländern. Weil ihre Abhängigkeit von billigem russischem Gas größer war und weil Deutschland mehr Industrie und damit Energiepreisabhängigkeit hat als andere Länder.
Auch nach Abklingen der akuten Notsituation der Energiekrise der Jahre 2022 und 2023 bleiben Energiekosten für viele Unternehmen ein Standortfaktor. Die Preise für Gas liegen aktuell immer noch über Vorkrisenniveau aufgrund hoher Einfuhrmengen von teurem Offshore-Gas aus Norwegen und Flüssiggas (LNG) aus Übersee. An die niedrigen Kosten von Pipelinegas kommt per Frachter über die Weltmeere transportiertes verflüssigtes LNG strukturell nicht ran. Und die Preise für Strom? Liegen im Energiehandel ebenfalls noch deutlich über Vorkrisenniveau. Sowohl aufgrund der gestiegenen Gaspreise um den Faktor 2 im Jahr 2024...
| Erscheint lt. Verlag | 27.6.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
| Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Erkenntnistheorie / Wissenschaftstheorie | |
| Naturwissenschaften ► Geowissenschaften | |
| Technik | |
| Schlagworte | aktuelle News zur Energiewende in Deutschland • Analyse deutscher Energiepolitik • deutsche Energiepolitik verstehen • Energie & Umwelt • Energietechnologie Trends Buch • Energiewende Sachbuch • Green Tech Marktanalyse • industrielle Revolution Clean Tech • Industriepolitik und Klimaschutz • Klimaschutz durch Innovation • kulturelle Hürden der Energiewende • Kulturwandel in der Energiebranche • Marktmechanismen Energiewende • nachhaltige Industriepolitik • Nachhaltigkeit und Industrie • Stromversorgung der Zukunft • Stromwende Bottom-up • Transformation des Strommarkts in Deutschland • Transformation Wirtschaft Energie • Transformation Wirtschaft Energie Sachbuch • Umweltpolitische Zusammenhänge • Warum ist Clean Tech wichtig • Was macht China mit Strom • Wer treibt die Stromrevolution voran • Wie wird Strom klimaneutral • Wirtschaft und Klima verstehen • Zukunft der Energieversorgung in Europa |
| ISBN-10 | 3-8192-9003-6 / 3819290036 |
| ISBN-13 | 978-3-8192-9003-9 / 9783819290039 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich