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Mentalisieren im psychiatrischen Alltag -  Thomas Bolm

Mentalisieren im psychiatrischen Alltag (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Psychiatrie-Verlag
978-3-96605-247-4 (ISBN)
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Auch bei Stress offen und auf Augenhöhe bleiben Schwierigkeiten und Konflikte im Alltag lassen sich mit einem guten Verständnis für die Situation aller Beteiligten besser lösen. Die Fähigkeit, sich ein differenziertes Bild von dem eigenen Erleben, dem Erleben anderer und der Beziehungen zueinander zu machen, wird »Mentalisieren« genannt. Ein gezieltes Fördern von Mentalisierungsprozessen und der Orientierung am Gegenüber kann nachhaltig die Kommunikation und das Verhalten verbessern. Auch die Zusammenarbeit im Team wird für alle Beteiligten befriedigender. Mit diesem Praxiswissenband wird ein psychotherapeutisches Konzept für alle Akteure im psychiatrischen Alltag kompakt, leicht verständlich und anhand von zahlreichen Beispielen aus Klinik und Alltag nutzbar gemacht. Das Buch verdeutlicht, wie Mentalisieren in angespannten Zuständen gelingen kann. Ein Fokus des Buchs liegt auf der neugierigen und offenen Haltung, mit der schwierige Situationen in Behandlung und Beratung gemeistert werden können.

Dr. Thomas Bolm ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Gruppenanalytiker. Nach Leitungstätigkeiten im In- und Ausland seit 2013 Chefarzt von MentaCare, Zentrum für psychische Gesundheit, Stuttgart.

Mentalisieren bei verschiedenen psychiatrischen und psychosomatischen Krankheitsbildern


In diesem Kapitel soll vor allem auf die praktischen Bedürfnisse von psychiatrisch und psychosomatisch Tätigen im Behandlungsalltag eingegangen werden, denn die Anwendbarkeit und der zusätzliche Nutzen gegenüber der herkömmlichen Praxis sind jene Eigenschaften, die von einem guten Modell erwartet werden können. Wo immer es möglich ist, wird anhand von Fallvignetten dargestellt, welche zusätzlichen Chancen das Mentalisierungsmodell für die Arbeit mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern bietet.

Depression und Manie


Menschen mit einer depressiven Symptomatik zeigen ein breites Spektrum an Störungen ihres Mentalisierens (Luyten u. a. 2012 a; Staun 2017). So ist es nicht schwer, bei einer durch aktuelle Lebensumstände in schwere Not gebrachten, aber nicht wahnhaften Person nachzuempfinden, wie niedergeschlagen sie ist, kaum mehr an anderes denken kann als an ihre (realistischen) Zukunftsängste und daran, was sie hätte anders machen sollen. Es ist möglich, sich verbunden zu fühlen und eingefühlt Beistand zu leisten.

Doch bei einer schweren Symptomatik ist es für Behandelnde und Pflegende mühsam, auf Dauer einen empathischen Zugang zu den Erkrankten aufrechtzuerhalten. Das gilt vor allem gegenüber Menschen, die in ihrer negativen Sicht von sich, der Umwelt und ihrer Zukunft so gefangen sind, dass die Verbindung zu neutralen oder positiven Alltagsaspekten und der Kontakt zu anderen Menschen verloren gehen. Sie fühlen sich schlecht und sind überzeugt davon, dass sie objektiv und unhinterfragbar schlecht sind (Äquivalenzmodus), und zwar selbst dann, wenn es erste Fortschritte in der Genesung gibt. Ist ihnen ein Perspektivwechsel nicht möglich, dann werden Behandlungsversuche, die darauf abzielen, die Personen von einer positiven Sichtweise zu überzeugen, nur in beiderseitiger Enttäuschung enden.

Unerfahrene oder aus eigener Betroffenheit heraus ungeduldige Behandler möchten oft mit ihren auf Veränderung zielenden Maßnahmen schnelle Behandlungserfolge bewirken. Auch die Freude des Umfelds über spontane Genesungsschritte wird von vielen schwer Depressiven nur als Ausgeschlossensein vom Sich-Freuen anderer oder als Anspruch erlebt, dies nun immer so leisten zu müssen. Erfahrene Behandler dagegen mentalisieren, wie wichtig es für schwer depressive Menschen ist, sich nicht zusätzlich zu ihren eigenen Erwartungen durch Veränderungsdruck von außen ohnmächtig und scheiternd zu erleben.

