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Angewandte Improvisation in der Psychotherapie -  Miriam Stein,  Knut Schnell

Angewandte Improvisation in der Psychotherapie (eBook)

Persönliche und soziale Kompetenzen spielerisch fördern
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043981-8 (ISBN)
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Wie können wir unsere PatientInnen dazu motivieren, im Hier und Jetzt der therapeutischen Situation neue Denk- und Verhaltensweisen auszuprobieren und ihren Spielraum zu erweitern? Das Buch zeigt, wie die Angewandte Improvisation die Prinzipien und Übungen des Improvisationstheaters für die Psychotherapie nutzbar macht. Es bietet erstmals ein integrierendes psychologisch-neurobiologisches Modell für die Anwendung vielfältiger Übungen samt psychoedukativer Erklärungen für verschiedene Störungsbilder. Spielerisch werden dabei die interpersonelle Achtsamkeit, die bedürfnis- und zielgerechte Gestaltung sozialer Interaktionen im Circumplexmodell, die Mentalisierungsfähigkeit sowie Flexibilität und Selbstwirksamkeit trainiert.

Dr. phil. Miriam Stein, Psychologische Psychotherapeutin, und Prof. Dr. med. Knut Schnell, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, nutzen seit vielen Jahren die Angewandte Improvisation im ambulanten und stationären Kontext sowie in der klinischen Aus- und Weiterbildung.

3 Das SPACE-Modell


3.1 Persönliche und soziale Kompetenzen


Kompetenzen sind Fertigkeiten, die prinzipiell gelernt und trainiert werden können. Mit AI können wir verschiedene persönliche und soziale Kompetenzen fördern, die mit psychischer und sozialer Gesundheit sowie Lebenszufriedenheit verbunden sind. Unter persönlichen Kompetenzen werden sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeiten verstanden, die erforderlich sind, um sich weiterentwickeln und das Leben eigenständig gestalten zu können (Pastoors et al., 2019). Zu den persönlichen Kompetenzen zählen unterschiedliche Fertigkeiten wie Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Bereitschaft zur Veränderung, auch Belastbarkeit und Resilienz, Kreativität, Emotionsregulation, Humor sowie Schlagfertigkeit (Saxena et al., 2011). Hier zeigen sich bereits Überschneidungen zu den Kompetenzen, die für soziale Interaktionen relevant sind. Die soziale Kompetenz ist nach Kanning die »Gesamtheit des Wissens, der Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person, welche die Qualität eigenen Sozialverhaltens [...] fördert« (Kanning, 2002, S. 155). Zu den sozialen Kompetenzen gehören Kooperationsbereitschaft, Empathie, Handlungsflexibilität, Durchsetzungsfähigkeit und selbstsicheres Auftreten, Kommunikationsfertigkeiten, Selbstaufmerksamkeit, Kontrollüberzeugung sowie Personenwahrnehmung (ebd.).

Diese Kompetenzen überschneiden sich mit den personalen und Beziehungskompetenzen, die erfolgreiche Psychotherapeut*innen auszeichnen. Für die Psychotherapie wurden in den letzten Jahren verschiedene Modelle zentraler Kompetenzbereiche entwickelt (u. a. Bundespsychotherapeutenkammer, 2008), die inzwischen auch in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut*innen berücksichtigt werden. Studien, die Fertigkeiten besonders erfolgreicher Therapeut*innen untersuchen, heben insbesondere die Kompetenz zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung hervor (Sperry & Sperry, 2023). Als zentrale Kompetenzen werden Mentalisierung als (selbst-)‌reflexive Kompetenz, kommunikative Fertigkeiten (u. a. Akzeptanz, Empathie, Aufbau einer Beziehung und Umgang mit Brüchen), Flexibilität in der Gestaltung von Interaktionen sowie Emotionsregulation angeführt (Rief et al., 2021).

Die spielerischen Übungen der AI adressieren oft mehrere der genannten Kompetenzen. Um die Elemente der AI möglichst übersichtlich zu systematisieren, ordnen wir diese Übungen zunächst einzelnen Kompetenzen und diese dann folgenden übergeordneten Domänen zu: Status, Präsenz, Annäherung, Creativität und Empathie.

Die Tatsache, dass sich aus den Anfangsbuchstaben der genannten Domänen (Status, Präsenz, Annäherung, Creativität und Empathie) das Wort SPACE bilden lässt, ist daher natürlich kein Zufall, sondern das Ergebnis angewandter Improvisation. Wir sind uns bewusst, dass SPACE eigentlich kein Wort der deutschen Sprache ist und »Kreativität« normalerweise kein C enthält. In deutscher Sprache wäre SPAKE korrekt gewesen, PSAKE treffender für den didaktischen Ablauf. Da diese Akronyme allerdings poetische Minderleistungen und Hindernisse im Lernvorgang darstellen, haben wir uns didaktisch kreativ mit Fehlerfreude für SPACE entschieden.

Die SPACE-Domänen fassen jeweils Funktionen zusammen, die unserer Erwartung nach durch Gruppen von AI-Übungen gut zu beeinflussen sind. Die vorgeschlagene Einteilung orientiert sich an der Systematik psychischer Systeme der kognitiven Neurowissenschaften (Übersicht z. B. in Gazzaniga et al., 2018), einen Überblick gibt ▸ Tab. 1.

Tab. 1:Übersicht über Kompetenzen und Domänen

SPACE-Domäne

Kompetenzen

Domäne kognitive Neurowissenschaften

Status

Bewusstes, selbstsicheres Auftreten

flexible Statusgestaltung Selbstwirksamkeit

Soziale Kognition

Kognitive Kontrolle

Emotionen

Präsenz

Exakte Wahrnehmung und Gestaltung sozialer Signale

Aufmerksamkeit

Arousal

Multitasking

Annäherung

Kooperation

Extraversion

Bindungssystem

Kognitive Kontrolle

Handlungsplanung

Emotionen

Creativität

Flexibilität

Spontaneität

Schlagfertigkeit

Emotionsregulation

Kognitive Kontrolle

Emotionen

Empathie

Empathie

Perspektivübernahme

Motorische Spiegelung

Empathie (Mentalisierung/‌Theory of Mind)

3.2 SPACE als Spiel- und Simulationsraum


Das Wort Space bildet unser Verständnis der AI in der Psychotherapie ab: Das Wort bedeutet Raum, Spielraum, auch Spielplatz. SPACE ist ein sozialer Simulationsraum für neue Handlungsmöglichkeiten (▸ Abb. 3). Wer ihn gefunden hat, kann ihn jederzeit und überall betreten. Im individuellen Alltag von Patient*innen und Therapeut*innen werden so spielerisch neue Perspektiven und Rollen ermöglicht. Science-Fiction-Fans denken vielleicht an das Holodeck des Raumschiffs Enterprise, wo Crewmitglieder in anderen Rollen und Welten Lösungen für individuelle Konflikte und Spannungen im Team testen. Auch in der Psychotherapie ist die Exposition in virtueller Realität längst eine etablierte Technik. Der SPACE der AI bietet solche Möglichkeiten ganz ohne externe Hardware. Er basiert auf der Evolution des sozialen Gehirns und seiner simulativen Fähigkeiten (Dunbar, 1998) und seinen Fähigkeiten als »Beziehungsorgan« in verkörperten Interaktionen (Fuchs, 2021).

Abb. 3:SPACE als sozialer Simulationsraum

Wie bereits beschrieben, bietet das Spielen darin Sicherheit: So dramatisch, phantastisch und mitreißend die Handlung auch sein mag, letztendlich ist es das Wesen des Spiels mit seinen Regeln, dass niemand wirklich zu Schaden kommt. Die Spiele des Improvisationstheaters schaffen einen Raum, in dem wir als Erwachsene wieder in den als Kind erlebten Zustand des »Als ob« zurückkehren können, in dem wir ungeheure Kräfte oder Schnelligkeit besitzen, winzig klein oder unglaublich schwer sind. Ein Raum, in dem sich Realität und Phantasie treffen und ineinander verschwimmen. In diesem Spielraum gibt es keinen Druck, denn nur so kann sich kreatives Potential entfalten.

Es lohnt sich, die Potentiale zur Erfahrung verkörperter Interaktion in diesem sozialen Simulationsraum zu erschließen, dabei kann der Komplexitätsgrad der Übungen variiert werden: Von der Förderung elementarer Fertigkeiten wie der Achtsamkeit für die Weitergabe eines isolierten Impulses, z. B. in Form eines Klatschens, über die Spiegelung und Synchronisation ganzer Handlungssequenzen bis hin zu komplexen Interaktionen und szenischen Erzählmöglichkeiten in der Gruppe (▸ Abb. 4). Wie auf einem Spielplatz lassen sich hier eigene kindliche und erwachsene psychische Anteile in körperlicher Interaktion erleben. SPACE steht damit auch dafür, den eigenen Körper im Raum – selbstreflexiv und mit anderen – bewusst zu erleben und die Potentiale des Körpers für die eigene Spontaneität, Kreativität und Problemlösefähigkeit zu erfahren.

Abb. 4:Ansteigender Komplexitätsgrad der Übungen

Das alles mag auf den ersten Blick naiv klingen. So ist es auch gemeint. Der naive, unvoreingenommene Blick im Spielen eröffnet oft genug neue Erkenntnismöglichkeiten. So ist auch in der Psychotherapie die naive Perspektive der »not knowing stance« (Bateman & Fonagy, 2016) eine etablierte Haltung, die vor vorschnellen Fehlannahmen schützt und der Korrektur von Hypothesen dient.

3.3 Der Interaktionsraum der Psychotherapie und der Improvisation


Beim Nachdenken über den Titel SPACE entstand eine grundsätzliche Frage: Wie berücksichtigen die etablierten Theorien der Psychotherapie eigentlich den Raum, in dem sie stattfindet?

In der Psychoanalyse kann sich die Realität dieses Raumes in bemerkenswerter Weise wandeln. Übertragungsphänomene beruhen auf einer Verwechslung der wirklich anwesenden Personen mit einem anderen Gegenüber der biographischen Vergangenheit in einem anderen interpersonellen Raum-Zeit-Gefüge der Patient*innen: »Das Merkwürdigste ist, dass der Patient nicht dabei bleibt, den Analytiker im Lichte der Realität zu betrachten als den Helfer und Berater, [...] sondern dass er in ihm eine Wiederkehr − Reinkarnation − einer wichtigen Person aus seiner Kindheit, Vergangenheit erblickt und darum Gefühle und Reaktionen auf ihn überträgt, die sicherlich diesem Vorbild gegolten haben.« (Freud, 1982, S. 413). Diese Übertragung sollte im ursprünglich von Freud konzipierten...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
ISBN-10 3-17-043981-2 / 3170439812
ISBN-13 978-3-17-043981-8 / 9783170439818
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