BEISPIEL

Ambulanz-Sozialarbeiter: »Herr D., wir hatten ja vereinbart, dass Sie heute Ihre Unterlagen von der Arbeitsagentur mitbringen, damit wir sie zusammen ordnen können. Haben Sie sie dabei?«

Herr D.: »Nein, ich bekomme das alles nicht auf die Reihe. Ich stand gestern nur vor meinem Schreibtisch und dachte: Warum, warum, warum …? Du Idiot, nichts bekommst du mehr auf die Reihe, du kannst eigentlich gleich Schluss machen!«

Sozialarbeiter versucht, ihn zu trösten: »Aber die letzte Woche haben Sie doch einiges schon wieder geschafft. Sie sind einkaufen gegangen und haben sich etwas gekocht.«

Herr D.: »Aber das, was ich machen muss, kann ich einfach nicht.«

Sozialarbeiter versucht noch mal, ihm Hoffnung zu machen: »Beim letzten Mal ist es auch wieder aufwärts gegangen, und nach den ersten vorsichtigen Schritten hat sich Ihr Zustand auch für Sie wieder besser angefühlt.«

Herr D. schweigt und schaut trübe vor sich hin. Schließlich meint er mit monotoner Stimme: »Sie geben sich so viel Mühe, aber ich bin ja doch ein hoffnungsloser Fall.«
An dieser Stelle könnte der Sozialarbeiter weiter versuchen, den Patienten davon zu überzeugen, seine depressiven Gedanken aufzugeben – der Misserfolg wäre absehbar. Das Gespräch mit Herrn D. könnte in völliger gegenseitiger Frustration enden, der Sozialarbeiter würde zunehmend Ärger empfinden und diesen direkt oder indirekt ausdrücken oder sich resigniert zurückziehen, so wie der depressive Herr D. es tut. Da der Sozialarbeiter aber nach zweimaligem Versuch begreift, dass er sich in eine Sackgasse begeben hat und mehr mentalisieren sollte, wie der Patient das Gespräch erlebt, reagiert er anders.

Sozialarbeiter: »Ihr Frust berührt mich sehr. Ich hatte vorhin versucht, Sie zu trösten, aber gar nicht richtig das Ausmaß dessen verstanden, wie lähmend Ihr Zustand für Sie ist und wie gefangen Sie sich darin fühlen. Auch wenn Sie letzte Woche einiges geschafft haben, hat sich an Ihrem Gefühl noch gar nichts geändert. Passt das so besser?«

Herr D., wieder etwas lebendiger im Tonfall: »Genauso ist es, und auch meine Freunde, die mir sagen, ich wäre auf einem guten Weg, können einfach nicht verstehen, dass das die Sache noch schlimmer macht.«

Sozialarbeiter: »Erzählen Sie mal.«

Zu mentalisieren bedeutet in dieser Situation, sich ein Bild zu machen vom Erleben und vom psychischen und interaktiven Spielraum der erkrankten Person. Dann wird deutlicher, wann eine sozialpsychiatrisch stützende Begleitung und Strukturierung indiziert ist, ab wann in einem Genesungsprozess Erfolgserlebnisse wieder im Erleben zugelassen werden können und wann eine auf Selbstreflexion und Eigenverantwortung ausgerichtete psychotherapeutische Bearbeitung krankheitsauslösender und -erhaltender Faktoren möglich wird und nötig ist.

Im Kontakt mit schwer depressiven Personen müssen früher oder später gleichlautende Gegenübertragungsgefühle bewältigt werden: Ausweglosigkeit, Ohnmacht, Zukunftsangst, Hoffnungslosigkeit und Resignation, aber auch – möglicherweise unterdrückte – Aggression.

Das Gefängnis lähmender Gefühle teilen die an einer längeren Behandlung beteiligten Personen früher oder später mit den Erkrankten. Nicht selten wird mit komplementären Reaktionen von Ärger, starkem Handlungs- und Veränderungsdruck, Ausschlussbestrebungen oder enttäuschtem Rückzug reagiert.

Das Beispiel einer Stationsübergabe gibt diese Stimmung wieder und zeigt die einfache Nachfrage der Stationsleitung, die schließlich verschiedene Perspektiven zur Geltung kommen lässt. So einfach kann Mentalisierungsförderung sein.

BEISPIEL

Stationsleiterin: »Heute ist Herr D. in der Besprechung an der Reihe.« Murren im Team.

Stationsleiterin: »Wer aus dem Pflegeteam hatte mit ihm in der letzten Woche am meisten zu tun?«

Pflegerin: »Ich. Es war genau wie die Woche davor: Er kommt zwar jetzt morgens aus dem Bett und ich musste ihn auch nicht mehr ins Bad bringen, aber dann wollte er wieder nicht essen. Es ist so schlimm mitanzusehen, wie er immer schwächer wird. Und dann diese ewigen Klagen, dass es von Tag zu Tag schlimmer wird. Ich habe ihm erklärt, was die letzte Woche alles besser geworden ist.«

Pfleger 1: »Aber er sagt dann einfach nur, dass es nie wieder besser wird, ich kann das langsam nicht mehr hören. Wollt ihr es bei Herrn D. nicht mal mit Elektrokrampftherapie versuchen?«

Oberarzt: »Ich weiß, dass es schwer auszuhalten ist, aber mit eurem Aktivierungskonzept und dem Antidepressivum, das wir vor vier Wochen neu angesetzt haben, wird es doch von Woche zu Woche besser. Neulich abends habe ich ihn sogar bei den anderen sitzen sehen. Aber die Stimmungsverbesserung wird sicher noch seine Zeit brauchen.«

Pfleger 1: »Ihr Ärzte habt gut reden, ihr müsst ihn ja nicht den ganzen Tag klagen hören.«

Stationsleiterin, nach einer kleinen Pause: »Haben denn alle den gleichen Eindruck vom Kontakt mit Herrn D.?«

Pflegerin: »Na, am Montag konnte ich mich beim Spazierengehen im Park sogar ein bisschen mit ihm unterhalten, und am Schluss hat er sich bedankt.«

Pfleger 2: »Und uns hat er gestern in der Ressourcengruppe von seinen Hobbys berichtet. Es ist schon beeindruckend, was er in gesundem Zustand alles so macht. Aber für ihn ist es auch schwer auszuhalten, wie gelähmt er sich noch fühlt.«

Pfleger 1: »Ach, sieh mal einer an! Na, mir hilft’s schon, von euch zu hören, dass sich doch etwas tut. Ehrlich gesagt, hatte ich heute eigentlich echt keine Lust, auch nur eine Minute lang wieder über Herrn D. zu reden. Aber jetzt bin ich ein klein bisschen neugierig auf meine Schicht morgen.«

Mentalisieren ermöglicht es, die Erwartungen an positive Resultate der eigenen Behandlungs- oder Pflegetätigkeit in einem realistischen Rahmen zu halten. Das wird erleichtert, wenn klar ist, wo durch eigene sensible Themen (Notwendigkeit der Selbsterfahrung, Supervision und Gegenübertragungsanalyse) die Toleranz für depressive Äußerungen oder schleppende bis stagnierende Entwicklungen gering ist.

Psychiatrisch Tätige können mentalisierend nachvollziehen und den Erkrankten gegenüber validieren, dass es schlimm ist, sich ohne emotionalen, gedanklichen und interaktiven Spielraum zu erleben, obwohl dies sehnlichst gewünscht wird. Aber dazu gehört auch, dass von außen oft nur ansatzweise ein Verständnis des depressiven Leids möglich ist.

Mit diesem Gesamtverständnis kann das Ausmaß an Intensität, Komplexität und Eigenverantwortlichkeit an die sehr verschiedenen Möglichkeiten unterschiedlicher Patienten und...

Erscheint lt. Verlag 4.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie
ISBN-10 3-96605-247-4 / 3966052474
ISBN-13 978-3-96605-247-4 / 9783966052474
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